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Einundzwanzigstes Kapitel

Der Aufenthalt in kleineren Städten konnte für eine so großartige Unternehmung, wie jene der Madame Simonelli, stets nur ein vorübergehender sein. Deshalb finden wir sie in P., wo eine große, heizbare Bude für sie aufgeschlagen worden, während noch in R. nichts weiter als sämtliche zu einer Wagenburg sinnreich vereinte Fourgons, mit Leinwand überdeckt, den Zwinger bildeten.

Antoine prangt bereits in vollem Putz. Schmiegsame Lederhosen und ein kurzes Jäckchen von schwarzem Samt, mit silbernen Knöpfen à la Figaro besetzt, kleiden ihn allerliebst. Was über die Tiere vorzutragen ist, hat er sich rasch zu eigen gemacht. Die mündlichen Überlieferungen der Damen wie der ausländischen Wärter, seiner Kollegen, sind durch ihn mit seinen eigenen Jugenderinnerungen aus Raff und ähnlichen, den Liebenauern zugänglichen Zoologen in ein harmonisches Ganze verschmolzen worden. Er lügt ein hochansehnliches Publikum – zum Teil aus Polen bestehend – auf deutsch, doch nur mäßig an und gleitet über fragliche, dunkle Punkte mit bewunderungswürdiger Zuversicht hinweg. Dabei flößt er den Anwesenden Erstaunen ein durch seinen ungezierten Ausdruck, da er nicht den Ton gewöhnlicher Marktschreier und öffentlicher Ausrufer annimmt, sondern vielmehr natürlich, mit wohlklingender Stimme anmutig redet. Auch verfehlt er nicht, mit poetischen Andeutungen hinzuweisen auf die (durch ihn und seinen Einfluß bei Madame Simonelli beliebte) neue Anordnung in der Reihenfolge der Käfige, vermöge welcher allerlei in die Augen springende Gegensätze und Wirkungen erreicht worden sind. Der apathische, von seinen Schollen träumende, hin und her schaukelnde, langweilige Eisbär ist zwischen einen gefleckten Panther und einen schönfarbigen Leoparden gebracht, über ihm windet sich in unaufhörlicher Bewegung die schlankste, ruheloseste Tigerkatze. Tiger und Hyäne sind getrennt durch jenes gutmütige, sanfte Ungetüm, dessen sehr lange Schnauze Monsieur Pierre im vorigen Kapitel so vertraulich handhabte, was Anton mit Furcht sah, was aber Antoine, seiner innigen Beziehungen zur Schnauze sicher, jetzt ebenso vertraulich tut, wobei ich eingestehen will, daß gerade an diesem Tiere mein guter, wahrheitsliebender Anton zum frechsten Scharlatan wurde; ohne seine Schuld freilich. Denn es war ihm als Bradipus ursinus, als bärenartiges Faultier auf seinen Katalog gestellt worden. Madame Simonelli band ihm auf die Seele, die Seltenheit dieses erst »neuentdeckten« und gleichsam in ihrem Auftrag erfundenen Monstres gebührend hervorzuheben. Ja, sie ging so weit, ihm anzudeuten, er dürfe, wenn gläubige Hörer versammelt wären, wagen, es solchen als Riesenfaultier oder vorsündflutliches, fabelhaftes Megatherium zu überantworten! Zwischen besagtem Megatherium – genau betrachtet nichts anderes als ein langnasiger bengalischer Bär – und unserem Anton bestand bereits das herzlichste Freundschaftsbündnis. Petz, der Indier, fraß für sein Leben gern Äpfel, und Anton erlabte ihn mit dieser paradiesischen Frucht, wo er wußte und konnte. Welche Folgen diese Freundschaft hatte, und wie lediglich durch sie ein wichtiger Wendepunkt in Antons Leben eintreten sollte, – das werden wir seinerzeit erfahren.

Die beschwerlichste, schmutzige Arbeit, wie sie Wärtern solcher Tierbuden obliegt, ward Anton nicht zugemutet. Er blieb »Bruder Redner« und machte nebenbei den oft in Anspruch genommenen, aber stets freundlich behandelten Serviteur seiner Herrin und ihrer wunderschönen Tochter, die in einer eleganten Wohnung, nicht fern der Bude, hausten. Beide freuten sich feiner Sauberkeit in Tracht, Haltung und Betragen. Madame Simonelli entdeckte sehr bald das ihm eigentümliche Sprachtalent, wußte es zu wecken, zu nähren, und schon nach Verlauf weniger Wochen wußte Anton seinem neuen Namen Ehre zu machen und sich mit seinen Damen einigermaßen französisch zu unterhalten. Trinkgelder gingen jetzt reichlicher ein, als sonst je. Weil er mit vornehmer Gleichgültigkeit die große Büchse schüttelte und dabei – nicht ohne sich gelegentlich nach Rot- und Schwarzbart zu wenden – ausrief: »für die Aufwärter, wenn's beliebt?!« konnte zwar niemand daran denken, daß er für sich begehre, beeilte sich aber dennoch jedermann, den liebenswürdigen Sammler zu erhören, sogar junge, schüchterne Mädchen erbaten sich heimlich flüsternd von den Eltern einige Silbermünzen, um sie errötend in den großen Spalt werfen und in die unausfüllbare Tiefe fallen hören zu dürfen. Weil Anton mit seinen Genossen teilte, ohne nachzuzählen und zu rechnen, und weil diese bei den reichlichen Spenden, die ihm und seiner Persönlichkeit galten, zwiefach ihre Rechnung fanden, so blieben sie voll Ergebenheit für ihn, gönnten ihm jede Auszeichnung, welche Madame Simonelli ihm sonst zuteil werden ließ, und priesen ihn um so höher, als er stets bereit war, daheim zu bleiben, die Aufsicht zu führen, wenn nach beendigter Schaustellung die Bude geschlossen ward, und sie eine Schenke besuchen wollten.

Diese Stunden der Einsamkeit, wo ihm jegliches menschliche Wesen fern und er allein unter reißenden Bestien weilte, wurden ihm bald unendlich teuer und wert.

Zwei tüchtige eiserne Öfen strömten genügende Wärme aus, die Vögel schliefen, die Raubtiere gingen mit leisen, kaum hörbaren Tritten in ihren Kerkern auf und ab, oder sie ruhten, von der kürzlich erfolgten Fütterung satt und schlaftrunken, auf ihrer Nachtstreu. Das waren die Stunden, wo der im neuen fremden Leben umherirrende, nach außen gezogene Mensch in sich selbst zurückging, das heißt: in seine Vergangenheit. Er hatte sich eine Geige gekauft, nicht eine so kostbare, wie Carino ihm in der wilden Weinlaube dargereicht, aber doch um vieles besser als jene, von der Ottilie damals die Saiten abschnitt, und die Anton bei der »Gokschischen Masse« zurückließ. Auf dieser Geige spielte er, wenn er seine einsamen Abendstunden feierte, in Erinnerungen von Wehmut und Heimweh versenkt, die alten Liebenauer Melodien, und zwar, wie ich ausdrücklich erwähne, zur vollen Befriedigung des hohen versammelten Publikums. Sogar Seine Majestät der Löwe geruhten durch unterdrücktes Brummen Teilnahme kundzugeben. Alle lauschten, keins heulte. Es wurde weniger geplaudert und fanden minder Störungen statt, als bei vielen musikalischen Teezirkeln, wo man die Virtuosen quält, bis sie spielen, und wo man nicht auf sie hört, wenn sie es tun. Antons Hörerkreis war ganz Ohr.

Es widerfuhr dem Liebenauer Orpheus bisweilen, daß er mit seinen weichsten Tönen und seinen kindlichsten Erinnerungen – einschlief. Dann schob er sich zurück auf den Sitz, den er sich am Ende der langen Bude von wollenen Decken kunstreich gebaut, die Geige entsank den Händen, er schlummerte, bis Rot- und Schwarzbart, aus dem Gasthause zurückkehrend, ihn weckten, worauf er sich dann hinüber zu Madame Simonelli begab. Denn er genoß auch den Vorzug, bei ihrer Wohnung sein Stübchen zu haben.

Schon mehrere Male hatte er, mit irgend einem Auftrage zufällig und rasch bei ihnen eintretend, vernommen, daß er ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter unterbrach, das ihm gegolten. Einzelne Wörter, die er eben noch davon gehört, ließen ihn vermuten, es sei da von seinen musikalischen Feierstunden die Rede; auch davon, daß er dieselben bisweilen mit einem Schläfchen beschließe; ja, daß er schlafend allerlei Geheimnisse ausplaudere. Madame Simonelli neckte ihn einigemal mit einer »verlassenen Liebe«; Madame Amelot lächelte dabei vor sich hin, und Anton glaubte seinen Ohren kaum trauen zu dürfen, als er die schöne Frau lispeln hörte: »Tilltonque«, was höchst wahrscheinlich »Tieletunke« bedeuten sollte. Diesen Liebenauer Spottnamen konnte man nur aus seinem Munde vernommen und er konnte ihn nur im Traume verraten haben! Man hatte ihn also belauscht, während er schlief? Und mit welcher Absicht? Offenbar um sich zu überzeugen, ob er auch vorsichtig mit Feuer und Licht umgehe! Denn damit war nicht zu spaßen; das sah er selbst ein, er fand es billig, daß er kontrolliert werde.

Aber er verspürte doch auch ein Lüstchen, gelegentlich zu belauschen, wer ihn belausche; das ist ihm auch nicht übel zu deuten.

Nun soll aber einer mit Ungeduld auf etwas harren, dann geschieht es gewiß nicht. So ging es Anton. Seitdem er auf die Lauscherin lauert, will sich keine einstellen. Er findet es bald lächerlich, die schöne Schlafstunde sich durch Neugier zu verkümmern. Er gibt das Lauschen auf und schläft wieder. Er träumt auch. Der Traum führt ihn nach Liebenau. Doch kehrt er nicht heimlich heim, wie er entfloh. Nein, öffentlich, prunkvoll; er hält einen Triumphzug. Die Bestien der Menagerie haben ihn zum Herrn erwählt; er steht, die Geige spielend, auf einem goldenen Wagen, der mit Kränzen umhangen und ausgeschmückt ist, und nicht etwa mit gewöhnlichen Blumenkränzen, wie jeder andere Triumphator dieselben haben könnte. Ei, behüte! Bunte Vögel sind es, die Girlanden bilden. Aras, Kakadus, seltenste Papageien, Loris und Perüchen jeder Art und Farbe hängen mit den Schnäbeln sich verkettend und ineinander schlingend zusammen. Löwen und Tiger ziehen den Wagen. Ein Mandrill und ein Pavian reiten, ersterer auf einer trefflich zugerittenen Hyäne, der andere auf einem »Paß« gehenden Lama daneben her. Strauß und Kasuar führen den Zug an; unzählige kleine Affen folgen ihnen paarweise, sich die Pfoten reichend, wie Schulkinder bei einer Prozession. Der Eisbär trägt einen Pelikan im Rachen, ohne ihn zu beschädigen.

Im allgemeinen wird vortrefflich Takt gehalten, denn jeglich Geschöpf lauscht auf Antons Geige.

Ottilie tritt heraus!

»Tieletunke!« ruft Anton, springt vom Wagen, achtet nicht das Zetergeschrei mehrerer Affen, denen er unsanft auf die Schwänze tritt, bricht sich Bahn zur Freundin der Kindheit, – da erscheint, er weiß nicht, woher sie plötzlich kommt, Madame Amelot, das Schloßfräulein an Schönheit hell überstrahlend, schiebt Ottilie zur Seite und fragt lächelnd; »Mais comment peut-on aimer ce qui s'appelle Tilltonque?« Anton will sich verteidigen, das Traumgesicht zerstiebt, er erwacht – wähnt noch die letzten Worte zu hören – und sieht am entgegengesetzten Ende der Bude durch den Ausgang eine weibliche Gestalt entschlüpfen, die auffallende Ähnlichkeit mit Madame Amelot verrät! –

»Comment peut-on aimer ce qui s'appelle Tilltonque?« Diese seltsame Frage nahm er mit in sein Bett, begab sich jedoch am nächsten Morgen nach einem Buchladen, woselbst er das beste Wörterbuch und die beste französische Sprachlehre, so für Geld zu haben waren, käuflich an sich brachte. Denn er fand es geziemend, sich so gut und richtig wie nur immer möglich in einer Sprache ausdrücken zu lernen, welche die Muttersprache bei einer Dame sei, die er als Tochter seiner Gebieterin zu verehren habe.


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