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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Also Madame Amelot soll die Lauscherin gewesen sein? – Mir ist das ziemlich klar. Und auch dir, mein junger Leser, wird es nicht unwahrscheinlich vorkommen.

Die Leserin freilich schüttelt das Köpfchen, als wolle sie äußern: wunderliche Gesellschaft, mit der man in diesem Buche zusammentrifft!

Meine Gnädige, ich muß Ihnen recht geben. Sie ist etwas gemischt, die Gesellschaft, und der Autor hat gewichtige Gründe, vorauszusetzen, daß sie noch gemischter werden wird.

Doch erlaube ich mir zu erinnern, wie der Titel meines Romans mich im voraus schützt und gegen derlei Beschwerden rechtfertigt. Wer sich unter Vagabunden begibt, muß auf das Schlimmste gefaßt sein. Ich kann's nicht ändern. Ich verarbeite meinen Stoff, wobei ich mich verpflichte, dies so sittsam und rücksichtsvoll zu tun, als sich mit der Wahrheit und Natürlichkeit vereinbaren will. Es ist so und nicht anders: Madame Laura Amelot war die Lauscherin. Jedes Kind muß das begreifen. Nur unserem Kinde Anton war es noch nicht deutlich. Seine Bescheidenheit ließ ihn nach langen Zweifeln, Besinnen, Erwägen zuletzt ins klare kommen, er habe sich, noch halb im Traume, getäuscht; die Erscheinung sei nicht wirklich, sie sei ein Spiel seiner Einbildung gewesen, »denn wie käme Madame Laura dazu? ... ach, nicht daran zu denken!«

Mochte Madame Amelot ihn täglich über seine Fortschritte im Französischen prüfen, mochte sie ihn bei jeder Gelegenheit auffordern, ihr ein deutsches Liedchen zu singen, und dabei seine liebliche Stimme loben, mochte sie ihm sogar Unterweisung im Gitarrespiel angedeihen lassen, mochte sie französische Chansons mit ihm einüben und ihm dabei die Versicherung geben, seine Aussprache sei für einen Deutschen bewunderungswürdig, mochte sie endlich mit klaren Worten seiner stillen Abendstunden, seiner Phantasien auf der Geige – ja mochte sie seiner Träume neckend gedenken! Er blieb ein für allemal blind.

Madame Simonelli hatte in P. gute Geschäfte gemacht, über Gn. und Brg. war sie, samt ihrem Gefolge von Menschen und Tieren, bis D. gedrungen. Monate sind verflossen. Der Frühling ist da. Alles ringsumher ahnet frisches Leben und Streben. Sogar die Vögel, die armen Gefangenen, an ihre Stange gekettet, erwachen aus frostigem Winterphlegma und wechseln zärtliche Worte. Nur Anton spürt nicht, was um ihn her geschieht. Er lebt in ungestörtem Eifer seinen Pflichten, lernt daneben fleißig aus seiner Sprachlehre, übt Gitarre und Gesang, schreibt zierlich Noten – (ein Erbteil des seligen Großvaters!) – liest allerlei gute Bücher aus Leihanstalten und würde sich glücklich fühlen, wenn nicht zweierlei unangenehme Empfindungen bisweilen diese genügsame Zufriedenheit unterbrächen. Erstlich entbehrt er den stillen, wehmütigen Frieden seiner dunklen Abendstunden, die teils in dem Maße schwinden, als der Tag wieder zunimmt, teils nicht mehr die alte Wirkung auf ihn üben, seitdem mit den Erinnerungen an Liebenau sich Erinnerungen an jene geträumte Erscheinung der holden Laura durchweben. Zweitens aber plagt ihn häufig eifersüchtiger Verdruß, den er nicht zurückzuweisen vermag, wenn junge Herren mit Madame Amelot plaudern. Besonders zuwider sind ihm darin die schönen Offiziere. Sie benimmt sich zwar durchaus vorwurfsfrei – dennoch –, was haben die Menschen mit ihr zu verkehren? denkt er. Sie haben ihr Eintrittsgeld bezahlt, um die Tiere zu betrachten, und wenn sie etwas Näheres über diese in Erfahrung bringen wollen – wofür bin ich denn da? Madame ist nicht als Menageriewärter angestellt. Die Zierbengel sind mir unausstehlich! – Im übrigen war er ganz zufrieden.

Da kam ein schöner Pfingstsonntag. Die Bude war des Gottesdienstes halber geschlossen. Die anderen Wärter als gute katholische Christen hörten ihre Messe. Anton hatte die Wache. Lieblich drang der Festtags-Sonnenschein durch die Fugen des hölzernen Hauses, daß, von seiner Wärme durchdrungen, so manches alte Brett zu leben anfing und perlendes Baumharz aus durchsichtigen Knoten und Knorren schwitzte, wodurch ein aromatischer Duft verbreitet wurde, der Anton mit heimischer Mahnung an die Nadelholzwälder um Liebenau, an den Weg nach dem Fuchswinkel erinnerte. Langsam ging er den langen, leeren Raum auf und ab, vorüber bei den Käfigen der Tiere, welche üppig und faul dahingestreckt lagen, jedes in demjenigen Winkel seines Kerkers, wohin ein Sonnenstrahl reichen mochte, den der bunte, glatte Pelz sehnsüchtig einsaugte, als sei er für sie, die Heimatlosen, auch ein Gruß aus der glühenden Heimat. Nur »Bradipus ursinus« zeigte sich unruhig, Antons Schritte und Tritte mit lüsterner Lebhaftigkeit verfolgend, wie wenn er ihn auf sich aufmerksam machen wollte. Er fühlte sich vernachlässigt, und das mit Grund. Sein Gönner hat ihm schon seit Wochen jene Näscherei vorenthalten, womit er ihn den ganzen Winter hindurch so reichlich beschenkt; die Äpfel wurden schon selten und teuer.

»Ja, drücke dich nur in die Stäbe«, sagte Anton, wie ihn der Spaziergang wieder in die Nähe des lechzenden Bären führte, »das hilft dir nichts. Die Äpfel gehen zu Ende. Was noch Erträgliches zu finden ist, das hebe ich meinen Damen auf für den Tisch. Madame Laura liebt Äpfel zum Dessert, und daß Madame Laura Amelot, geborene Simonelli, dir vorgeht, wirst du begreifen, dummer Tölpel, nicht wahr? – Sollte man nicht darauf schwören, das Beest verstände, was ich ihm vorrede? Wie es mich anschaut! Völlig mit menschlichem Blick! Ha, du gibst Pfote? Du kokettierst mit mir, Monstrum? Jetzt sitzt er auf den Hinterbeinen wie ein bittender Mops. Und wie häßlich! Vor lauter Häßlichkeit wird er schön! Nun gut, weil du gar so häßlich bist, und weil wir Pfingsten haben, heute noch einen. Aber merke dir's, Ungetüm, den letzten! Pour tout la dernière fois, bis die neuen Äpfel kommen! – Wenn ich dann noch bei euch bin«, setzte er hinzu mit einem Seufzer, dessen Bedeutung zu erklären ich nicht unternehme.

Er begab sich nach dem Hintergrunde, wo, durch angekettete Doggen bewacht, die zusammengeschobenen Fourgons standen, und wo er in einem derselben eine Art von Vorratskammer angelegt, aus welcher nun der geringste der noch vorhandenen Äpfel ausgesucht wurde. Mit diesem, ihn schon von weitem vorzeigend, kehrte er zum Standort des zottigen Näschers, neckte ihn ein Weilchen, reichte ihm die ersehnte Frucht, zog sie wieder zurück und spielte so mit dem unbehilflichen Geschöpf, über seine fruchtlosen Anstrengungen lachend. Da klapperte es an der Kassentür, die zwar inwendig zugehakt, sich durch vertraute Hand von außen leicht öffnen ließ. Anton wendete das Gesicht nach dem Eingang. Die er mit ihrer Mutter in der Kirche gewähnt – Laura trat herein.

»Ich muß doch sehen«, sprach sie, »wie ein Ketzer, ein Hugenott – (sie redeten immer Französisch miteinander) – seine Andacht am heiligen Pfingstfest begeht!«

»Wer seine Pflicht erfüllt, Madame, ist immer in der Kirche. Das ist der beste Gottesdienst, wie meine Großmutter, Gott gönne ihr die Seligkeit, zu sagen pflegte.«

»O Heuchler, der Ihr seid! Ist das Pflicht, mit dem häßlichen Tiere zu spielen?«

»Eines geht mit den anderen, Madame. Während ich hier Wache halte, tue ich meine Schuldigkeit, und während ich meine Schuldigkeit tue, spiele ich mit dem häßlichen Tiere.«

»Wißt Ihr nicht bessere Spiele als mit so garstigen Geschöpfen?«

»Freilich, wohl möchte ich lieber mit schönen Geschöpfen spielen, aber dann würde die Frage entstehen, ob diese mit mir –«

Er fürchtete eine Ungezogenheit begangen zu haben, weil er bei diesen kühnen Worten Laura fixiert. Deshalb brach er ab, schlug die Augen nieder und hielt, während er mit der rechten Hand verlegen an seiner Uhrkette zupfte, mit der linken dem Pseudo-Riesenfaultier den lang ersehnten Apfel vor. Petz machte seine lange Schnauze, so lang sie reichte, erwischte jedoch den Apfel nur halb, ließ ihn, zahnlos wie sein Rachen fast war, wieder fallen und der Apfel rollte die Bretter vor den Käfigen entlang, nach der linken Seite hin. Anton, immer noch ohne die Augen aufzuschlagen, suchte tappend mit der Linken den rollenden Apfel einzuholen; doch eben, als er ihn erfaßte, vernahm er aus Lauras Munde die kaum hörbar gehauchten Worte: »Um der Liebe Gottes willen, bewegt Euren Arm nicht, rührt Euch nicht von der Stelle.« Zugleich empfand er auf der Oberfläche seiner Hand eine leise Berührung derselben, wie von seinen Haaren. Der empfangenen Weisung gehorsam, ohne ihren Sinn noch zu ahnen, schlug er jetzt die Augen zu Madame Amelot fragend auf und sah sie totenbleich, erstarrt vor sich stehen. Er folgte mit den Augen ihrem Blicke, der auf seine linke Hand geheftet blieb – da sah er, wie über dieser und dem Apfel die Kralle des nächsten Nachbars, des großen bengalischen Tigers schwebte. Ein Druck dieser Kralle – und Antons Hand war zermalmt. Ehe er noch die blutige Gefahr recht übersehen konnte, hatte schon ein Hieb, den Laura mit dem umgekehrten, silberbeschlagenen Stabe ihres Sonnenschirms ebenso geschickt als kräftig führte, den Tiger heftig auf den Knochen getroffen, so daß dieser seine Tatze auf nur einen flüchtigen Moment erhob und zurückzog. Anton benützte natürlich diesen Moment ebenso rasch; aber kaum war seine Hand, die den Apfel nicht losließ, gerettet, so schlug auch schon des Tigers gewaltige Klaue wie der Blitz in das Brett, genau auf die Stelle, wo Hand und Apfel gelegen, daß die Späne umherflogen.

Noch sammelte Anton passende Worte, um seiner Retterin für diese resolute Beihilfe zu danken ... Laura, bleicher wie zuvor, entfärbte sich immer leichenähnlicher – sie schwankte, – sie wäre zu Boden gesunken, hätte Anton sie nicht aufgefangen und behutsam nach dem bewußten Hintergrunde geleitet, wo er sie auf überflüssig vorhandene Decken sanft niedergleiten ließ ...

Dergleichen Auftritte geben Romanschreibern häufig Gelegenheit, wunderliche Vorgänge zu schildern, bei deren umständlicher Auseinandersetzung ihre Feder gern verweilt. Wer von meinen Lesern Romanleser genug sein sollte, hier auch von mir erotische Scherze zu erwarten, findet sich getäuscht. Laura ist eine zu lebensfrische, natürliche Frau und Anton ein viel zu dankbares, aufrichtiges Gemüt, in diesem Augenblick an etwas anderes zu denken, als an den Augenblick selbst.

Sie erholte sich bald. Als er ihr Dank stammeln wollte, gebot sie ihm Schweigen, reichte ihm ihre Rechte, forderte jedoch seine Linke, betrachtete dieselbe forschend, und nachdem sie sich überzeugt, daß keine Verletzung stattgefunden, sagte sie: »Wäre es doch zu schade gewesen um Finger, welche den Saiten so zitternde Töne zu entlocken verstehen! Künftig seien Sie vorsichtig, mit reißenden Tieren und koketten Weibern kann ein junger Mann gar nicht vorsichtig genug sein. Und dann«, fuhr sie fort, seine Hand noch immer festhaltend, »geben Sie mir ein Versprechen: das ist, mit niemand zu reden von dem, was jetzt hier geschehen ist, keine Silbe! Hören Sie wohl? Auch mit meiner Mutter nicht.«

Als Anton schweigend und sich neigend bejahte, spürte er einen kurzen, doch kräftigen Druck jener Hand, welche die seinige hielt. Bevor er ihn erwidern konnte, waren beide Hände getrennt, und Laura schied, ohne sich im Fortgehen nach ihm umzublicken.

»Mit niemand soll ich davon reden? Gut! Aber warum nicht? Damit meine Unvorsichtigkeit nicht kund werde? Was tut mir das? Die anderen wissen längst, daß ich und der Tiger auf gespanntem Fuße leben, und sie können sich ja nur freuen, wenn sie hören, wie ich mit heiler Haut davongekommen bin? Warum sollten sie's denn nicht erfahren? Der Madame bringt's doch wahrhaftig keine Schande, mich so klug und mutig beschützt zu haben? Das macht ihrem Herzen nur Ehre! Sie schien so teilnehmend – so erschreckt –, so ohnmächtig, als es überstanden war; sie hätte nicht mehr Mitgefühl zeigen können für ihren ...«

Ja, da fehlte ihm das rechte Wort. Zwischen Bruder, Gatte, Liebhaber stand ihm die Auswahl frei. »Gatte« fand er nicht passend, weil sie von ihm getrennt lebte. »Bruder« war nicht vorhanden, weil Madame Simonelli nur ein Kind besaß. »Liebhaber« –? Todesblässe, Ohnmacht, Händedruck zogen noch einmal an ihm vorüber. Sein Monolog verzog sich in unverständliches Gemurmel. Die Augen auf jene Decken richtend, auf denen sie in Ohnmacht gelegen, bemerkte er den Apfel, den er hatte fallen lassen, um sie zu halten. Er hob ihn auf, trug ihn zum Käfig des Bären, steckte ihn lächelnd und liebkosend in den Rüssel und sagte zärtlich: »Wenn das kein Irrtum ist, was jetzt in mir vorgeht, so sollst du Apfel fressen, mein Alter, dieweil für Geld Äpfel zu haben sind. Und die besten! Das schwöre ich dir.«


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