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Achtzehntes Kapitel

Wenn die Sterbenden wüßten, wie das, was sie ihren letzten Willen nennen, so oft ganz anders, als sie meinten, oder gar nicht zur Ausführung gelangt, sie würden, fürchte ich, statt jenes letzten Willens einen letzten Unwillen kundgeben. Wie viele Vermächtnisse, worin den Zurückbleibenden Einigkeit und gegenseitige Duldung geboten; wie viele Testamente, in denen Pietät und Förderung für begonnene Unternehmungen ans Herz gelegt; wie viele Hinterlassenschaften, deren weise, der Menschheit ersprießliche Verwendung ausbedungen ward?! Ach, und kaum ist der Mund verstummt, der dies anordnete, kaum die segensreiche Hand erkaltet, die es niederschrieb, kaum zwei Augen geschlossen, welche darüber wachten, – daß auch schon Mißgunst, Selbstsucht, Verschwendung den besten Vorschriften falsche Deutung geben und Auswege finden, sie zu umgehen! Man vernimmt häufig im Volke jenes albern klingende Wort: wenn der Verstorbene das wüßte, im Grabe würde er sich umkehren! Und so albern es klingt, es ist uns allen gewiß auch schon wider unseren eigenen Willen auf die Zunge gekommen, wenn wir mit ansehen mußten, wie herzlose Erben oder auch der »große Zeitgeist« unter ihre Füße traten, was edle Stifter auf immer zu gründen bemüht gewesen.

Bei unserem Anton war das nun freilich ein anderer Fall. Er würde aus freiem eigenen Willen nichts unternommen haben, was er mit seiner Anhänglichkeit für die Verstorbene nicht vereinbar gefunden. Man zwang ihn dazu.

Einige Wochen waren ihm unter Arbeit und trübem Sinnen verstrichen. Der wilde Schmerz fing an, sich in wehmütiger Trauer zu besänftigen; mitunter zuckte auch schon wieder ein Blitz jugendlich feuriger Lebenslust ihm durch die Adern, – doch er gedachte an die Warnungen seiner Sterbenden und ergab sich entsagender Geduld.

Vom Schlosse vernahm er nur durch andere. Der Bankerott war erklärt. Die natürlichen Erbinnen des Barons wagten nicht, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen, sie traten von der gefährlichen Erbschaft zurück. Über Ottilie hörte er gar nichts. Die Pastorsöhne waren zur Universität abgereist; der alte Pastor in großer Angst, wie er sie genügend bei ihren Studien unterstützen solle. Jede Verbindung nach außen schien für Anton abgebrochen, er auf seine Werkstatt im stillen Häuschen beschränkt. Und aus Dankbarkeit, aus kindlicher Liebe für die alte Frau suchte er sich einzureden, daß er sich nach und nach darein finden müsse. Deshalb gelang es ihm bisweilen, seine Einsamkeit lieblich auszuschmücken, wenn er sich lebhaft vorstellte, Tieletunke sei die Tochter eines armen, geringen Mannes im Dorfe, – eines emeritierten Schullehrers etwa – sie trete bei ihm ein und spreche: »Mein Vater ist nun auch gestorben; willst du mich aufnehmen?« Darauf würde er mit sanftem Erröten erwidern: »Gern, Ottilie!« und würde ihr der seligen Großmutter Zimmer überlassen, sie bedienen, für sie sorgen, sie Braut nennen und dabei Körbe machen ohne Ende. Dies eingebildete Glück dauerte dann jedesmal, bis ihm die Erinnerung an ihren Kuß beim Grabe und an ihr: »Leb' wohl!« wieder wach wurde. Der Ton, womit sie jenes Abschiedswort gesprochen, war zu bestimmt, zu deutlich. Die freundlichen Bilder entschwanden; er begann voll zorniger Kraft neue Arbeit und die neuen Weidenruten mußten dafür büßen, daß er allein und einsam saß.

Entschiedenen Groll hegte und nährte er in seinem sonst so liebreichen Gemüte gegen die sogenannten »Gerichte« und die »Justizherren«! Die Weiber, die ihm Arbeit zubrachten, ließen oft ein Wort darüber fallen, daß es auf dem Schlosse gar so schlimm herginge, seitdem die »Gerichte« eingeschritten wären. Unter »Gerichten« dachte sich Anton nur böse, alte Männer in schwarzen Kleidern, welche vielen Menschen, zunächst aber Ottilie, jedes gebrannte Herzeleid zufügen dürften. »Mir sollten sie nur kommen«, pflegte er oft auszurufen, indem er den kleinen Hammer schwang, womit er seine Hölzer bearbeitete, wie wenn er mit diesem die ganze hochlöbliche Gerechtigkeit des Landes zusammen zu klopfen beabsichtigte.

Als sie aber in Wahrheit zu ihm kamen, – o wie schnell entsank ihm der Hammer!

Die Lage der Dinge machte ihr Erscheinen unvermeidlich. Frau Witwe Hahn, genannt Goksch, hat kein Testament hinterlassen. Sie ist fremd in Liebenau angekommen, hat eine Freistelle erkauft, auf dieser mit einem Enkelsohne gelebt und ist gestorben, ohne eine schriftliche Spur seiner Herkunft irgend einer Behörde zu überreichen. Man weiß kaum, woher sie kam, kennt ihre früheren Verhältnisse nicht, und der einzige, der davon wußte, dem sie sich bei ihrer Übersiedlung als Grundherrn und Obrigkeit von Liebenau entdecken mußte, hat, was nur ihm bekannt gewesen, mitgenommen in den Aufenthalt des Schweigens. Anton ist ein uneheliches Kind; das gesteht er auf scharfdringende Fragen mit tödlicher Verschämtheit zu. Seine Mutter würde gesetzmäßige Erbin sein. Erst von dieser könnte er empfangen, was, wie er wähnte, schon ihm gehörte. Aber wo ist diese Mutter? Sie soll bei einer Überschwemmung ertrunken sein! Dieses »sie soll« kann dem Gerichtshalter keineswegs genügen. Wo blieb ihr Totenschein? Und sind nicht vielleicht noch andere Verwandte am Leben, die Ansprüche zu machen hätten? Diese müssen aufgerufen werden! Man muß Erkundigungen einziehen. Fürs erste muß ein Kurator eingesetzt werden, der die Hinterlassenschaft verwaltet. Anton, als noch unmündig, muß einen Vormund bekommen.

Diese und andere Anordnungen des unerbittlichen Gesetzes drangen ihm wie eiserne Klammern verwundend und beengend in die Brust. Als Kurator der Masse – (so nannten sie zu seinem höhnischen Gelächter Garten und Haus und Vieh) – bestellten sie – wen? den alten Korbmacher am anderen Ende des Dorfes, den einzigen Gegner, den Anton kennt; den brotneidischen Knauser, der seinen jungen Nebenbuhler als Pfuscher und Eindringling haßt: denn Anton war niemals bei ihm in der Lehre gewesen, hatte sein Handwerk durch eigenen Antrieb und Fleiß erlernt. Dafür nannte er's auch eine freie Kunst.

Die Männer des Gesetzes meinten es gut mit dieser Wahl, weil sie von dem Grundsatz ausgingen, jener, als Handwerksgenosse sei am besten dazu befähigt. Sein Vormund wurde der gute Pastor. Das wäre vielleicht ein ausgleichendes Gegengewicht gewesen, wenn nur der alte Karich durch die Umwälzungen auf dem Schlosse, durch seine Armut – denn die Pfarre trug blutwenig, und Gebühren zu erpressen war er zu barmherzig – und der Söhne Bedürfnisse nicht so schwer daniedergebeugt worden wäre. Er besaß die Kraft nicht mehr, für Antons Rechte männlich einzuschreiten, er begnügte sich achselzuckend, dem Rechte seinen vollen Lauf zu lassen.

Von der Stunde an, wo Anton wußte, daß er nicht mehr Herr sei im Hause der Großmutter, daß es nicht unbedingt ihm gehöre, daß dem Kurator die Berechtigung zustehe, ihn unter dem ersten nächsten Vorwande hinauszuweisen, fand er sich auch nicht mehr heimisch darin. Es litt ihn nicht. Die Arbeit ekelte ihn an. Er mochte nicht mehr im Zimmer weilen. Bei schlechtem wie gutem Wetter – gleichviel! – trieb er sich im Walde herum; am liebsten dort, wo außer ihm keine Menschen weiter zu wandeln pflegten. Streichende Herbstvögel begegneten ihm herdenweise, wie sie von einem Ort zum anderen zogen. Ihr Beispiel regte in ihm die öfters schon geahnte Wanderlust auf. Manchmal trieben ihn kalte Nebel, wie Regen hinabsinkend, Bäume und Sträucher vollends entblätternd, frostig heim. Kaum aber zeigte sich wieder die Sonne, ob auch matt und bleich, war er auch wieder da draußen, rührte sich auch wieder ein ungewisser Drang in ihm, sein Heil in weiter Welt zu versuchen.

Am ersten November, bei schönem Wetter und so reiner, milder Luft, als ob es auf den Frühling losginge, lockte ihn der unbesiegbare Trieb aus dunklem Föhrenwalde, der ihm so wenig Sonne und Licht zukommen ließ, über die Grenzen der Herrschaft hinaus nach einem Hügel hin, einem Hügel, der jenseits der Waldungen diese von fruchtreicheren Ebenen scheidet, und den man, wahrscheinlich nur weil ihm kein höherer Nachbar zur Seite steht, in der Umgebung Berg betitelt. Der Eichberg heißt er. Von dort hinab öffnet sich eine Fernsicht in weite Flächen. Anton war niemals auf seinen Spaziergängen bis dahin gedrungen, wie er denn überhaupt, an die Heimat gebannt, seiner Pflegerin Häuschen für den Mittelpunkt der Welt – mindestens der seinigen – gehalten.

Heute kam, ohne bestimmten Anlaß, in ihm die unwiderstehliche Lust, auf den Eichberg zu gehen. Die Richtung, die er verfolgen mußte, diesen zu erreichen, war ihm wohlbekannt. Nach anderthalb Stunden schon stand er auf dem abgeplatteten Gipfel des öden Hügels, den nur noch etliche von Zeit, Sturm, Wetter und Blitz zertrümmerte, morsche Eichstämme verunzierten. Rückwärts gewendet übersah Anton jene Wälder, die er seit frühester Kindheit so vielfach durchstreift hatte. Nur die Kirchturmspitze von Liebenau blickte daraus hervor. Nach der anderen Seite hin sah er Acker, Bäche, Wiesen, Dörfer, ja sogar einige kleine Städte. Drei Meilen und noch weiter blickte man ins Land hinein! Zum erstenmal im Leben nahm er wahr, was er für eine große Landstraße halten mußte, was sich aber, von oben betrachtet, nur wie ein graues Band durch Triften und Felder schlang.

Noch eine Stunde Weges, – und seine Füße berührten den Boden jener Straße –!

Dieser Gedanke, lebhaft und immer lebhafter wieder gedacht, ergriff ihn endlich mit wildem, niemals empfundenem Entzücken, das, nachdem es erst langsam und lange in seiner Brust geglimmt, auf einmal in helle Flammen ausbrach.

Mit halb wahnsinnigem Jubelschrei, vor dessen Gewalt sämtliche Krähen auf den dürren Eichen des Berges die Flucht ergriffen, machte der Jüngling seinen Empfindungen Luft.

»Hinaus«, rief er, die Mütze hoch emporschleudernd, »hinaus! Dort liegt die Welt vor mir! Ich will in die Welt! Sie nehmen mir das Haus, das mir die Großmutter als freies Eigentum bestimmte. Sie wollen mich wieder zum Kinde machen, den sie für einen Mann erklärte! Sie stürzen ihr Testament um! Ich bin frei! Hinaus in die Welt! Ich will auch erfahren, wie's im großen Leben zugeht! Ich will auch leben! Ich habe ein Recht dazu. Ich bin jung! ich bin kräftig! und häßlich bin ich auch nicht. Tieletunke kann ja doch nicht mein werden. Was soll ich in Liebenau? Ich habe keine Heimat mehr. Die Welt ist meine Heimat! Hinaus in die Welt!«

Wäre nicht seine Mütze, die er bei jedem erneuten Ansatz der Lungenflügel immer wieder den Sternen zuschickte, endlich so vernünftig gewesen, an einem knorrigen Aste hängen zu bleiben, wodurch Freund Anton genötigt wurde, sie herabzuholen, wer mag berechnen, wie lange sein Toben die Krähen noch beunruhigt haben würde! Das beschwerliche Erklettern des dicken, nicht zu umspannenden Stammes brachte ihn ein wenig aus der Raserei, er fing an zu überlegen, daß er, um in die Welt zu ziehen, notwendig einige Anstalten treffen müsse. Wie er da ging und stand, konnte er nicht hineinlaufen, das sah er ein. Er warf also noch einen raschen, scharfen Blick nach der Landstraße, gleichsam um sich zu vergewissern, daß sie ihm unterdes nicht abhanden kommen solle, und trat sodann ohne Zögern den Rückzug an nach Liebenau.

Die Krähen des Eichberges erklärten sich einstimmig einverstanden mit der Entfernung des ungebetenen, störenden Gastes.

Wer etwa Kolumbus gesehen, als dieser, seine neue Erde im Geiste, kurz vor der Einschiffung, die Hände auf dem Rücken, mit gewaltigen Plänen angefüllt, einherschritt, – der wird, wenn er Vergleiche anstellen möchte, nur ein schwaches Seitenstück haben, wie ich befürchte, für die Wichtigkeit und das Selbstgefühl, welche der Korbmacherjunge auf seinem Heimwege vor den Vögeln des Waldes zur Schau trug. Er benahm sich, wie wenn er die Welt, in die er kopfüber zu stürzen gedachte, schon für sich erobert hätte. Mitunter ging ein Zug kindlicher Wehmut, ein Vorgefühl künftigen Heimwehs durch diese kühne Haltung. Aber das redete er sich immer bald wieder aus, und als, er gar vor der Tür seines (!?) Häuschens durch den Herrn Kurator, der »einmal wieder zum Rechten hatte sehen wollen«, derb ausgescholten wurde, daß er sich umhertreibe und nicht zu finden sei, wenn man ihn brauche, – da schwand auch das letzte Restchen von Unschlüssigkeit.

Mit Einbruch der Nacht begann unser Flüchtling die auf dem Rückwege vom Eichberg ersonnenen und durchdachten Vorkehrungen zu treffen. Mutter Goksch hatte zwar die Kasse geführt, aber Anton ja schon seit Jahren mit erwerben helfen. Er hielt sich folglich für berechtigt, an sich zu nehmen, was an Gold- und Silbermünzen vorrätig, dem »Kurator der Masse« nicht überliefert worden war. Ein Sümmchen von dreißig Talern vielleicht. Damit, meinte er, komme ich bequem durch die ganze Welt! Seine besten Kleider und gute Wäsche schnürte er in ein tüchtiges Bündel zusammen. Alle übrigen Effekten verschloß er, vereinte sämtliche Schlüssel durch ein Band und bezeichnete sie nach ihren verschiedenen Bestimmungen durch angeheftete Zettel. Weil er denn gerade beim Schreiben war, suchte er den feinsten, reinsten Bogen, der sich etwa noch finden ließ, auf welchen er mit langsam geführter Feder nachfolgende Zeilen stellte:

Mir hast du »Leb' wohl!« gesagt, –
So will ich gehen.
Die Taube hier hat dir behagt,
So mag sie stehen
In deiner Nähe allezeit.
Der sie erzog, der ist gar weit,
Du wirst ihn nicht mehr sehen,
Denn ich muß gehen.
Du sagtest nur ein »Leb' wohl« mir,
Ich aber sende tausend dir:
Leb' wohl – denn ich muß gehen.

Das so beschriebene Blatt heftete er auf den Käfig seiner Turteltaube, den er sodann nach dem Schlosse trug, wo bereits alle Kerzen gelöscht waren, außer in der Kammer des Kochs. Dort gab er ihn ab, nachdem er lange vergebens mit Steinchen ans Fenster geworfen, um den verschlafenen Menschen zu wecken. »Fürs jüngste Fräulein!« fügte er bei – und verschwand. Dann lief er wieder nach seinem Hause, hing sein Gepäck um, ergriff den Schlüsselbund, löschte das Lämpchen, schloß die Türen und eilte, als ob er fürchte, es könne ihm noch leid werden, dem Pfarrhofe zu. Da ließ ihn die taube, sechzigjährige Magd ohne weiteres ein, obwohl der Herr Pastor schon längst zu Bette lag; denn schlafen – (meinte sie) – tut er ja noch nicht.

Sie irrte, die ehrliche Liese. Er schlief. Anton küßte dem würdigen Manne behutsam die Hand, legte seine Schlüsselsammlung auf den Stuhl am Bett, versicherte beim Fortschleichen der fragenden Liese, daß schon ausgerichtet sei, was er Seiner Ehrwürden, dem Herrn Vormund zu bestellen gehabt; – und jetzt wollte er eben den Seitenweg aus der Dorfgasse einschlagen ... da fiel ihm der Kirchhof ein: das Grab der Großmutter!

Auf dem Hügel, den er wenige Tage zuvor mit einem Kreuze geziert, nahm er Abschied von ihr, mehr in Tränen als in Gedanken. Nein, er dachte nicht, er fühlte nur: »Wenn sie von mir weiß, wenn sie jetzt um mich ist, wird sie mir verzeihen, ich kann nicht anders, sie muß es selbst einsehen. – Nun auf die Landstraße!«


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