Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

Es kam eine wilde, stürmische Nacht nach stillen, traurigen Tagen. Der Winter schickte seine Vorboten. Unsere Kranke, wenn wir eine schmerzlos dahinsterbende Greisin krank nennen dürfen, empfand den Wechsel der Witterung sehr hart. Sie schlief mit steter Unterbrechung und schreckte den von langen Nachtwachen schwer ermüdeten Enkelsohn häufig durch ihre Unruhe auf. Ganz gegen ihre sonstige duldsame Art und Weise klagte sie wiederholt, daß es gar nicht Morgen werden wolle. Und doch war es kaum mitten in der Nacht. Anton fühlte seine Brust wie zusammengeschnürt. Angst und Schlafsucht übermannten ihn abwechselnd.

»Soll ich dir ein hübsches Lied vorlesen aus dem Gesangbuche?« fragte er, um nur etwas zu sprechen.

»Nein, Anton, nein! Jetzt mag ich nichts hören. Jetzt könnte ich's doch nicht fassen. Ich horche auf etwas anderes. Sei nur still' horche nur auch, es wird sich bald melden.«

»Was denn, liebe Großmutter?«

»Die Sterbeglocke, mein Sohn. Aber die meinige noch nicht. Mein Stündlein hat noch nicht geschlagen. In einer regnerischen, wüsten Nacht läßt unser Herrgott meine arme Seele nicht scheiden. Mir gönnt er einen Sonnenstrahl, auf dem sie hinaufschweben kann! ... Nein, Anton: der Baron – – der Baron – hörst du ihn? Er fluchte gräßlich!«

»Du phantasierst, Großmutter!« rief Anton. Und kaum hatte er's ausgerufen, so drang der erste Ton des wohlbekannten Totengeläutes durch die Seufzer des Regensturmes.

»Das ist wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!« sprach er.

»Onkel Nasus ist tot!« sagte die Alte.

»Arme Tieletunke!« fügte Anton hinzu. Die Turteltaube stieß ein ängstliches Gurren aus.

Die Glocken bebten fort, stärker oder schwächer, je nachdem der wechselnde Wind sich wendete.

»Der Wind springt auch herum, wie wenn er nicht wüßte, was mit ihm werden soll. Aber bald setzt er sich fest im Morgen, das spüre ich an meinen Gliedern: Dann haben wir helles, klares Wetter, morgen den ganzen Tag. Und dann einen schönen, reinen Herbstabend. Einen schönen Abend, mein Anton, mit buntem Blätterwerk, wie gemalt. Rotkehlchen, Schneekönige und Blaumeisen in den Sträuchern. Ach, wie sanft wird sich's da sterben! Weine nicht, Anton! Ich will mein Lieblingslied beten, vom alten Benjamin Schmolck, den deines Großvaters Vater als Schüler in Schweidnitz noch gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem seligen Großvater mußt' ich dieses Lied vorsprechen, wie er starb. Daran will ich mich jetzund laben:

Ich habe Lust zu scheiden,
Mein Sinn geht aus der Welt;
Ich sehne mich mit Freuden
Nach Zions Rosenfeld.
Weil aber keine Stunde
Zum Abschied sich benennt,
So hört aus meinem Munde,
Mein letztes Testament.

Gott Vater! Meine Seele
Bescheid' ich deiner Hand.
Führ' sie aus dieser Höhle
Ins rechte Vaterland.
Du hast sie mir gegeben,
So nimm sie wieder hin,
Daß ich im Tod und Leben
Nur dein alleine bin.

Was werd' ich, Jesu, finden,
Das dir gefallen kann?
Ach, nimm du meine Sünden
Als ein Vermächtnis an.
Wirf sie in deine Wunden,
Ins Rote Meer hinein.
So hab' ich Heil gefunden
Und schlafe selig ein.

Dir, o du Geist der Gnaden,
Laß ich den letzten Blick.
Werd' ich im Schweiße baden.
So steh' auf mich zurück.
Ach, schrei' in meinem Herzen,
Wenn ich kein Glied mehr rühr',
Und stell' in meinem Herzen
Mir nichts, als Jesum, für.

Ihr Engel, nehmt die Tränen
Von meinen Wangen an.
Ich weiß, daß euer Sehnen
Sonst nichts vergnügen kann.
Wenn Leib und Seele scheiden.
Tragt mich in Abrams Schoß,
So bin ich voller Freuden
Und aller Tränen los.

Euch aber, meine Lieben,
Die ihr mich denn beweint,

(Hier stürzte Anton laut weinend nieder und legte sein Gesicht an die Hände der Großmutter.)

Euch hab' ich was verschrieben:
Gott, euren besten Freund.
Drum nehmt den letzten Segen,
Es wird gewiß geschehn,
Daß wir auf Zions Wegen
Einander wiedersehn.

Zuletzt sei dir, o Erde,
Mein blasser Leib vermacht,
Damit dir wieder werde.
Was du mir zugebracht.
Mach' ihn zu Asch' und Staube,
Bis Gottes Stimme ruft!
Denn dieses sagt mein Glaube:
Er bleibt nicht in der Gruft.

Dies ist mein letzter Wille,
Gott drückt das Siegel drauf.
Nun wart' ich in der Stille,
Bis daß ich meinen Lauf
Durch Christi Tod vollende,
So geh' ich freudig hin
Und weiß, daß ich ohn' Ende
Des Himmels Erbe bin.

Als ich dies schöne Lied meinem Alten vorgesagt, ist er freundlich eingeschlafen. Und so wollen wir es alleweile auch machen, Anton, du wie ich, damit wir morgen frisch und tapfer sein mögen für unseren Abschied. Die Unruhe, so in mir gewirtschaftet, ist beschwichtigt. Der liebe Gott hat es gut mit mir vor.«

Sie wendete sich ein wenig nach der Seite hin und schlief wirklich zu stillem Schlummer ein.

Aber immer aufs neue setzte die Sterbeglocke an. Keine Frage mehr, das galt dem Grundherrn.

Der Baron von Kannabich auf Liebenau, vulgo Onkel Nasus, liegt auf seinem weichgepolsterten Lehnstuhle regungslos und tot, wie ein anderer Leichnam. Ihm zur Seite weilt, das ernste Antlitz sorgenschwer über ihn gebeugt, Pastor Karich, der sich fruchtlos bemühte, seines alten Gönners und Freundes letzten Stunden Fassung und männliche Würde zu empfehlen. Weinend sitzen Linz und Miez in der Brüstung des Fensters, und es ist schwer zu bestimmen, ob ihre Tränen dem Tode des Vaters, ob sie ihrer eigenen schwarzumflorten Zukunft gelten.

Wer sich unmittelbar nach dem Verscheiden des Freiherrn auf ihr Zimmer begeben und dort eingeriegelt hat, ist Ottilie.

Ihrer an ihn und an die Großmutter gerichteten, nur halb verstandenen Abschiedsworte gedenkend, kniet Anton noch immer vor dem Bett seiner schlafenden Wohltäterin, und wie er jeden Atemzug der Teuren bewacht, angstvoll lauschend, ob es nicht gar der letzte sei, richtet er zugleich seine Teilnahme doch auf das Schloß hin, wo er Ottilie weiß, die, wie ihm die Glocken verkünden, einen Vater verlor. Wenn schon keinen kindlich geliebten, väterlich liebenden, doch einen Vater.

»Dort ist's auch aus«, dachte er bei sich, »vorbei für immer mit allem, was Freude heißt. Die Fräulen können das Gut nicht behaupten. Die ganze Familie stürzt zusammen. Der Verwalter schüttelt schon lange den Kopf. Aus den gnädigen Baronessen werden arme Leute, wie unsereins. Am Ende nehmen sie noch Puschel und Rubs zu Männern. Das wäre eine Geschichte! Und Tieletunke? ... Ja, die ist am schlimmsten dran. Fast so schlimm wie – ich.«

Von diesem letzten Gedanken gelangte unser betrübter Denker, mit dem die flüchtige Phantasie ohnehin gar zu gern auf und davon ging, immer tiefer ins Gebiet der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, bis er sich zuletzt in kühne, wunderbarliche Luftschlösser verirrte, in deren allerschönstem ihm der holde Schlaf – seinem häßlichen Bruder Tod so nahe – die Stirn berührte und sprach: »Hier weile und träume!«

Da lagen sie nebeneinander; die Großmutter, schon im Arme des Todes, der noch einmal die Gestalt des Schlafes angenommen, auf ihr Lager hingestreckt wie auf eine Bahre – zu ihren Füßen kniend der jugendliche Enkel, umschlungen vom Schlaf, welcher zum Bruder Tod hinüberlächelte, als wollte er ihm andeuten: »Du ahmst mich täuschend nach!«

Beide, die alte Frau wie Anton, erwachten zugleich.

Als der Jüngling, der den Tod bereits zu kennen wähnte und ihn doch nicht kannte, seiner Großmutter guten Morgen wünschte, nahm er die fromme Fassung, welche aus ihren Zügen auf ihn strahlte, für neue Lebenskraft. »Du bist besser, viel besser«, jubelte das treue Herz ihr entgegen, »der Schlaf hat dich geheilt, deine Krankheit ist gebrochen! Ganz anders schaust du darein, als heute nacht. Gott sei gelobt, du lebst und wirst noch lange leben!«

»Sicherlich, mein Sohn«, antwortet sie, »leben werde ich. Und was noch mehr, mein wahres Leben wird erst beginnen. Davon später. Jetzt geh' und gib dem Vieh draußen sein bissel Futter. Vergiß auch die Turteltaube nicht. Die ist Tieletunkes Liebling.«

Alle jene kleinen Wirtschaftsmühen, die nun Antons Fürsorge oblagen, nahmen ihn fast den ganzen Tag über in Anspruch. Er ging ab und zu, nach jeder häuslichen Verrichtung wieder einmal zur Großmutter laufend, um zu fragen, was sie wünsche und bedürfe.

Solch ein Herbsttag ist kurz. Wenn seine Sonne sich einmal zu neigen beginnt, ist sie geschwind hinab. Das gibt die schönste Feierstunde im kleinen wohnlichen Raume. Zu dieser fand sich auch Anton mit freundlichem Gesicht ein. Er nahm Platz beim Bette, so daß er der Alten gerade ins Auge sah.

Durch allerlei Staudengewächse und Blumenkram drangen Sonnenstrahlen ins Gemach, die Hälfte desselben mit ihrem Glanze festlich geschmückt. Frau Hahn lächelte blinzelnd hinein. Anton wollte den Laden schließen. Sie aber sprach: »Laß nur! Das blendet mich nicht. Ich sagte es dir ja gestern, mein grundgütiger Gott werde mich nicht in finsterer Sturmnacht abrufen! Er sendet mir sein Licht beim Ausgang aus dieser Erdenwelt. Jetzund, mein Junge, laß uns herzlichen Abschied nehmen und unterbrich mich nicht durch Jammergeschrei. Du hörst es gern, wenn sie dich einen jungen Mann heißen, zeige heute, daß du es bist. Mein Lebensöl ist ausgebrannt, die Lampe will erlöschen. Ich scheide von dir mit einer Seele voll inniger Liebe. Was ich für meinen seligen Mann, was ich für deine Mutter gefühlt, das habe ich gleichsam auf dich übertragen. Du warst mir Ehgemahl und Kind zugleich, du warst mir alles. Ich hoffe, mein Betragen hat dich dessen stets versichert. Diese Liebe nehme ich mit mir hinüber und lege sie nieder vor Gottes Thron. Aber auch meinen Dank nehme ich mit, meine Dankbarkeit für dich. Du warst immer gehorsam, sorgfältig anhänglich, du hast mich nie betrüben wollen, du bist ein fleißiger, ordentlicher Junge. Was sonst in dir rumort, deine verwunderlichen Ideen und Sachen – dafür kannst du nicht. Das ist angeboren, das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Der Hirsch ist kein Schaf, und ein Pferd kann keine Kuh werden. Es kommt nur darauf an, daß man sich einen Zaum anlegt, daß man sich beherrschen lernt. Und das wirst du lernen, mein Alter, mit den Jahren, mit der Zeit. Wenn's zu arg in dir tobt, wenn des Vaters und der Mutter Geblüte dich turbiert, dann gedenke an die Großmutter; gedenke an ihre letzten Worte. Nicht wahr, das tust du? Und noch einen Kuß gib mir, Anton, einen herzlichen Kuß, wie du mir jeden Abend gegeben, bevor du in deine Schlummerstätte gingst. Du wirst noch viele Küsse geben und empfangen; gar manches Mal werden deine Lippen an einem jungen, frischen Munde hangen; das ist schon nicht anders bei Euch nichtsnutzigen Mannsbildern, und der beste von Euch taugt nicht viel, wie mir sogar mein seliger Hahn eingestanden; ... aber kein Kuß wird so redlich gemeint sein, wie dieser letzte Kuß, den deine alte Großmutter gibt und empfängt in ihrem Todesstündlein! – – – So, so, mein armer Junge! – Laß mir deine Hand. – Und grüße mir Tieletunke, wenn du sie siehst. – Und grüße den Herrn Pastor. Ich wollte ihn nicht zu mir bemühen. Denn erstlich werden sie ihn auf dem Schlosse brauchen, und dann – ehrlich zu reden – ich brauche ihn nicht. Den einzigen Gram, den ich in meine Brust verschlossen mit mir nehme, kann der gute Mann mir doch auch nicht lösen. Im übrigen weiß ich, woran ich bin. Nein, ich fürchte mich nicht. Es stirbt sich ja so gut, die treue Hand des redlichsten Sohnes in ersterbenden Händen, wie ich die deine halte ... deine Tränen fallen sanft auf mein Antlitz, sie sind wie Morgentau. – Siehst du die Sonne sinken? Du meinst, sie schwindet? Nicht doch, sie steigt empor! Sie nimmt mich mit sich. – Ich werde die Nacht nimmer sehen. – Ich bleibe im Licht! Im Licht, mein Anton! – –«

Ihre Zunge bewegte sich noch; Worte vernahm er nicht weiter. Ein heiseres Röcheln stellte sich ein. Dieses währte nur wenige Minuten. Dann öffneten sich die schon geschlossenen Augen noch einmal, sie hefteten sich fest auf den geliebten Knaben. Ein verklärendes Lächeln zog um den tiefeingefallenen Mund, ein Seufzer blies die alten Lippen auf; ein Druck der Hände begleitete ihn. – –

Antons Großmutter war tot.


 << zurück weiter >>