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Neuntes Kapitel

Der Erntekranz sollte gebracht werden. Onkel Nasus hatte den nächsten Sonntag für diese Feierlichkeit bestimmt und weitere Anstalten dazu getroffen, als er seit verschiedenen Jahrgängen nötig befunden. Linz und Miez empfingen strengen Befehl, mehrere Tänzerinnen aus der Nachbarschaft einzuladen, was große Schwierigkeiten fand, weil, wie schon oben erwähnt, der Umgang mit allen Gutsbesitzerfamilien eingeschlafen war. Man mußte folglich zu Pastorstöchtern, jungen Verwaltersfrauen, Schullehrernichten und sogar zu Schwestern des eigenen Försters Zuflucht nehmen, um ein Dutzend rotwangiger, vollblütiger, fest zusammengeschnürter, in schreiende Farben geschmacklos gekleideter Balltänzerinnen aufzutreiben. Auf diese Weise leisteten des Barons »Mädel« dem väterlichen Mandat Folge und stellten ihr Kontingent. Nicht so glücklich war Papa gewesen mit Lieferung der Herren Tänzer, die er auszuschreiben sich selbst vorbehalten und durch deren Erscheinung die Seinigen überrascht werden sollten. Nachdem vielerlei Versuche völlig mißlungen, sandte er an Puschel und Rubs Aufträge, »städtische Genossen und Schulfreunde, womöglich ein paar junge Herren in zweierlei Tuch« (das heißt Offiziere) mitzubringen.

An unglücklichere Agenten konnte der Baron sich kaum wenden. Diese beiden armen Jungen, welche oft wochenlang von dem großen, groben Brote zehren mußten, welches ihnen der väterliche, mutterlose Backofen – doch auch nur durch Gelegenheit – lieferte, die kein Taschengeld oder doch sehr wenig erhielten, die kein Vergnügen, wofür man Geld zahlt, mit anderen genießen konnten; – wo sollten sie Bekanntschaften hernehmen, für die Zwecke des Onkel Nasus passend? Und dennoch taten sie etwas in ihrer Art Großes und Erhabenes: Sie hatten nach glücklicher Bestehung ihres Examens für die hohe Schule, welches mit der durch den Pastor ihnen zugestellten freiheitlichen Tanz- und Erntekranz-Order zusammentraf, die geniale Idee gefaßt und ausgeführt, ihre Mitdulder und Mitsieger im Examen, acht an der Zahl – ihrer elf waren sie im ganzen gewesen – zum Liebenauer Erntekranz und Bal champêtre im Namen Seiner reichsfreiherrlichen Gnaden des Baron Kannabich feierlich einzuladen; eine Einladung, die mit allgemeinem, aus Erstaunen sich nach und nach entwickelndem Jubel auf- und angenommen wurde.

Um dem Vorwurfe zu entgehen, daß ich mein Einmaleins vergessen, rüge ich auf frischer Tat einen scheinbaren Rechnungsfehler in vorstehenden Zeilen. Rubs und Puschel sind ihrer ein Paar oder in Ziffern ausgedrückt 2. Die Einladung haben sie an 8 gerichtet. 8 zu 2 macht 10. Folglich könnten nicht elf Abiturienten Teilnehmer des Examens gewesen sein, und dennoch habe ich ausdrücklich elf geschrieben. Ist das Unachtsamkeit? Zerstreuung?

Nein, fürwahr, das ist es nicht. Lerne mich besser kennen, aufmerksame, an deinen schönen Fingern nachzählende und nachrechnende Leserin; es ist, was man in der kritischen Sprache einen feinen Zug, eine verborgene Schönheit, eine sinnige Nuance nennt. Vorbereiten wollte ich dadurch, daß unsere Pastorsöhne allerdings neun Mitbewerber bei der Prüfung pro maturitate zählten, daß sie aber nur acht derselben eingeladen, – weil sie sich an den neunten, als einen durchaus Exklusiven, gar nicht wagten. Es war dies der Sohn des reichen Geschäftsmannes Herrn van der Helfft, ein Jüngling, der fleißig, ernst, für seine Jugend überreif an männlicher Würde, in elegantester Kleidung sich stets vom Umgang aller Mitschüler ferngehalten und, ohne durch Unfreundlichkeit im allgemeinen zu beleidigen, doch im einzelnen jede vertrauliche Annäherung von sich gewiesen hatte. Er war die Perle in der Krone guter, musterhafter Schüler, das Vorbild der obersten Klasse, der Inbegriff reiner, feiner Sitten, der Stolz seines stolzen, überreichen Vaters. Alle Lehrer des Gymnasiums vereinten sich bei jeglicher Konferenz zum Preise des jungen van der Helfft und überstimmten die jedesmal wiederkehrende Äußerung eines alten, ziemlich untergeordneten Schulkollegen, der nichts mehr dozierte als ein bißchen Naturwissenschaft und Physik, der gewissermaßen nur das Gnadenbrot als Lehrer genoß, der jedoch ein eigentümlich humoristischer Kauz war. Dieser pflegte jede Lob- und Preishymne, welche der Chor der Professoren auf den jungen van der Helfft anstimmte, mit den Worten zu schließen: »Wenn er nur ein einziges Mal einen dummen Streich machen möchte!« Als nun der Direktor der gelehrten Schule ärgerlich über solch unlehrerhaftes Begehren, endlich fragte: »Was denn, Herr Kollega, meinen Sie eigentlich mit diesem seltsamen Wunsche?« Da brach der kleine Graukopf aus und rief ganz heftig: »Was ich meine, Herr Rektor? Ich meine, daß eine solche tugendhafte Weisheit, solche Sittsamkeit und Würde, solch untadeliger Fleiß an einem siebzehnjährigen Burschen unnatürlich sind, daß aus solchen jungen glatten Schulmustern und Zierpuppen niemals etwas wird, daß Jugend ihr Recht verlangt. Wundern tut mich dabei nur der Alte, der seinem Namen nach holländischer Abkunft scheint und folglich auch das holländische Sprichwort kennen sollte, nach welchem der Vater einer Tochter, wenn der Vater eines Sohnes um deren Hand für letzteren wirbt, zu fragen pflegt: ›Hat Ihr Herr Sohn aber auch schon ausgetobt?‹ Bequemer für die Lehrer ist gewiß, wenn die Jungen den Anfang des notwendigen und naturgemäßen Austobens weiter hinausschieben, doch besser für die Jungen ist es, wenn sie beizeiten anfangen. Ich bleibe bei meiner Ansicht. Hätte Herr van der Helfft nur ein paarmal im Karzer gesessen, ich würde weit mehr Respekt vor ihm hegen. Dixi et salvavi

Rektor und Schulkollegium belächelten des alten Herrn komischen Erguß und zuckten mitleidsvoll die Achseln, als wollten sie sagen: er ist reif zur Quieszierung!

Daß an einen solchen Vogel Phönix Puschel und Rubs mit ihrer Erntekranz-Einladung sich nicht wagten, wird man begreiflich finden. Desto überraschender wirkte nun sein Benehmen auf die zehn tanzlustigen Abiturienten. Er, Theodor van der Helfft, der im Laufe der Schulzeit mit keinem seiner Kommilitonen etwas anderes als das unumgänglich Notwendige geredet, der jetzt Nummer eins mit Auszeichnung auf dem Zeugnis seiner Reife prangen sah, während die zehn anderen eine bescheidene zwei davongetragen, er wendete sich zu ihnen und schlug ihnen vor, auf der Fahrt nach Liebenau – wohin auch er samt seinem Vater zum Erntefest geladen, von jenem aber allein zu reisen angewiesen worden – seine, Theodors, Gäste zu sein. Unser großer Stuhlwagen, fügte er hinzu, läßt sich durch zwei einzuhängende Bänke sehr leicht in einen zehnsitzigen verwandeln, und ich werde, auf dem Kutscherbock Platz nehmend, die Pferde lenken; mit unseren vier Rappen kommen wir schneller nach Liebenau als mit einem Lohnkutscher.

Zehn dumme Gesichter, unter denen die beiden Puschel und Rubs angehörigen wahrscheinlich die dümmsten waren, bejahten durch erstauntes Schweigen diesen glänzenden Antrag, zu dessen Vollführung Theodor die siebente Morgenstunde des in Rede stehenden Sonntags und als Sammelplatz das Haus seines Vaters angab, in welchem man sich durch ein reichliches Frühstück zu den Anstrengungen der Reise wie des ländlichen Festes vorbereiten und kräftigen wolle.

Die Sache verhielt sich aber ganz einfach so. Herr van der Helfft sen. trieb neben seinem Großhandel auch – (freilich sehr im Stillen!) – ein kleines Händelchen mit Hypotheken nämlich, auf Häuser oder Landgüter eingetragen. Wo ein Großgrundbesitzer einige Male mit seinen Zinsen im Rest geblieben, waren wie Raben, die ein Aas wittern, die Mäkler des großen Mannes da, um auszustöbern, wie es mit dem unsicheren Zahler stehe. Lauteten die Berichte – in ihrem Sinne – günstig, dann wußten sie durch allerlei hingeworfene Andeutungen die auf ihre Zinsen harrenden Eigentümer jener Grundverschreibungen ängstlich zu machen und erkauften dann dergleichen Papiere, die übrigens auf den Fall eines Bankerottes Sicherheit gewähren mußten, mit unzweifelhaftem Vorteil für ihren Herrn und Meister. So war Timotheus van der Helfft in den Besitz einer gerichtlich eingetragenen, auf Liebenau lautenden Schuldverschreibung von 30 000 Talern à 4½ Prozent gelangt, welch letztere Onkel Nasus seit drei halben Jahren ignoriert hatte. Herr van der Helfft hatte bisher nur mäßig erinnert, mit Klagen nur gedroht, Subhastation nur wie ein Schreckbild aus der Ferne gezeigt, offenbar in der menschenfreundlichen Absicht, seinen Gläubiger immer sicherer sinken zu lassen, um dann die Herrschaft, deren noch immer bedeutender Waldbestand ihn lockte, ohne lange Umschweife in seine Hände zu bekommen. Der Baron, schlau genug, so etwas zu ahnen, wollte den Kaufherrn an Ort und Stelle haben, um ihn durch den Anblick alter Stämme lüstern zu machen, damit vielleicht ein Verkauf aus freier Hand ihn vor der Krida schütze und so viel abwerfe, noch ein kleines Kapitälchen an die Seite zu bringen. Deshalb hatte er den Städter dringend eingeladen. Der Städter aber, schlauer als schlau, begriff die Absicht des Dörfners und beschloß, sich durch den Sohn vertreten zu lassen, der unbefangen auftreten, dabei über manches Aufschluß erhalten und dann Bericht erstatten konnte, um so passender, weil die Herrschaft für ihn bestimmt, zu seinem »Edelsitz« ausersehen war. Je burschikoser Theodor erschien, desto leichter mußte ihm seine Rolle als unentdeckter Spion werden, und deshalb ergriff er die Gelegenheit, welche der Pastorsöhne Einladung darbot, so eifrig, im voraus von seines Vaters zustimmendem Lobe überzeugt. Daran fehlte es auch nicht. Er kutschierte, neben einem zierlichen Reitknecht thronend, die von Herrn van Helffts Gabelfrühstück hoch entflammte Zehnzahl bestens den grünen Waldgefilden zu, welche er bereits als ihm gehörig prüfte, und lieferte sämtliche Burschenschaft, durch rasche Fahrt ziemlich nüchtern geworden, richtig vor der uns bekannten Wildenweinlaube ab. Onkel Nasus entsetzte sich anfänglich, daß der kolossale Vierspänner nur junges Tänzelgesindel, nicht aber den erwarteten, fürchtend gehofften, listig zu zähmenden Gläubiger mitbringe. Wie jedoch Theodor sich als Sohn des Gewaltigen zu erkennen gab, nahm er diesen bereitwilligst für einen Friedensherold und eilte, Tieletunke als die jüngste, hübscheste und klügste der Töchter durch einige Kniffe, Püffe und Zwicker in kindliche Pflichten der Koketterie und Bezauberung einzuweihen, wobei er ihr zärtlich ins Ohr grunzte: »Von dir, du dumme Gans, hängt es jetzund ab, und von deiner Larve und deinen paar Pfund Gänsefleisch, ob dein alter Vater wie ein Bettelhund von Haus und Hof wandern soll, oder ob du den einzigen Sohn des verfluchten Wucherers fangen und den Vater retten kannst! – Reiche Dame – oder alte Spitaljungfer. Du hast die Wahl!«

Baron Kannabich war noch nicht betrunken, als er diese gewichtigen Worte sprach; denn er hatte sich für van der Helffts auch wahrscheinlichen Empfang nüchtern erhalten wollen, weshalb er auch in der Kirche die Predigt abgewartet.

Der Erntekranz wurde um vier Uhr nachmittags ins Herrenhaus getragen. Musikanten gingen dem Zuge voran; viele Dorfleute, darunter auch solche, die nichts mit der Feierlichkeit gemein hatten, folgten ihm, um bei Gelegenheit in jene Räume des Schlosses dringen zu dürfen, welche sonst niemals geöffnet wurden, und dort die alten, buntseidenen, wenn auch von Zeit und Mäusen zerstörten Tapeten anzugaffen. Anton war so sehr daran gewöhnt, diesen Zug mitzumachen, noch aus den Jahren frühester Kindheit, wo er als Gespiele der Fräuleins und als Tieletunkes Liebling sich im Schlosse heimisch fühlte, daß er auch heute, die jüngste Vergangenheit vergessend, sich anschloß. Er überlegte weiter nicht, welche Folgen dies möglicherweise haben könnte. Seine Großmutter schüttelte ängstlich das alte Haupt, wie er dahin zog – in seinem besten Putze!

Er war sehr schön. Weiße Beinkleider, aus dem feinsten selbstgesponnenen Leinwandstücke der Mutter Goksch geschnitten und vom Dorfschneider mit besonderer Vorliebe und Sorgfalt gearbeitet, saßen ihm so nett und knapp und hoben seine schlanke, kräftige Gestalt so anmutig hervor, daß man nichts Hübscheres sehen konnte, ein kurzes Jäckchen von dunkelblauem Tuche schmiegte sich wie gegossen an die breiten Schultern, um den halb offenen Hemdkragen schlang sich ein rotseidenes Tuch, dessen Zipfel lang umherflatterten, auf den vollen braunen Locken, nach dem rechten Ohre hin gesenkt, saß ein strohgelbes Ledermützchen. Und das edle Angesicht, aus dem unter dunklen Brauen und Wimpern ein blaufeuchtes Auge hervorstrahlte, bildete in wehmütigem Ernst den wirksamsten Gegensatz zu der fast spöttisch lächelnden Oberlippe, auf der sich der erste Anflug eines regelmäßig geformten Bartes wölbte. Sein Gang war fest und leicht, beides zugleich, ohne Spur von Ziererei, den natürlichsten Anstand bezeichnend. Die kleinen Füße schienen, in dünneren Schuhen, als jemals ein Liebenauer Bursche besessen, einherschreitend, selbst zu zweifeln, ob sie Boden genug fassen könnten, der ihnen anvertrauten Person das rechte Gleichgewicht zu erhalten. Doch ging es herrlich, und Anton wandelte auf ihnen mutig einher.

Die Großmutter schaute ihm lange nach, dann erlaubte sie sich die unbescheidene Frage: »Du lieber Gott, was wolltest du mit dem Jungen neben den Dorflümmeln?«

Im Schlosse hatten sie den großen Saal des Erdgeschosses geöffnet, gelüftet, ausgeputzt für Tanz und Lustbarkeit. Das Mittagsmahl war beendet. Theodor, neben Ottilie gesetzt und an besseren Wein im väterlichen Hause gewöhnt, hatte des Barons Ermunterungen zum Trinken ebenso unbeachtet gelassen, als Ottilie die liebevoll an sie gestellten Aufforderungen, zuvorkommend und kokett zu sein. Sie gaben ein stummes Paar ab. Desto lauter wurden die anderen. Sie konnten kaum den Beginn des Tanzes mehr erwarten.

Die Pflicht der Schloßfräulein, altherkömmlichem Brauche gemäß, sich einige Male mit den Pferde- und Ochsenknechten des Hofes umherzuschwenken, wurde eiligst abgemacht, die kranztragenden Mägde rasch beschenkt, durch eine Anweisung auf Bier und Branntwein fürs Dorfwirtshaus so schnell als möglich beseitigt, und kaum waren die leicht Befriedigten fortgeschickt, als andere Musikanten – ob besser, steht dahin – ihre widerspenstigen Geigen und Klarinetten ergriffen, den »herrschaftlichen Ball« zu eröffnen. Er war nun eben nicht sehr herrschaftlich, dieser Ball. Die Gesellschaft eine, gelind ausgedrückt, sehr gemischte, wie schon aus den uns bekannten Einleitungen für die Festlichkeit entnommen werden mag. Drei Figuren sind es, die sich ausnahmsweise hervortun, dem Ganzen einigen Glanz zu verleihen. Zuerst, wie billig, nennen wir die jüngste Tochter des Hauses. Ottilie, anspruchslos gekleidet, gewährte, ohne vollkommen schön zu sein, einen angenehmen Anblick und benahm sich, wie man sich in der höheren Welt benimmt. Sie konnte nicht anders. Neben ihr zeigte sich Theodor als wohlerzogen und zierlich, nur daß er durch Hochmut und gelangweilte Teilnahmlosigkeit, die er offen, ja absichtsvoll zur Schau trug, den günstigen Eindruck verdarb. Er konnte auch nicht anders.

Anton war es endlich, der über alle hervorragte und für die Zier des Festes gegolten haben könnte, wenn er nicht zurückgezogen und stumm in einem Winkel geblieben wäre. Daß er überhaupt blieb, nachdem das Landvolk sich entfernt, scheint seltsam genug. Ihm wäre so etwas auch nicht in den Sinn gekommen, vielmehr hatte er, als der lange Zug sich emsig durch die weit geöffneten Flügeltüren in den Saal drängte, seinerseits standhaft sich gegen den Strom gestemmt, um draußen zu bleiben unter den ärmsten, geringsten, schüchternsten der Gemeinde. Dort jedoch hatte Tieletunkes Blick ihn erspäht, und sie war es, die ihn hereingeholt, mit ihm zu tanzen, während alle übrigen Tänzerinnen die Robott des Tages an derbe Knechte abtrugen. Er tanzte so leicht und wußte dabei seine Tänzerin so sicher zu führen, daß sie mehr flogen als tanzten. Ottilie kam in diesem Schweben dem auf ihren Sieg spekulierenden Vater dermaßen belebt und feurig vor, daß er sich von Dankbarkeit zu Anton gezogen fand, als welcher durch sein Geschick die Reize der sonst kalten Dame in helleres Licht zu stellen gewußt. Mit einer vom Mittagstische schon schwer gewordenen Zunge sprach er ihn in der gewöhnlichen Liebkosungsformel: »Na, Schlingel?« an und ohne selbst recht zu wissen, was er tat, befahl er ihm, beim herrschaftlichen Balle zu verweilen. Kaum war diese gebieterische Einladung ausgesprochen, als Ottilie von ihrem Tänzer zurücktrat, dem Vater einen fast zornigen Blick zuwarf und sich unter die anderen Frauenzimmer verlor.

Anton stand in peinvoller Lage da. Sein zarter Sinn ließ ihn die durch Ottilie zugefügte Schmach desto schmerzlicher empfinden, weil die ihr zuvorgegangene Auszeichnung ihn mit täuschenden Hoffnungen zu necken begonnen hatte. Dem Befehle des Barons ungehorsam zu sein, wagte er nicht. So mußte der Arme verbleiben, wo er sich nur geduldet, wo er sich von ihr, um derentwillen allein er hätte gern dort sein mögen, nicht gern gesehen wußte. Deshalb stand er stumm und unbeweglich im Winkel neben den Musikanten. Als einer derselben über Schmerzen in der linken Hand klagte – es war ihm ein Glassplitterchen darin sitzen geblieben von einer Flasche, die er vorgestern einem seiner Freunde am Kopfe entzweigeschlagen – nahm Anton dessen Geige und strich statt seiner Ländler und Walzer herunter.

»Gut, Anton, gut!« rief jetzt Ottilie, die eben mit Theodor an ihm vorbeisauste; »das ist brav! jetzt tanzt sich's noch einmal so schön.«

Da legte Anton verdrießlich die Geige gleich wieder weg und brummte: »Wer sich aus der ihrem Benehmen gegen mich einen Vers machen wollte, der müßte mehr verstehen wie Brot essen.«

Die Anwesenheit Theodors und der Abstand zwischen diesem und den übrigen Schülern, besonders den Pastorssöhnen, entgingen seinem Scharfblick ebensowenig, als des Onkel Nasus unterwürfige Aufmerksamkeit für jenen jungen Herrn. Ohne die Gründe erforschen zu können, durchschaute sein natürlicher Verstand doch bald den Zweck, und das machte ihn noch verbissener und mürrischer, so daß er einige wohlgemeinte Anreden, die Linz und Miez in ihrer nichtssagenden Manier aufmunternd an ihn richteten, fast undankbar hinnahm, ohne ihnen Folge zu geben.

Rasch verfliegt Stunde um Stunde des frühzeitig begonnenen Balles, bei dem sämtliche Teilnehmer sich bestens ergötzen, nur die drei ausgenommen, welche uns die wichtigsten sind. Und die Hauptperson dieses Buches, sein Held Anton, nachdem Ottilies unwillkommenes Lob ihm auch jene Zerstreuung weggespottet, welche er sich durch Aufspielen zum Tanze bereitete, trachtete einzig und allein nach einem günstigen Moment, wo es ihm gelingen möchte, unbemerkt von Onkel Nasus zu entschlüpfen. Deshalb sucht er sich, die Wand des großen Saales entlang, so fest an die alten Tapeten gedrückt, daß er eine der darauf eingewirkten Figuren zu sein scheint, langsam von einem Fenster zum anderen zu schieben, bis er dem allgemeinen Ausgang nahe kommt. Doch hier gerade muß der Baron sitzen mit Pastor Karich und einigen anderen alten Herren, im halben Weinschlummer zwar, aber aus diesem doch von Zeit zu Zeit durch den Klang eines frischgefüllten Glases aufgeweckt.

Da blieb ihm denn nichts übrig, als geduldig den schicklichsten Zeitpunkt zur Flucht zu erlauern. Er preßte, wie wenn er für nichts anderes Augen besäße, seine Stirn gegen die Fensterscheiben und starrte hinaus in den dunklen Garten. Die Glocke des kleinen Kirchturms schlug eben die zehnte Stunde. Ihre Klänge, schwach herüberzitternd, mischten sich seltsam in den Tanzlärm des Saales. Beim letzten Schlage, den Anton mit dem Seufzer begleitete: »schon zehn Uhr«, richtete sich dicht unter dem Fenster eine weiße, weibliche Gestalt empor. Die Züge des Angesichts wahrzunehmen, verhinderte ihn die Helle, welche, durch die im Saale brennenden Kerzen verbreitet, ihn blendete, aber aus ihren Bewegungen und mehr noch aus der beunruhigenden Ahnung, die ihn durchrieselte, glaubte er die braune Bärbel zu erkennen. Sie, aus der Dunkelheit des Gartens nach erleuchteten Räumen blickend, hatte leichteres Spiel und erkannte zweifellos ihn, den sie suchte. Sie gab ihm einen bedeutsamen Wink. Mit lebhafter, eindringlicher Gebärde lud sie ihn zu sich. Das war kein Irrtum. Wolfgang hat richtig gesehen, dachte Anton, ich habe ihr gefallen, sie sucht mich auf. Kaum eine Minute lang währte der Kampf seiner Seele. Aber dieser Kampf zerriß ihm fast die Brust; ihm war, als ob Ottilie ihn festhalte, als ob sein Herz mit dem ihrigen verwachsen sei, als ob er jetzt in diesem Augenblick der Prüfung den Raum nicht verlassen dürfe, wo sie atme, Und doch trieb stürmische Sehnsucht ihn hinaus, der bezaubernden Verführerin zu folgen, wohin sie ihn lockte! Wie wenn er sich durch den Anblick seiner Geliebten schützen, kräftigen wollte, wendete er noch einmal seinen Blick nach der Tanzenden zurück: da sah er dicht hinter sich Ottilie an Theodors Seite in belebtem Gespräch, wie jener gerade nach ihm deutete und Ottilie mit spöttischem Achselzucken darauf erwiderte. Das gab den Ausschlag. Ohne länger zu zögern, wandte er sich nun der Tür zu und erreichte – unbemerkt von allen, wie er glaubte – die Weinlaube, über deren Spalier er eiligst in den Garten kletterte. Halb bewußtlos stürzte er sich der ihn Erwartenden entgegen, umfing sie mit zitternden Armen und kam erst wieder zur Besinnung, als Bärbel ihn kräftig von sich stieß. »Nix Bussel! Nix zärtlich! Zu Lieb' ist kein' Zeit; der Tod ist kommen. Wolfgang laßt dich rufen. Der liegt im Fuchswinkel und stirbt. Weil du ihm versprochen hast, willst zudrücken seinige Augen, muß ich dich holen. Ich suche dich schon ganzes Abend. Hurtig, nimm in die Hand deine Beine und lauf'. Bärbel geht nit mit in Fuchswinkel; fürcht ich mich vor Tod!« Kaum war diese Botschaft in kurz ausgestoßenen, abgebrochenen Sätzen verkündigt, so stieg die braune Bärbel mit der Gewandtheit eines Marders über die Weinlaube, um wieder den Weg durch den Schloßhof ins Freie zu gewinnen, denn einen anderen Ausgang gab es aus dem mit hoher Mauer umgrenzten, zur Nachtzeit verschlossenen Garten nicht. Anton vermochte keineswegs, ihr so bald zu folgen. Von der jetzt eben noch geträumten lebendigen Erfüllung lang- und banggehegter wilder Wünsche und Erwartungen ins Reich des Todes war der Übergang zu heftig. Er, der weder Liebe noch Tod, weder Anfang noch Ende anders als aus Ahnungen kannte, sollte nun, wo er in den Armen blühender Schönheit Aufschluß über seine eigenen Gefühle zu erringen und dadurch gewissermaßen Rache an Ottilie zu nehmen vermeint hatte, den schweren Gang zu einem Sterbenden antreten, dem er das Wort gegeben, nicht zu fehlen, wenn man ihn rufe! Die volle Kraft reiner, ungeschwächter Jugend war nötig, um in solchem Kampfe nicht zu unterliegen.

»Ich hab's dem schwarzen Wolfgang versprochen!« Weiter sagte er nichts und schickte sich an, der braunen Bärbel Beispiel nachzuahmen. Doch sollten für ihn die schweren Prüfungen dieser Nacht sich drängen; er sollte – dies war der Wille ewiger Mächte – in ihr zum ganzen Manne reifen. Denn als er das Gestell des Weinlaubenspaliers erklettert hatte und schon im Begriff stand, durch dicht belaubte Ranken sich windend, den Sprung hinab auf den Erdboden zu machen, mußte er halb in der Luft hängen bleiben, weil unter ihm Bärbel – die er längst auf raschester Flucht zum langen Samuel wähnte – und dieser zur Seite Theodor standen. Der junge van der Helfft, vom Tanze mit Ottilie ein wenig aufgeregt, als er bemerkte, daß er zu bemerken beginne, wie sie »gar nicht so übel sei«, hatte sich die väterlichen Lehren ins Gedächtnis gerufen, unter denen die fürnehmste dahin ausging, er möge sich um Gottes willen von keiner jener Bettelbaronessen eine Schlinge um den Hals werfen lassen, weil so etwas dem »Projekt« schaden könne. Dieser Lehre wieder eingedenk in dem Augenblick, wo er zu spüren anfing, daß einige Neigung in ihm erwache, sich für die »Misere« des Liebenauer Balles bei Ottilie zu entschädigen, besiegte er solche flüchtige Neigung ohne Mühe und begab sich ins Freie, unter dem Vorwande, frische Luft zu schöpfen, was seinem Kopfschmerz gut tun würde. Ein böser Stern wollte (meine Leser werden, wie ich befürchte, lange warten müssen, bevor sie erfahren, was ich damit meine) – daß er in die wilde Weinlaube trat, wie gerade aus der Bogenwölbung Bärbel sich herniederließ. So dunkel war es nicht, daß er nicht mehr gesehen haben sollte, als er zu sehen brauchte, um außer sich zu geraten.

»Fallen Engel vom Himmel herab, mich zu entschädigen für dieses elende, unsaubere Fest?« rief er aus und hielt die Zigeunerin mit beiden Händen. Was sie weiter miteinander gesprochen oder verabredet, können wir nicht verraten. Sicher ist nur, daß Anton, über ihnen baumelnd, in Bärbels Händen flimmernde Goldstücke klingen hörte. Schon fürchtete er, nicht länger in der Schwebe ausdauern zu können und zwischen beide stürzen zu müssen, wie ein Felsstück, welches, vom Berge abgelöst, zwei Rehe trennt – als aus der Haustür Onkel Nasus samt Begleitung der männlichen Hälfte des Balles mit Kerzen und allerlei Stärkungsmitteln trat, nach dem hochgeehrten jungen Gaste und dessen Befinden zu schauen. Bärbel verschwand mit unbegreiflicher Schnelligkeit. Theodor wandte sich eiligst den Suchenden zu, die ihn umringten und, durch die Nachricht seines Besserbefindens entzückt, ihn wieder ins Schloß zogen.

Anton gelangte zur Erde und diese mit rüstigen Füßen betretend, wanderte er, von unbeschreiblichen Empfindungen getrieben, dem verrufenen Fuchswinkel zu.


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