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Vierzehntes Kapitel

Es wäre wider den natürlichen Lauf der Dinge gewesen, hätten zur Feierabendstunde Mutter Goksch und ihr Enkel die Ereignisse vergangener Nacht nicht miteinander beschwatzt. Schon des Gutsherrn bedenkliche Erkrankung, die ärztliche Hilfe und reitende Boten nötig gemacht, verursachte großes Aufsehen und zweideutige Teilnahme im ganzen Dorfe. Wie viel mehr jene geheimnisvollen, fast fabelhaften Gründe, denen diese Erkrankung beigemessen ward! Der Großmutter konnte nicht entgehen, daß Antons Mitleid für den Kranken von selbstsüchtiger Freude über Theodors plötzliche Abreise aufgewogen wurde. Auch schalt sie ihn deswegen. Das nahm er zwar demütig hin, wußte sich aber doch insofern zu rechtfertigen, als er seiner Freude den reinsten Anteil an Tieletunkes Lebensglück unterlegte. »Mit diesem Menschen«, sprach Anton, »so prächtig er aussieht und so seine Kleider ihn schmücken, wäre sie doch höchst unglücklich geworden.« Und wenn die pfiffig lächelnde Alte ihn fragte: »Du dummer Junge, woher willst du das wissen?« antwortete er nur, womöglich noch pfiffiger lächelnd, wie sie: »Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe!« wobei er ein reizend schlaues Gesicht machte, daß ihn die Großmutter vor Liebe gleich hätte auffressen mögen.

Das war ein hübscher Abend. Ringsum herbstelten freilich Wiesen und Bäume schon, doch blieb es noch warm und sommerlich. Sie saßen miteinander vor ihrem Häuschen, nicht anders als in ihren heitersten Tagen. Es war ein hübscher Abend, wie gesagt; denn sie ahnten nicht, daß er der letzte dieser Art sei.

»Nun tue mir den Gefallen, Großmutterle, und sieh' dir den Postboten an«, sagte nach einer Pause zufriedenen Schweigens Anton, »sieht der nicht gerade so aus, als ob er uns einen Brief bringen wollte? Unverwandt starrt er nach mir herüber, jetzt biegt er ein. Weiß Gott, er kommt hierher. Na, das ist unerhört. Außer dem Herrn Pastor ist das noch keiner Seele widerfahren, in ganz Liebenau nicht.«

Wem, um alles in der Welt, hätte der müde Mann auch in Liebenau Briefe zutragen sollen? Die Schloßbewohner korrespondieren nicht durch die königliche Post, und jene großen, unwillkommenen Zuschriften, welche Onkel Nasus von Zeit zu Zeit empfing, insinuierte leider für gewöhnlich ein Diener des Gerichts.

Doch hatte Anton recht gesehen. Die Biegung des bestaubten Wanderers galt ihnen, und er fragte mürrisch: »Könnt ihr mir denn vielleicht eröffnen, ob hier im Dorfe eine Frau Hahn lebt?«

»Hahn?« fragte Anton, »Frau Hahn? Ist mir nicht bekannt, Hennen! gibt's wohl, und Hähne auch, genug. Aber Frau Hahn? Daß ich nicht wüßte!«

»Nun so wollt' ich«, erwiderte noch mürrischer der verdrießliche Mann, »sie säße im Monde oder sonstwo dergleichen, damit es keinem Narren auf der Erde einfiele, an sie zu schreiben; lauf' ich mir des dummen Briefes wegen meine neuen Schuhsohlen durch und werde ihn nicht los. Und macht bereits schon über einen Taler an Porto.«

Anton hatte schon wieder eine lustige Bemerkung auf der Zunge, als ein Seitenblick, nach der Großmutter gerichtet, ihm Stillschweigen gebot. Denn die alte Frau saß totenbleich neben ihm, und ihr Auge, sonst schon matt und trübe, leuchtete wie Feuer unter den Brillengläsern vor. Sie sagte mit lauter, doch bebender Stimme: »Ehe eine Frau Hahn sich meldet, an welche dieser Brief« – und dabei wendete sie keinen Blick von den Schriftzügen der Adresse – »gerichtet sein könnte, müßte sie erfahren, ob ihr Stand sowie auch Tauf- und Geburtsname übereinstimmen?«

»Wäret Ihr es am Ende gar selbst?« fragte der Bote. »Wohl, so nennt mir Stand und Namen, wenn das zutrifft, sollt Ihr ihn haben, und ich will Gott danken, daß ich ihn los bin.«

Mutter Goksch sprach feierlich: »Antonie Hahn, geborene Werner, Witwe des wohlseligen Schulrektors und Kantors Hahn in N.«

»Das trifft zu. Auf ein Pünktchen trifft es zu. Und nach N. ist der Brief auch überschrieben. Von dort hat er viele Kreuz- und Querzüge machen müssen, so daß er's wohl satt haben mag und Ruhe braucht. Zahlt mit also meinen Taler und drei Groschen an Porto und vier Groschen an Botenlohn, dann mögt Ihr ihn nehmen, und ich will wünschen, daß viel Gutes darin stehe. Weit genug ist er her und kommt aus fremder Herren Landen.«

Die Großmutter stand auf, begab sich in ihr Stübchen, aus welchem sie bald mit dem begehrten Gelde zurückkehrte, den Brief in Empfang nahm und augenblicklich wieder ins Haus zurückging.

Der Postbote empfahl sich.

Anton blieb unbeweglich sitzen, wie wenn er versteinert wäre. Die heitere Stimmung, die ihn soeben erst noch erfüllt, war verschwunden, um einer bangen, dumpfen Ahnung Platz zu machen. Wie er vorher kaum zu sagen gewußt, warum er sich glücklich fühle, hätte er jetzt sich noch weniger schildern können, was ihn unglücklich mache. Aber daß er es sei, empfand er. Er empfand den schweren Druck einer gewitterschwülen Stunde. Und doch lächelte der Abendhimmel so herbstlich rein und blau!

An seine Großmutter ein Brief! – Aus weiter Ferne noch dazu, hatte der Bote bemerkt! – Und seine Großmutter hieß Hahn, nicht Goksch? Zwar das kam freilich auf eins heraus: die Dorfleute hatten sie aus dem Städtischen ins Bäurische In manchen Gegenden nennt man den Haushahn: Goksch. übersetzt. – Doch von wem konnte dieses Schreiben kommen? Wichtig mußte es sein! – Die alte Frau war damit ins Haus geflohen, um es allein, ungestört zu öffnen, und in ihrer Miene hatte etwas gelegen, wodurch ihm gewissermaßen untersagt wurde, zu folgen oder ungestüme Fragen zu tun. – Auch mußte sie die Handschrift erkennen oder zu erkennen glauben, sonst hätte sie nicht so viel Geld daran gewagt, das Schreiben einzulösen. – Es rührte demnach von einer teuren Person her. – Und lebte denn der alten Frau, außer Anton, noch eine solche? – Wo lebt sie? – Anton glaubte doch der Großmutter Lebenslauf genau zu kennen! – Sie besaß ja keine Anverwandte mehr! All die Ihrigen waren ja tot! Alle! –

Er erschöpfte sich in leeren Mutmaßungen; je länger er grübelte, desto ungeduldiger ward er. Doch ihre Einsamkeit zu stören, hätte er niemals gewagt. Lieber blieb er draußen, bis die Nacht mit ihrer Kühle ihn umgab. Es fröstelte ihn. Der Herbst begann seine Rechte geltend zu machen. Anton gedachte des nächsten Winters, des engen Lebens im kleinen Raume mit der Großmutter allein. Die langen Abende bei matter Lampe! Und man spricht sich zuletzt aus; wovon auch sollen ihrer zwei immer und immer miteinander reden? Da schleicht die Zeit so traurig hin ... »Was aber, wenn sie auch nicht mehr da wäre. Wenn du ganz allein bliebest?«

Wie von einem wilden Tier überfallen, fuhr er schaudernd in die Höhe. Seine unbestimmten Ahnungen nahmen Gestalt an, er sah die Großmutter jetzt im Geiste, wie er neulich den schwarzen Wolfgang gesehen, so bleich, so starr – und länger wäre er nicht mehr imstande gewesen, sich ihr fernzuhalten. Er stürzte zu ihr hinein.

Sie lag im Bett. Keine Lampe brannte. Anton machte Licht und näherte sich ihrem Lager. Unbeweglich lag sie da, die Arme ausgestreckt, das Antlitz kaum zu erkennen. Weil sie die Augen geschlossen, meinte Anton, sie schliefe, und schwieg. Der Schein des Lichts tat ihr sichtbar wehe, sie zuckte mit den Augenlidern und flüsterte matt: »Geh' schlafen, mein Sohn, laß mich auch schlafen. Ich bitte dich. Reden wollen wir morgen. Heute kann ich nicht. Geh' in deine Kammer, wenn du mich lieb hast.«

»Wenn du mich lieb hast!« O dieses schlichte Wort, welche Zauberformel, welcher Machtspruch höchster irdischer Gewalt käme ihm gleich!

»Wenn du mich lieb hast!« wiederholte der Knabe sanft und innerlich schluchzend, küßte die alten Hände, wankte seiner Kammer zu, und drinnen warf er sich aufs Bett, barg das lockige Haupt tief in weiche Federkissen, damit diese den Ausbruch seines Schmerzes dämpfen möchten, damit die Großmutter ihn nicht weinen höre, damit er sich und seinem jungen Grame Luft machen dürfe!

»Sie stirbt! Sie stirbt!« sprach er durch glühende Tränen in die Flammen hinein, »ich sehe es ihr an. So sieht der Tod aus. Verflucht, dreimal verflucht sei die Hand, die den unseligen Brief geschrieben! Denn der Brief ist ihr Mörder.« –

Was eigentlich in dem Briefe gestanden, erfahren wir nicht. Die alte Frau hat, nachdem sie ihn mit Hilfe ihrer Augengläser in unklarem Dämmerscheine mühsam gelesen, jenes Blatt sogleich verbrannt. Hätte Anton bei seinem Eintritt in ihr Zimmer für etwas anderes Aufmerksamkeit gehabt als für seine Großmutter, an dem kleinen Herde müßten ihm die Spuren der kaum verwehten Papierasche aufgefallen sein.

Von wem das Schreiben gewesen? – Von seiner Mutter, der totgeglaubten, an ihre Mutter, seine Großmutter, war es gerichtet. Woher? Wir wissen es nicht. Ebensowenig, als wir für jetzt berichten können, wie es geschehen, daß Antoinette, den verheerenden Fluten entronnen, zu den Ihrigen nicht mehr heimkehrte; daß sie so lange Jahre hindurch nichts von sich vernehmen ließ; warum sie jetzt gerade ein Zeichen ihres verschollenen Daseins gegeben.

Vielleicht sagt es uns der Verlauf dieser Geschichte.

Erfreuliches konnten diese wenigen Zeilen für Mutter Goksch nicht enthalten haben; das zeigt uns der Zustand der alten, lebensmüden Empfängerin, die fest entschlossen scheint, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.

»Frage mich nicht, mein Anton«, sagte sie am nächsten Tage, »forsche doch nicht, von wem dieser Brief herrühre, den ich gestern erhielt. Du würdest dich und mich nur vergebens quälen, denn du darfst niemals erfahren, was er mir gemeldet. Ich vertraue auf deinen kindlichen Gehorsam. Gib du deiner alten Pflegerin auch so viel Vertrauen, daß du nicht weiter in sie dringst, wenn sie dir zuschwört, es ist besser für dich, in Unwissenheit darüber zu verbleiben. Denke meinetwegen, ich hätte noch einen Verwandten irgendwo gehabt, von dem ich für mich – vielmehr für dich – vielleicht etwas Günstiges erwartet, und das wäre nun fehlgeschlagen. Oder bilde dir ein, man habe mir gemeldet, daß eine Person, von der ich immer noch viel Gutes geglaubt, die ich für unglücklich, aber ehrlich gehalten, mich und mein Vertrauen täuschte, daß ich eine – Freundin verlor; daß sie mich schwer betrog; daß ich gar nicht mehr an sie denken will. Irgend so etwas stelle dir vor, liebes Kind, und überlaß mich mir selbst und meinen Gedanken. Habe Geduld mit mir, wenn du mich niedergeschlagen siehst. Ich werde mich schon wieder zusammenrappeln und, so Gott will, auch diesen letzten Schlag verwinden.«

Mit solchen ausweichenden Andeutungen mußte sich Anton zufriedenstellen. Doch entging ihm keineswegs, wie die Kraft der Großmutter völlig gebrochen sei. Die Augen blieben tief in den dunklen Höhlen, in welche der Brief sie versenkt, die Nase behielt ihre weiße Spitze, die Lippen lächelten nur noch gezwungen und krankhaft. Es war der Tod, den er im Fuchswinkel kennen gelernt, den er jetzt in ihren Zügen wiederfand.

Guter Anton, damals suchtest du ihn im grünen Walde auf; diesmal ist er gekommen, an deines Häuschens Tür zu pochen.


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