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Sechsundsechzigstes Kapitel

»Der unbarmherzige Brief, den deines Vaters Mutter, die stolze Gräfin, mir gesendet, hatte meinen tiefen, demütigen Schmerz in wilden Zorn verwandelt. Mein gerechter Stolz erhob sich gegen die unwürdige Anklage, die mich hinstellte, als hätte Eigennutz mich deinem Vater in die Arme geführt. Ich eilte zu den Bildhauerleuten, um bei diesen meinem Herzen Luft zu machen und zu erforschen, inwieweit sie meine Liebe für den jungen Grafen benutzt und ihn auf meine Rechnung und in meinem Namen betrogen haben könnten. Die Leute staunten nicht wenig, da sie mich bei dem nächtlichen Unwetter eintreten sahen, und die Christine sagte mit frechem Lachen zu ihrer Mutter: »Jetzt wird der Graf auch nicht weit sein!« Ich aber rief: »Vom Grafen ist jetzt nicht die Rede, lediglich von mir und euch, und welchen Handel ihr mit mir und ihm vorgehabt. Ist es wahr, was mir seine alte, stolze Mutter schreibt?« Und nun hielt ich ihnen vor, daß sie von Guido Geld und Geschenke genommen, die für mich erbeten und bestimmt gewesen wären, fragte sie, ob sie diese Frechheit wirklich begangen hätten. Sie leugneten gar nicht. Die Bildhauerin meinte: »Wofür denn sonst hätte ich kuppeln sollen, wenn ich's nicht fürs Geld getan; und weil meine Christel dir den Junker ließ, so durfte sie wohl die Geschenke statt deiner nehmen. Etwas mußte sie doch haben!«

»Gut«, sagte ich, »wenn ihr denn schamlos genug seid, eure eigene Schlechtigkeit zu gestehen, so verhehlt die Wahrheit nicht vor der alten Gräfin; gebt mir eine Schrift, worin ihr erklärt, daß nichts von allem, was durch eure Hände ging, jemals in die meinigen kam; bestätigt mir, daß ich auch nicht die geringste Gabe, nicht das kleinste Geschenk vom Grafen Guido erhielt.« »Da müßten wir sehr dumm sein«, nahm nun der Bildhauer das Wort, »wenn wir eine solche Schrift ausstellen wollten; die könnte uns schlecht bekommen; was geschenkt ist, ist einmal geschenkt, und kein Wort mehr davon!« Zugleich wies er mir die Tür.

Christine bat, sie möchten mich bei dem furchtbaren Regengusse nicht fortschicken. Jedoch ich ging; ehe ich das Zimmer verließ, wandte ich mich noch einmal nach den drei Leuten um und schrie mit dem Jammertone meiner Verzweiflung: »Seid verflucht vor Gott und Menschen, ihr schlechtes Volk!«

Sonach taumelte ich hinaus, stieg die steile Ufertreppe empor, und wie ich auf der Brücke angelangt war und vernahm das Rauschen der steigenden Flut, hörte die Wogen anschlagen gegen die steinernen Pfeiler, und ringsumher herrschte tiefe Nacht, so überfiel mich eine rechte Sehnsucht, Ende zu machen mit diesem Leben voll Kummer und Schmach. Dich, mein Anton, wußte ich geborgen in den Händen deiner Großmutter. Und die Wellen, je höher sie anschwollen und stiegen, desto lauter schienen sie mir zuzurufen: »Finde Ruhe in unserem Schoß!« Nur die großen Eisschollen, die krachend an wankenden Holzblöcken sich brachen, entsetzten mich, daß ich nicht gleich zu springen wagte. Man hörte nichts als das Brausen des Flusses, das Rauschen des Regens, der in Strömen goß. Kein menschliches Wesen ließ in den öden Gassen sich spüren; in den Häusern verlöschten Feuer und Lichter; außer wo sie tiefer unten am Ufer wohnten, hielten sich Leute wach aus Besorgnis wegen der Flut. Nur da, wo sie es am nötigsten gehabt hätten, auf der Wache zu sein, weil sie am tiefsten gelegen waren, beim Bildhauer, machten sie Nacht; ich sah den letzten Schimmer an ihren Fenstern verlöschen und rief ihnen noch einmal meine Verwünschungen als Schlaflied von der Brücke hinab! Der Gedanke, daß sie, die mich so elend gemacht, ruhig schlafen mochten, gab mir neuen Grimm gegen mich und mein Schicksal. Ich schwang mich auf das Brückengeländer hinauf, gerade neben dem katholischen Steinbilde, das den heiligen Nepomuk darstellt. Ich umfaßte den naßkalten Johannes und schrie in ihn hinein, wie ich es oftmals aus Christines heuchlerischem Munde vernommen: »Heiliger Johannes von Nepomuk, bitte für mich!« Dies ausgerufen, nahm ich einen Ansatz und wollte mich in den Tod stürzen ... da erscholl der Klang eines Posthorns die Gasse entlang, die zur Brücke führt. Ich wußte, daß um diese Stunde kein Postwagen abging; dennoch hörte ich deutlich das Rasseln der Räder durch den betäubenden Lärm des Wassers. Ein Posthorn, bei der Nacht ertönend, hatte für mich von Kindheit auf immer etwas Verlockendes; der Trieb zu reisen, andere Länder zu sehen, verband sich dabei mit einer unbeschreiblichen Wehmut. Es war mir, wie wenn dieser alte, liebe Ton mich zurückhielte im Leben, wie wenn er mir zuriefe: »Suche den Tod noch nicht, du bist noch zu jung!« Der Postillion kam heran; es war der alte Christian, seit länger als dreißig Jahren im Dienste beim Posthalter. Ich rief ihm zu: »Christian, wohin fahrt Ihr?« »Mein Gott«, rief er, »steht ein menschliches Wesen auf der Brückenmauer bei dem Wetter, oder ist es ein Geist?« »Ich bin es«, sagte ich, »des Kantors Nettel, und wohin fahrt Ihr?« »Nicht fahren«, sprach er, »ich bin eine reitende Stafette, aber weil mein Brauner auf dem Rücken wund gedrückt ist, hat der Posthalter erlaubt, daß ich in die Briefkarre einspanne; ich muß schnell fahren – reiten wollte ich sagen – denn ich soll rascher in G. sein wie das große Wasser, weil ich's ihnen unten anmelden soll, daß es kommt, und im Briefe vom Herrn Landrat steht's auch geschrieben, daß sie's weiter hinunter melden lassen, ins flache Land hinein. Aber Nettel, was wollen Sie beim heiligen Nepomuk? Sie haben gewiß schlechte Gedanken!«

»Ja, Christian, die habe ich: rette mich, nimm mich mit dir!«

Und ich sprang zu ihm auf seine Karre, der Braune griff aus, wir flogen in die Nacht, in den Tausturm und die Regengüsse hinein.

Mir war eingefallen, daß über G. der Weg nach Erlenstein führt, wo Guidos Eltern hausten. Zu denen trieb mich mein beleidigtes Ehrgefühl. Seiner Mutter wollte ich die Antwort auf ihre schriftlichen Anklagen und Verleumdungen mündlich bringen; dann erst wollte ich sterben.

Als wir vor dem Tore von G. anlangten, ließ der alte Christian mich absteigen. Ich war so durchnäßt und meine Kleidung so feucht und schwer, daß sie mich fast daniederzog. Christian versprach, der Mutter Nachricht von mir zu geben, ihr zu sagen, wohin ich gegangen, und daß ich beizeiten heimkehren wolle. Er hat sein Versprechen nicht erfüllen können; denn auf dem Rückwege nach N. ist er an einer tiefen Stelle der Straße, die schon unter Wasser stand, als wir kamen, samt seinem Braunen ertrunken. Die Kunde von diesem Unglücksfall gelangte nach G., bevor ich es verließ. Ich hatte daselbst ein Unterkommen für die Nacht gefunden, wo ich mich wärmen und Wäsche wie Kleider trocknen durfte; es war in der Vorstadt bei einem Gerber namens Karich. Er und seine Frau hatten Mitleid und Erbarmen für mich, obgleich sie nur einiges von meinem traurigen Schicksal durch mich erfuhren. Sie nahmen teil an einer Familie, die durch ihr Kind Kummer erlebte, da ihr Sohn ihnen auch Kummer machte; er war vor einigen Jahren entlaufen, und die armen Eltern hatten nichts mehr von ihm vernommen. Der Vater beklagte fast noch mehr als den Verlust des Sohnes die Schande, die derselbe über seinen Namen gebracht. »Meinen Bruder, den Herrn Pastor«, rief er weinend aus, »den trifft es gar zu hart!« Er meinte niemand anders als den guten Prediger in Liebenau, welcher dir, mein Anton, späterhin Unterricht erteilte. – Wie doch die verworrenen Fäden irdischer Schicksale so häufig von einem Vereinigungspunkte ausgehen, ohne daß wir selbst es wissen! Und wie sie nach langer Sonderung sich dann wieder zusammenfinden, ohne daß wir es ahnen. Du sollst weiter lesen.

Der niedergebeugte Mann hatte bei seinem eigenen Gram immer noch Teilnahme für den Gram anderer. Deshalb hielt er mich in seinem Hause fest, bis das Unwetter einigermaßen ausgetobt; seine Frau versorgte mich mit reiner Wäsche, und er geleitete mich dann am dritten Tage selbst auf den Weg nach Schloß Erlenstein.

Unterwegs vernahmen wir schon die Zerstörungen, die das rasende Wetter in N. angerichtet; ein reisender Bilderhändler, der Heilige und Rosenkränze verkaufte, erzählte mir, wie das Bildhauerhäuschen von Fluten und Eisschollen zerstört worden sei, wie die Bewohner umgekommen wären und samt ihnen die Tochter des ehemaligen lutherischen Kantors, die solche Strafe des Herrn für ihre Ketzerei auf die unschuldigen Bildhauerleute herabgerufen.

Du kannst denken, was deine Mutter dabei empfand.

Nachdem der arme Gerber Karich einige Meilen mit mir gegangen war, übergab er mich der Fürsorge eines hausierenden Glasers, der von Ort zu Ort zog, um zerbrochene Fensterscheiben herzustellen, den er als ehrlichen Mann kannte und den sein Weg in die Nähe des Schlosses führte. Neben diesem wandelte ich, voll Dank im Herzen für den ehrlichen Karich, schweigend und ernst dahin. Er keuchte unter der Last seines schweren Kastens mit Glasplatten; mich bedrückte die Last, die auf meiner Seele lag. Gegen Abend wies der Glaser mit seinem Stabe in einen langen, offenen Waldweg, der aus dem dunklen Grün der Nadelhölzer ins Freie führte, und sprach: »Dort liegt das Schloß!« Man sah Lichter aus der Ferne herüberschimmern. Er ging geradeaus – ich bog in den Seitenweg ein. Je näher ich dem prachtvollen Gebäude kam, desto verzagter wurden meine Schritte; endlich blieb ich gar stehen. Ich überlegte mir noch einmal recht genau, was ich sagen wollte, und weil ich dabei die ganze Geschichte meines Jammers in Erinnerung durchmachen mußte bis auf den kürzlich empfangenen Brief der alten Gräfin, fand ich meinen gerechten Zorn, mit diesem auch meinen Mut wieder. Ich gelangte durch zerstreute Gärten und Häuser, in denen gräfliche Beamte zu wohnen schienen, bis in eine Art von Vorhof, dessen eiserne Gitter noch offen standen. Große Hunde sprangen mir entgegen, aber ehe ich noch Zeit gewann, meine entsetzliche Furcht vor diesen ungeheuren Tieren durch einen Angstschrei kundzugeben, schmiegten sie sich schon an mich und zeigten sich so zärtlich, daß mir alle Angst verging. Sie führten mich gleichsam, während sie bald voranliefen, bald wieder zurückkehrten und an mir emporsprangen, wodurch sie mich fast zu Boden geworfen hätten, bis an eine mit Säulen umgebene freie Marmortreppe, deren breite Stufen zum Haupteingang zu führen schienen. Oben an der offenen Haustür stand ein Diener in Livree. Ich zögerte, weiterzugehen. Ein schwarz gekleideter Mann mit gepudertem Haar trat zu dem Diener und fragte: »Was gibt's?« »Eine Bettlerin, Herr Haushofmeister«, war die Antwort. Dieser Irrtum regte mich auf. »Nein, keine Bettlerin«, sagte ich, »wenn auch eine Bittende.«

»Gleichviel«, erwiderte der Haushofmeister, »kommen Sie nur herauf!«

Ich folgte dieser freundlichen Aufforderung, wurde gemeldet und ohne Aufschub in ein Vorzimmer gerufen, wo der Haushofmeister mich warten hieß, bis die Frau Gräfin erscheinen würde. Es brannte helles Feuer in einem hohen Kamin, wodurch das große Gemach insoweit erleuchtet ward, daß man die Züge des Gesichts notdürftig unterschied, mehr nicht. Der alte Mann warf mir forschende Blicke zu, schien aber doch nicht recht klar zu sehen, denn er zeigte sich ungeduldig, bis ein Lakai mit etlichen Armleuchtern eintrat. Darauf wurde ich von oben bis unten betrachtet, und ich merkte dem Beobachter an, daß er für sein Leben gern mich über den Zweck meines Hierseins ausgefragt hätte, was er aber nicht wagte, weil es ihm wie allen anderen Dienern des Hauses streng untersagt war. (Das erfuhr ich später beim Gärtner.) Fast entschlossen, seiner Neugier zuvorzukommen, wollte ich mich ihm entdecken, da kam der Lakai zurück, öffnete rasch die zwei Flügel einer Seitentür und rief dem Haushofmeister zu: »Die Exzellenzfrau.« Und nun erblickte ich sie, die Mutter deines Vaters, Anton! Die gefürchtete, stolze, herzlose Frau, die ich zu finden erwartet hatte, wie ihr Brief sie mir im Geiste gezeigt: majestätisch, kalt, vornehm, in seidenen Gewändern einherrauschend, unzugänglich für den Armen, unerbittlich! Doch was erblickten meine Augen? Eine etwas gebückte, mehr kleine als große, freundliche Dame von etwa fünfzig Jahren, einfach und schlicht gekleidet in ein graues Gewand, um Kopf und Schultern einen schwarzen Spitzenschleier hängend, wie man es häufig auf alten Bildern sieht. »Was willst du, mein armes Kind?« sagte sie, nachdem sie mich mit einem Winke der Hand begrüßt. Diese im sanftesten Tone an mich gerichtete Frage, der Gedanke, daß es Guidos Mutter sei, die mich »mein Kind« anredete, ich sank zu ihren Füßen und ergriff ihre Hand, sie zu küssen. Diese entzog sie mir heftig und murmelte dabei: »Nicht knien, hübsch aufstehen und ruhig mit mir reden; ich liebe solche Szenen nicht, sie erwecken mir Argwohn, als ob ich's mit Komödianten zu tun hätte. Dein ehrliches, blasses und verkümmertes Gesicht wird besser zu meinem Herzen sprechen wie Fußfälle und solche Albernheiten. Sage mir, was du bei mir suchst.«

»Gerechtigkeit«, erwiderte ich.

Die Gräfin trat einen Schritt zurück, gleichsam ahnend, wer ich sein könne. Sie mußte sich erst fassen, bevor sie wieder zu reden vermochte. Dann fragte sie weiter: »Bei mir? Und gegen wen?«

»Gegen die Mutter des Grafen Guido«, sprach ich bescheiden, doch fest; »gegen ihre grausamen Vorwürfe, die ich nicht verdiene.«

»So ist Sie die Kantorstochter?« sagte die Gräfin.

Und der Haushofmeister, näher zutretend, sprach: »Ich habe mir's gedacht, Exzellenz.«

Der Lakai war nicht mehr im Zimmer.

»Sie muß überaus frech sein«, hob die Gräfin wieder an, »oder Sie muß ein sehr gutes Gewissen haben, daß Sie sich bis zu mir wagt. Rede Sie, ich will Sie hören.«

Nun machte ich Gebrauch von dieser Erlaubnis im weitesten Sinne des Wortes. Von dem ersten Blicke, den dein Vater mit mir gewechselt, wo ich im Oratorium gesungen, bis zu meinem nächtlichen Besuche im Bildhauerhäuschen, wo ich die schlechte kupplerische Sippschaft verflucht und Gottes Strafe über sie herabgerufen, stellte ich der Gräfin das aufrichtigste Bild meines Lebens dar. Als ich an die Kunde kam, wie fürchterlich rasch mein Fluch in Erfüllung gegangen, und wie die Familie unter den Trümmern des Hauses, welches meine Schande auferbaute, durch die Flut umgekommen sei, bebte die Dame und verbarg das Gesicht in beide Hände. Wir schwiegen lange Zeit. Ich hörte den alten Haushofmeister leise schluchzen. Erst als ich diesen Ausbruch gerührten Mitgefühls vernahm, fand auch ich eine Träne.

Die Gräfin weinte nicht. Sie ergriff wieder das Wort: »Du lügst nicht, Antoinette, das ist gewiß. Sage mir jetzt offen und ehrlich: Hat er dir die Ehe versprochen, bevor er dich verführte?«

Ich antwortete: »Vorher und nachher, Euer Exzellenz, so wahr ein Gott lebt.«

Abermals bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen und jetzt weinte sie auch. »Ich habe dir unrecht getan, Mädchen, ich bitte dich um Verzeihung. Leider trage ich keine Schuld. Leider! Ich möchte sie lieber auf mich nehmen anstatt dir sagen zu müssen, daß Graf Guido mich getäuscht hat. Mein Schreiben an dich war nur die Folge seiner falschen, entstellenden Erzählungen. Die Mutter kann jetzt nichts mehr tun: Deine Sache gehört jetzt vor die Männer. Du magst entscheiden, ob ich meinen Gemahl zum Richter aufrufen soll. Ich will dir nicht verschweigen, daß er krank, sehr krank ist; daß die Ärzte für sein Leben fürchten. Er ist aber auch heftig und streng; er ist gerecht und im Punkte der Ehre unerschütterlich. Hat unser Sohn dir sein Wort gegeben, so wird der Vater ihn nicht davon entbinden. Das schwöre ich dir! Es wird meines Gatten Tod sein, – doch das kann auch mich nicht hindern, dir dein Recht werden zu lassen. Höchstens kann ich mit ihm sterben, und das will ich gern. Bestimme du, was geschehen muß!«

Ich sagte nichts weiter als: »Graf Guido hat zu bestimmen, nicht ich!«

»Ruft meinen Sohn, Haushofmeister; – oder nein, laßt ihn rufen. Ihr bleibt hier und seid Zeuge von jeder Silbe, die zwischen ihr und mir gewechselt wird.«

Der Haushofmeister zog eine Glocke, ein Diener trat ein.

Die Gräfin befahl, ihren Sohn aus seinen Gemächern herabzurufen.

Während wir ihn erwarteten, ging sie mit verschränkten Armen raschen Schrittes in dem großen Gemache auf und ab.

... Ich sollte ihn sehen! ...

Wie ich seine Sporen klirren hörte, fing ich an zu zittern; ich meinte, ich müsse umsinken. Der Haushofmeister wollte mich stützen, doch die Gräfin wies ihn von mir, faßte meinen Arm, führte mich dem Eingange zu, und als dein Vater eintrat, rief sie ihm entgegen: »Guido, wer hat mich betrogen, du oder dieses Mädchen?«

Dein Vater, mich an seiner Mutter Seite erblickend, schien einen Augenblick zweifeln zu wollen, ob Wirklichkeit sei, was er sah. Doch die Gräfin wiederholte ihre Frage noch eindringlicher und drohender, wie zuvor:

»Ich will wissen, wer gelogen; sie oder du?«

»Ich, meine Mutter«, erwiderte dein Vater mit niedergeschlagenen Augen.

»Dann habe ich fürs erste nicht mitzusprechen, und Ihr beide müßt eure Sache miteinander abmachen.« Wie sie dies gesagt, ließ sie sich vom Haushofmeister einen Sessel zuschieben, und in diesem Platz nehmend, wendete sie sich an mich, indem sie auf den grauköpfigen Mann deutete: »Vor ihm haben wir kein Geheimnis, er gehört zum Hause, hat schon meinem seligen Vater gedient.«

Guidos Niedergeschlagenheit war so traurig anzusehen, daß ich dabei fast meines eigenen Elends vergaß und nur Mitleid empfand für ihn. Ich machte ihm also gar keine Vorwürfe, sondern fragte nur, warum er mich bei seinen Eltern in ein falsches Licht gestellt und die Reinheit meiner Liebe für ihn durch unbegründeten Argwohn niedrigen Eigennutzes befleckt habe.

»Das war niederträchtig von mir«, gab er zur Antwort, »und ich schäme mich meiner feigen Lüge. Rechtfertigen kann ich mich nicht, aber ich will jetzt wenigstens die Wahrheit eingestehen. Seitdem ich mich von dir getrennt, habe ich erfahren, daß meine Empfindung für dich nichts anderes gewesen ist als jugendliche Täuschung der Sinne; ich habe jetzt erst die wahre Liebe in ihrem ganzen Umfange kennen gelernt. Die junge Dame, welche ich mit Bewilligung ihrer und meiner Eltern Braut nennen darf, wäre niemals die meinige geworden, wenn mein Vater geahnt hätte, daß frühere Versprechungen und Gelübde auf mir lasten. So adelsstolz mein würdiger Vater immer sein mag, stehen doch sein Gerechtigkeitssinn und sein Ehrgefühl über seinem Stolze. Er würde mir, wenn er gewußt, wie niederträchtig und falsch ich an dir handelte, Antoinette, nur freigestellt haben, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen oder dich zum Altar zu führen. Meine Liebe für Komtesse Julie ist so rein, so innig, so unbesieglich, daß ich, nachdem einer deiner Briefe in meines Vaters Hände fiel, mir keinen anderen Rat wußte, als dies Verhältnis zu dir wie eine flüchtige, leicht erkaufte Liebelei darzustellen, für die man geneigt war, mir Verzeihung zu gönnen. Das konnte nicht geschehen, ohne dich schmählich zu verleumden: das habe ich getan. – Du kommst, dich zu rächen? Tue es. In deiner Macht liegt es, meines Lebens und meiner Liebe Glück zu vernichten. Folge deinem gerechten Zorn. An meinem Leben liegt mir nichts ohne Julie; meine Liebe zu dieser kann nur mit meinem Leben erlöschen.«

So sprach dein Vater.

Sobald ich erst wußte, daß ich nicht geliebt sei, fand ich mich selbst wieder. Ich war, für den Moment wenigstens, vollkommen ruhig. »Hätten Sie, Herr Graf«, sagte ich, »sich die Mühe geben wollen, mir dies Bekenntnis schriftlich abzulegen, so würden Sie mir einen beschwerlichen Weg, Ihrer Exzellenz eine schlimme Stunde und sich selbst eine große Beschämung erspart haben. Ich kam durch Sturm, Regenströme und Nacht hierher, weil ich wähnte, Ihr Herz gehöre mir, und es werde Ihrem Herzen wohltun, die Geliebte wider kränkenden Argwohn gerechtfertigt zu erblicken. Da Sie mein Ankläger waren, – gegen wen möchte ich mich jetzt noch rechtfertigen? Sie wollen mich los sein? Ihr Wunsch ist erfüllt. Da Sie mich nicht lieben, sind Sie frei! Ich wende Ihnen auf ewig den Rücken, und verflucht sei ...«

Hier fuhr die alte Gräfin schreiend von ihrem Sessel auf. Sie gedachte meiner vor wenigen Minuten vernommenen Erzählung, wie mein Fluch an den Bildhauerleuten in Erfüllung gegangen.

Mit gefalteten Händen beschwor sie mich, innezuhalten.

Ich sagte zu ihr: »Fürchten Sie nichts, Frau Gräfin; nicht Ihrem Herrn Sohne, nicht Ihrem Hause sollte es gelten. Verflucht sei, wollte ich ausrufen, die Stunde, wo Sie mir gesagt, daß Sie mich liebten; verflucht die Stunde, wo ich eitel genug war, an Ihre Liebe zu glauben, an Ihr Herz, an Ihr Wort! Das wollte ich Ihrem Sohne zurufen. Aber der Fluch sollte auf mich, auf mein eigenes Haupt zurückfallen. Und mit diesem Fluche belastet, verlasse ich das Schloß, nicht um in unsere Hütte, in unsere Heimat zurückzukehren. Ich sehe die Meinigen nicht mehr wieder, mein Kind nicht wieder –«

»Dies Kind, sein Kind, es soll das meinige sein«, sprach die Gräfin; »ich will Sorge tragen –«

»Das werden Sie nicht«, unterbrach ich sie fest; »Sie werden nichts für dieses Kind tun. Aus Ihren Händen wird ihm keine Gabe zugewandt werden. Ich, ich, seine Mutter untersage das. Ehe ich dulde, daß Sie sich des armen Geschöpfes annehmen, eher stirbt es durch mich

Schaudernd wandte sich die Gräfin ab. Dein Vater warf sich zu ihren Füßen ...

Ich ging; ich ging, kräftig durch meinen Zorn, mit hoch aufgerichtetem Haupte aus diesem Gemach, aus der Vorhalle des Schlosses. Draußen begrüßten mich wieder die großen Hunde; sie geleiteten mich freundlich bis an das eiserne Gitter. Dort kehrten sie um, und ich war allein.

Ich starrte lange in die fliegenden, zerrissenen Wolken, die der Abendwind vor sich her trieb; starrte hinein, ohne zu denken. Mein erster Gedanke war, da mir wieder Gedanken kamen, an dich, Anton! Ach und daß ich es dir eingestehen muß, ich fühlte Haß gegen dich! Das Bild deines Vaters vermischte sich in meiner Seele mit dem deinigen. Verzeihe mir, Anton!

Was ich wollte? Was ich beginnen sollte?

Ich wußte es selbst nicht. Ich wußte nur, daß ich entschlossen sei, nie mehr heimzukehren, nie mehr meine Eltern, nie mehr mein Kind zu sehen. Ich schämte mich, eingestehen zu müssen, daß er mich verraten, verlassen habe; daß sein freier Wille, nicht seiner Verhältnisse Zwang ihn von mir geschieden. Ich hatte keinen Willen sonst, keine Absicht, keinen Wunsch, keine Hoffnung, ... nur ein Bedürfnis empfand ich, ein unabweisliches: die junge Gräfin, seine Braut, zu sehen, die er Julie nannte, die ihn belehrt, was wahre Liebe sei!

Warum? Warum ich sie sehen wollte? Um, einem wilden Tiere ähnlich, wütend in ihr Antlitz mich zu stürzen und ihr die Augen auszureißen, die meinem Verderben geleuchtet? – Oder um ihre Knie zu umfassen, mich im Staube vor ihr zu winden? Fast galt beides mir gleich, wenn ich sie nur sah!

Während ich noch stand, kam ein kleiner, freundlicher Mann auf mich zu, ging einigemal um mich herum und flüsterte mir dann zu: »Sie sind's ja doch, Mamsellchen, die ich suche; der Herr Haushofmeister schickt mich, daß ich nach Ihnen sehen soll und Sie in mein Häuschen führen; wir kriegen noch schlechtes Wetter auf die Nacht. Ich bin der Gärtner.«

Er faßte meine Hand, und ich ließ mich ohne Widerstand von ihm nach seiner Wohnung führen, wo eine kleine Frau, noch viel kleiner als er, uns empfing, und auf ein leise gesprochenes Wort von ihm mir sogleich ein Kämmerchen neben ihrem niederen, von altem Geräte überfüllten Wohnstübchen anwies. Es wurde mir ein Lager zurechtgemacht, sie brachten mir eine warme Weinsuppe, und nachdem die kleine Frau mich auch mit Wäsche versehen, zog sie sich eiligst zurück in ihr Gemach, wo ich sie mit ihrem Mann lange noch eintönig plaudern und murmeln hörte. Aus dem mir angewiesenen Kämmerchen führte noch eine andere Tür als jene, durch welche wir vom Wohnzimmer hereingekommen waren, eine Glastür. Ich blickte durch die Scheiben und sah in ein großes, unermeßlich langes Orangenhaus mit einem hoch zur Decke grünenden Wald von Zitronen- und Pomeranzenbäumen. Draußen kämpfte der bleiche Mond mit bleichen Regenschauern und streifenden Schneewolken, – da drinnen war es so still, so heimlich, so blütenduftig. Es zog mich hinein wie in ein gelobtes Land. »Das ist Italien«, rief ich aus und wandelte unter den herrlichen Bäumen. Der Mond schimmerte bisweilen durchs dunkelgrüne Laub.

Ich habe mir vorgesetzt, dir, meinem Sohne, eine Beichte abzulegen in diesen Zeilen, dir nichts zu verschweigen, Anton! Deshalb muß ich auch hier die Wahrheit gestehen. Sie wird dir unglaublich scheinen.

Kannst du es fassen, daß in meine Verzweiflung, in die Vernichtung, die vor einer Stunde über mich hereingebrochen, jetzt schon neue Lebenslust mit nie geahnten Hoffnungen und Regungen blickte, – dem Monde gleich, durch zerrissenes Gewölk? Ja, indem ich verstoßen, elend, heimatlos, ein irrender Flüchtling umherschwankte; vom Geliebten verleugnet, von den Eltern geschieden durch meinen trotzigen Entschluß, von meinem Kinde unmütterlich getrennt durch sträflichen Ingrimm; indem ich nur Mangel, Gefahr, Tod vor mir sah, wehte mich aus den Düften dieses Prachthauses eine üppig verlockende Luft mit Zauberhauch an, rief mir eine lüsterne Stimme zu: »Auch du wirst noch leben und lieben!«

Das ist der entzückende Leichtsinn der Jugendkraft, der mich damals durchströmte; den ich heute, wo ich, ein sterbendes Weib, diese Zeilen mühselig zu Papier bringe, selbst nicht mehr begreife. Doch seiner zu erinnern vermag ich mich noch; vermag ich mich noch so deutlich, daß ich sagen möchte: diese fürchterlichste Nacht meines Lebens war zugleich die göttlichste. Das klingt wahnsinnig, Anton, und dennoch ist es wahr.

Erst als ich vor Ermattung, im strengsten Sinne des Wortes, nicht mehr stehen konnte, suchte ich mein Lager auf und versank sogleich in todähnlichen Schlaf; und als ich aus diesem spät am Tage aufwachte, war die nächtliche Bezauberung verschwunden; ich erwachte zum ganzen, unverhüllten Jammer der Wirklichkeit.

Die Gärtnerleute schienen beauftragt, mir allerlei Anerbietungen zu machen. Ich wußte ihnen auszuweichen und wies jede Annäherung, insofern sie goldene Entschädigungen betraf, so stolz von mir ab, daß ich beide gänzlich einschüchterte. Dagegen wurde es mir leicht, den ehrlichen, gutmütigen Menschen abzufragen, wo deines Vaters Braut lebe. Es war nicht weit von Erlenstein, kaum drei Meilen entfernt. Nun wußte ich genug, und ich machte mich auf den Weg, verwildert und wüst, wie ich aussah, eine rechte Landläuferin. Der kleine Gärtner und seine Frau wagten nicht, mir Widerstand zu leisten. Sie entließen mich mit Achselzucken und Tränen, als wollten sie sagen: »Sie rennt in ihr Verderben, sie ist verrückt!«

Ich langte in Sophienthal wieder mit der Abenddämmerung an. Das Dorf besteht aus einer langen Gasse, in deren Mitte die Kirche liegt. Das herrschaftliche Schloß, mitten in einem waldartigen Park befindlich, war nicht zu erblicken. Vor einem hübschen Hause, der Kirche gegenüber, stand eine junge Frau, welche, da sie mich erblickte, mir schon von weitem entgegenrief: »Sind Sie es, Gräfin Julie?« Ich gab keine Antwort. Als ich mich näherte, wich sie erschrocken zurück. Ich glaubte in ihr die Gattin des Predigers zu erkennen, weil sie das stattlichste Haus und so nahe der Kirche bewohnte; deshalb redete ich sie an: »Frau Pastorin, fliehen Sie nicht von mir, es ist keine zudringliche Bettlerin, die vor Ihnen steht. Gönnen Sie mir nur zwei Worte.«

Augenblicklich faßte sie wieder Mut, sowie sie meine Stimme vernommen. Sie betrachtete mich erstaunt und fragte, womit sie mir dienen könne.

»Mein Wunsch mag Ihnen albern erscheinen wie mein Erscheinen verdächtig. Dennoch wage ich, Sie zu bitten. Wer ich bin, was mich hierher führt, – und so, und jetzt, – das sind Fragen, die nur mich berühren, die Ihnen durchaus gleichgültig sein können. Ich habe nur ein Ziel: dieses ist, jene junge Dame von Angesicht zu sehen, welche Sie zu erwarten scheinen. Gestatten Sie mir, bei Ihnen zu verweilen, bis Gräfin Julie kommt? Versprechen Sie mir, mich als eine Verwandte, die Ihnen unerwartet auf kurzen Besuch von irgendwo ins Haus kam, vorzustellen? Geben Sie mir Gelegenheit, die Komtesse reden zu hören? Sie erweisen mir dadurch eine große Wohltat, eine Wohltat, von deren Bedeutung Sie keinen Begriff haben können! Mir und vielleicht der jungen Gräfin auch. Ja, blicken Sie mich nur forschend an! Sie sind eine Freundin Julies?«

Die Pastorin sprach angstvoll: »Ich liebe sie wie eine Schwester, verehre sie wie eine Mutter! Droht ihr Gefahr?«

»Vielleicht«, erwiderte ich rasch. »Vielleicht hängt ihr Schicksal an diesem Augenblick. Vielleicht bin ich es, wie arm und bemitleidenswert ich Ihnen erscheine, die über die Zukunft dieser jungen, reichen Erbin zu entscheiden hat. Alles hängt von dem Eindruck ab, den ihre Persönlichkeit auf mich macht. Ist es ein abstoßender, verletzender, spricht aus ihren Zügen kein Herz, aus ihren Worten keine Seele, dann stehe ich für nichts; ebensowenig, wenn ich sie nicht kennen lerne; denn ich hasse sie aus guten Gründen, ohne sie zu kennen. Sie müßte mich erst zwingen, sie zu lieben, damit ich liebend ihr weiche! –«

Die Pastorin ahnte vielleicht, welch ein Dämon mich treibe. Sie hatte wohl gar Kunde von meinem Dasein. Das weiß ich nicht. Aber so gewiß war sie ihrer Sache, daß sie augenblicklich auf meinen Vorschlag einging. »Treten Sie ein«, sagte sie, »mein Mann ist glücklicherweise verreist; Komtesse Julie will, wenn sie mit einigen Krankenbesuchen im Dorfe fertig ist, auf ein Stündchen zu mir kommen. Ich erwarte sie hier. Sie mögen uns im Wohnzimmer erwarten. Ordnen Sie Ihr Haar, nehmen Sie mein Mäntelchen um, das auf dem Bette liegt, setzen Sie sich mit meiner Strickerei ans Fenster. Sie sind meines Oheims Tochter, Luise; sind ein schüchternes Mädchen, verlegen, ohne viel Worte; besuchen mich auf einen Tag, – für das übrige wird der liebe Gott sorgen.« –

Ich schlüpfte ins Haus und tat, wie mir geboten. Kaum saß ich, den Strickstrumpf in der Hand, auf dem mir angewiesenen Platz am Fenster, so ging die Tür auf, und die Pastorin trat ein mit der Erwarteten, – Gefürchteten. Wahrscheinlich hatte mich die Beschreibung, welche von »Muhme Luise« schon draußen im Hausflur gemacht worden, jeder Annäherung seitens der jungen Gräfin überhoben. Sie nahm Platz neben ihrer Freundin auf dem Sofa, nachdem sie mich freundlich begrüßt und weiter nicht beachtet hatte. Ohne sich durch meine Anwesenheit stören zu lassen, setzte sie das Gespräch mit der Pastorin fort, das nur Armenangelegenheiten des Dorfes betraf. Sie sagte unter anderem: »Ich kann Ihnen das alles nicht ersparen, liebe Auguste, und Sie müssen mich geduldig anhören; vielleicht ist die Zeit nicht fern, – hier bebte die sonst so feste, klare Stimme ein wenig! – wo ich mein liebes Sophienthal verlasse. Wer weiß, wie oft oder wie selten es mir vergönnt sein wird, aus den neuen, größeren Kreisen, in denen ich mich künftig bewegen soll, hierher zu entfliehen! Aber meine Schützlinge, wenn sie mich auch bisweilen vermissen werden, wie ich hoffe, sollen darum doch nichts entbehren, und Sie, gute Auguste, haben mir nun einmal versprochen, für mich einzutreten. Folglich darf ich Ihnen kein Detail erlassen.«

Und nun ging sie mit bewunderungswürdiger Kenntnis aller kleinen häuslichen Bedürfnisse auf die Zustände der armen und kranken Familien ein, denen sie ihre Fürsorge geweiht. Ich kann dir nicht mit Worten ausdrücken, Anton, welche Macht in dem Klange ihrer Stimme lag. Ich lauschte jeder Silbe mit Entzücken und vergaß völlig, daß es meine beneidete, zwiefach beglückte Nebenbuhlerin sei, die solches Entzücken in mir hervorbrachte. Zweimal wollte die Pastorin aufstehen, um Licht zu holen, die Gräfin untersagte dies und lobte die Anmut der traulichen Dunkelstunde. Schon befürchtete ich, sie würde aufbrechen, ohne daß ich ein deutliches Bild von ihr mit mir nehmen könnte. Aber da brachte glücklicherweise eine Magd mit der Meldung, daß ein Diener vom Schlosse »auf die gnädige Komtesse« warte, zwei dicke, brennende Kerzen, die sie auf den Tisch vor dem Sofa stellte. Nun hatte ich den ganzen Anblick einer Schönheit, wie ich sie auf Erden nicht für möglich gehalten. Ich kann sie nicht anders bezeichnen, als durch: Verklärung! Wenn es jemals ein weibliches Wesen gab, dem nur zwei Seraphsfittiche fehlten, um ein reiner, strahlender Engel zu heißen, so war es diese Julia. Sie sehen und im Innersten empfinden, daß diesem Wesen gegenüber jede eitle Eifersucht Verbrechen sei, – das war eins. Ich hatte nur ein Gefühl, wenn Guido vielleicht eine bessere, klügere, mehr gebildete Gattin verdiente, als ich ihm hätte werden können, so verdiente dieses Mädchen einen anderen Gatten: ihrer war er nicht würdig, das mußte ich mir eingestehen, wie heiß ich ihn auch geliebt. Ich habe niemals ein solches Weib gesehen, und als ich sie nun sprechen sah! – Als dem seelenvollen Tone, der mich während der Dunkelstunde schon begeistert, jetzt auch die lieblichen Züge entsprachen, des Auges mildes Feuer, des zartgeformten Mundes Lächeln, da mußte ich wohl an mich halten, daß ich nicht wirklich vor ihr niedersank, ihre Knie zu umfassen. Sie wünschte mir mit holdseliger Güte glückliche Reise und ging am Arme der Pastorin. Welch ein Gang! So gehen irdische Menschen nicht! –

Wie die Hausfrau zu mir wiederkehrte, fand sie mich in heißen Tränen. Sie hatte zarten Sinn genug, zu schweigen und mich weinen zu lassen. Dann bot sie mir ein Nachtlager. Das nahm ich an und bat um Feder und Papier, welche die Magd mir brachte. Ich schrieb folgende Zeilen:

Graf Guido!

Gräfin Julia habe ich gesehen: – Sie sind gerechtfertigt. Ich begreife, daß mich nicht mehr lieben kann, wer eine Luft mit ihr geatmet.

Sie haben mein Lebensglück zerstört: Gott verzeihe Ihnen! Ich vermag es nur dann, wenn Sie von nun an keinen anderen Gedanken hegen, als diejenige glücklich zu machen, die sich Ihnen geben will. Darf ich dies glauben, so sterbe ich versöhnt mit Ihnen.

Antoinette.

Dieses Blatt gab ich am nächsten Morgen der Pastorin, nachdem sie es erst gelesen, und ich es hernach versiegelt, zur Besorgung an den Grafen Guido von Ellenstein.

»Wollen Sie sich umbringen?« fragte mich, bleich vor Schreck und Angst, die zitternde Frau.

»Ich will weder in einen Fluß springen«, entgegnete ich ihr, »noch ein Messer in meine Brust bohren, noch dies Tüchlein um meinen Hals schnüren, noch sanft gewaltsam meinem erbärmlichen Leben ein Ende machen; das darf ich Ihnen geloben. Nicht weil mir die Lust dazu fehlt, – nein, nur der Mut. Aber ich will weiter ziehen und mich sterben lassen – sei's wo es sei. Fragen Sie nicht, wohin ich mich wende! Ich weiß es nicht. Die Erde ist groß, und überall, wo ein Sterblicher endet, findet sich ein Grab. Gott segne Sie – und er segne – Julie!«

Die Pastorin küßte mich auf die Stirn, und ich verließ ihr Haus.

*

Ich bin bis hierher sehr ausführlich gewesen mit meinen Bekenntnissen. Teils weil ich dir deutlich darstellen wollte, mein treuer Anton, wie es geschah, daß der Entschluß, für tot zu gelten, so feste Wurzel in mir fassen konnte; teils weil ich dich hinweisen wollte auf jenes himmlische Wesen, das deinem Vater Gattin wurde, und durch dessen Vermittlung, – das ist's, was mich auf meinem Sterbelager mit tröstender Zuversicht erfüllt, – du dich mit ihm vereinigen kannst.

Von nun an werde ich eilen müssen, will ich ans Ende dieser Schilderung gelangen, bevor mein Ende mich erreicht.

Von jenem auflodernden Lebensmute, der in der duftigen Nacht des blühenden Glashauses sich hat regen wollen, war nichts mehr übrig geblieben. Meine Eitelkeit, mein Selbstvertrauen hatten, Gräfin Julie gegenüber, einer trostlosen Entsagung weichen müssen. Mit ihr verglichen kam ich mir niedrig, unerzogen, gemein vor. Fragst du, ob ich in Wahrheit die Absicht gehegt, »mich sterben zu lassen«, so kann ich heute keine bestimmte Antwort mehr darauf erteilen. Ich fürchtete den Tod, dennoch wäre er mir willkommen gewesen. Ich haßte das Leben, dennoch knüpfte ich von Stunde zu Stunde wieder unklare Hoffnungen an seine Fortdauer. Fürs erste eilte ich nur heftigen Schrittes, aus dem Bereiche jener Orte zu gelangen, deren Bewohnern ich für eine Abgeschiedene gelten wollte; das war mein nächster Wunsch. Ich hatte ein unbestimmtes Vorgefühl, daß es anderer Gegenden bedürfe, sollte ich ein neues Dasein beginnen, fremden Himmels, fremder Sitten, eines fremden Namens für mich. Die Kantortochter, die Geliebte des Grafen Guido, die Mutter des kleinen Anton (o, ich bedauernsweites Weib!) mußte wirklich gestorben sein, allen, die von ihr wußten, wenn dasjenige, was in mir noch lebendig waltete und strebte, sich auf irgend eine Art geltend machen wollte.

Mittlerweile war ich der Landesgrenze immer näher gekommen. Von der Notwendigkeit eines schriftlichen Ausweises über meine Person hatte ich ebensowenig Kenntnis, als du, mein Sohn, gehabt, da du bei der Simonelli anlangtest, wie ich aus deinen eigenen Erzählungen weiß. Du konntest, wenn du mir von deinem Leben berichtetest, wohl nicht ahnen, mit welch eigentümlichen Empfindungen die Mutter allen Momenten lauschte, wo das Schicksal des Sohnes Ähnlichkeit mit dem ihren hatte.

Mir wurde es nicht so gut, den Platz einer Entwichenen zu erben, wie du jenen des nach Rußland übergetretenen Antoine. Ich hatte noch schwer zu leiden, bevor ich diese kleinliche Not überwunden. Ich machte auf der Landstraße die Bekanntschaft zweier böhmischen Harfenmädchen, die, von einem jungen Menschen begleitet, durchs Land zogen. Sie redeten mich an wie ihresgleichen, und in meiner völligen Ratlosigkeit nahm ich ihr Anerbieten an, mit ihnen zu gehen. Sie ließen mich in einem Dorfwirtshause, wo sie anhielten, singen, nachdem ich ihnen entdeckt, daß ich in Musik und Gesang aufgewachsen sei. Ihre Freude über meine Stimme und Vortrag war unverstellt, wenn auch nicht uneigennützig, denn sie setzten mir dringend zu, mit Ihnen in Gemeinschaft zu treten. Zu diesem Zweck suchten sie aus ihren Reisebündeln allerlei hervor, wodurch meine Tracht der ihrigen möglichst ähnlich wurde, begrüßten mich sodann als Kameradin, und zwangen mich, – wenn Bitten und Versprechungen Zwang genannt werden dürfen – sie ferner zu begleiten. Unter ihrem Schutze kam ich freilich ohne Schwierigkeit von einem Ort zum anderen, weil sie, überall bekannt und vertraut, gar nirgend angehalten oder befragt wurden. Doch mußte ich diesen Schutz teuer genug erkaufen, da Männer jeden Alters und Standes gegen mich denselben freien Ton annehmen wollten, den sie bei meinen Gefährtinnen gewöhnt waren. Diesen letzteren schien es zu gefallen, daß ich jede Zudringlichkeit mit Ernst und mürrischem Stolze abwies, nur meine Lieder sang, übrigens aber schwieg und mich in gar nichts mischte. Sie gestanden mir nebst meinem Übergewichte als Sängerin auch dasjenige eines sittlichen, anständigen Benehmen zu, weil es mit ihrem gewöhnlichen Treiben sich so am besten vertrug. Die beiden Schwestern, denn dies waren sie, hielten sich zurück, wenn rohe Frechheit das äußerste von ihnen begehren wollte; bis dahin jedoch erduldeten sie so ziemlich alles und von jedem, und zwar mit dem schamlosen Eingeständnis, für jeden heuchlerischen Blick, für jeden gestohlenen Händedruck ein Geschenk zu erwarten. Ihr Begleiter galt zugleich für ihren erklärten und begünstigten Liebhaber; merkwürdig und unbegreiflich, für den Liebhaber beider Schwestern, die beide, während sie ihm nicht gestatteten, mit anderen Mädchen ein Wort zu wechseln, keine Eifersucht aufeinander zeigten. Nepomuk – so hieß der junge Mensch – durfte schön genannt werden, eine wilde, sonnenverbrannte, schwarzlockige Schönheit, die jedem Frauenzimmer von zartem Gefühl Angst und Grauen einjagen mußte. Er trug, gleichwie er ohne Murren und mit eiserner Körperkraft die schwere Last eines Reisesacks neben der Harfe schleppte, schweigend, ohne Lächeln, düsteren Blickes, – so auch die Liebestyrannei der beiden Schwestern. Sie behandelten ihn wie einen Sklaven; er duldete dies ohne Vorwurf, ohne Klage; dennoch entging mir nicht, daß er zuletzt der Herr und Gebieter sei, dem die frivolen Mädchen sklavisch untergeben waren. Das Verhältnis in seiner unerhörten Seltsamkeit wäre für den beobachtenden Menschenkenner höchst lehrreich geworden; mir konnte es natürlich nur Schauder abgewinnen. Aber ich mußte mich fürs erste fügen. Auch wurde ich gut und rücksichtsvoll behandelt, so daß ich keine Ursache zu klagen fand.

Mucki – oder Muzi, wie Nepomuk abwechselnd von den Schwestern gerufen ward, schien sich am wenigsten um mich zu bekümmern und trug eine kalte Gleichgültigkeit gegen mich zur Schau, die ich bisweilen gerade ihrer Absichtlichkeit wegen für erkünstelt zu halten geneigt war. Mein Vorgefühl hatte mich auch nicht getäuscht.

Wir befanden uns schon weit in Böhmen auf dem Wege nach Prag, da geschah es, daß eines Abends ein heftiger Zank zwischen ihm und den beiden Mädchen ausbrach, dessen Veranlassung mir verschwiegen blieb, weil er in ihrer Sprache geführt wurde, von der ich nur wenige einzelne Worte verstand. Wie gewöhnlich suchten die drei ihr Nachtlager auf einem Heuboden, mir ein Kämmerlein im Hause überlassend, und ich war doppelt froh, nicht in ihrer Nähe weilen und nicht Zeugin ihres Unfriedens bleiben zu müssen. Es mochte eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang sein, als Mucki bei mir eindrang, mich zu wecken, mir zu melden, daß die Schwestern infolge des mit ihm gehabten Zwistes ihn, während er schlief, verlassen hätten, daß er seine Heftigkeit bereue, daß er entschlossen sei, sie wieder einzuholen, daß wir ihnen nacheilen wollten, und daß ich mich rüsten solle, mit ihm zu gehen.

Ich folgte ihm.

Es fiel mir nicht auf, daß er Wagen und Pferde im nächsten Orte für uns mietete; vielmehr fand ich begreiflich, daß er die Flüchtigen so rasch wie möglich zu erreichen wünschte. Was mich aber bald befremdete, war sein Benehmen auf der Landstraße; er blickte weder rechts noch links; er sah nach denen, die er zu suchen vorgab, sich nicht um; er ließ an keinem Wirtshause stillhalten, um nach ihnen zu forschen; er fragte keinen Begegnenden, ob man sie gesehen. Er saß unbeweglich mir gegenüber, und wie wenn er nachholen wolle, was er bisher, von den Schwestern beobachtet, hatte versäumen müssen, starrte er mich auf eine Weise an, die mir bald keinen Zweifel mehr ließ über seine wahren Absichten: Es waren nicht die beiden Mädchen, die ihm entflohen waren; er selbst war es, der ihnen entfloh und mich entführte. So war ich also in eines ungebildeten, leidenschaftlichen Menschen Gewalt gegeben. Doch glücklicherweise mißbrauchte er dieselbe nicht. Er gab mir deutlich zu verstehen, daß er wohl den Unterschied anerkenne, der zwischen mir und den Verlassenen vorhanden; daß er sich von jenen getrennt habe, mehr aus Rücksicht für mich und um mich ihrer Gemeinschaft zu entziehen; daß er mich ebenso verehre, wie er die Schwestern geringschätze; daß ich mich niemals über seine Zudringlichkeit beklagen solle, und daß er es einzig und allein in meinen freien Willen stelle, ob ich ihm jemals nähere Rechte auf mich einräumen würde oder nicht. Fürs erste begnügte er sich mein Diener zu sein, nicht mein Begleiter. Sobald ich erst darüber beruhigt, daß ich mich vor seiner Zärtlichkeit nicht zu fürchten brauchte, fand ich mich sehr zufrieden, des Umgangs mit übermütigen Weibern enthoben zu sein. Ich ließ mir genügen an der augenblicklichen Verbesserung meiner Lage, ohne der Folgen zu gedenken, die doch übel kurz oder lang nicht ausbleiben konnten. An reichen Gaben, die meiner Erscheinung wie meinem Gesange gern gespendet wurden, fehlte es nirgends. Wo ich mich, von Nepomuks Harfe begleitet, hören ließ, gab man zu erkennen, daß eine ähnliche Harfenistin noch nie gehört worden sei.

Wir erreichten Karlsbad, wo es trotz drohender Kriegstrubeln von Badegästen wimmelte. Das Furore, das ich dort hervorbrachte, war unerhört, und wenn ich unterwegs oftmals gewünscht, ich möchte Nepomuks Gesellschaft mit Ehren überhoben sein, so lernte ich sie hier um desto dankbarer schätzen, weil sie mich vor den allzu kecken Anerbietungen reicher und vornehmer Herren doch einigermaßen sicherstellte.

Es befanden sich vielerlei Musikanten und anderweitige Vagabunden in dem angefüllten Badeorte. Unter letzteren zeichnete sich eine Venezianerin aus, die in der Kunst des Glasblasens den höchsten Grad der Fertigkeit erreicht hatte und die artigsten Spielereien in buntem Farbenspiel an ihrem kleinen Blasebalg im Nu hervorzubringen verstand. Ihr Gatte ließ sie nicht allein Geld erwerben; auch er verschaffte sich hübsche Einnahmen, indem er sogenannte Panoramen vorwies, die auf deutsch gesagt in nichts anderem bestanden, als in einem großen Guckkasten mit verschiedenen Gläsern. Sein Schauplatz war von jenem der Glasspinnerin abgesondert, in einem anderen Hause befindlich. Immer erst am Feierabende fanden sich die den Tag über getrennten Eheleute zusammen, um sich und ihre Kassen zu vereinigen. Mein Schicksal wollte, daß Nepomuk mich einigemal in dem Speisesaale des Gasthauses singen ließ, wo die Venezianer zu Abend speisten. Beide wurden aufmerksam auf meinen Gesang; sie suchten sich mir zu nähern, doch meines Begleiters Unfreundlichkeit schreckte sie zurück. Diese seine Bärbeißigkeit war mir, wie bereits erwähnt, sehr willkommen, wenn sie mich von faden Galanterien befreite; hier verwünschte ich ihn, denn mein Gefühl sagte mir, daß die Italiener etwas Gutes mit mir im Sinne hatten.

Vielleicht würde die Abhängigkeit von meinem Führer worein ich notwendigerweise geraten mußte, mich über kurz oder lang doch in seine Arme gezogen haben, wäre nicht die Stunde der Rettung von so schmählichen Banden unerwartet gewaltsam hereingebrochen. Die um meinetwillen verlassenen Schwestern, durch Nepomuk ihrer schriftlichen Ausweise beraubt, waren in Prag, bis wohin sie unsere Spur vergeblich gesucht, festgenommen worden. Ihre Aussagen hatten eine Art von Steckbrief zur Folge, der zwar Nepomuk zunächst, mich aber, als seine Gefährtin, mit berührte. Er wurde gefänglich eingezogen. Mich würde dasselbe Los betroffen, und man würde mich, als Ausländerin, in meine Heimat zurückgeliefert haben, wenn nicht bereits mein Talent mir als Fürsprecher gegolten. Unter denen, die an meinen Liedern Freude gefunden, war der im Badeorte angestellte Polizeibeamte einer der wohlmeinendsten. Er sprach mit mir, wie nur ein gütiger Vater sprechen kann, und ohne in meine traurigen Geheimnisse dringen zu wollen, gab er mir doch Mut und Vertrauen, daß ich ihm so viel erzählen konnte, als genügte, meinen Abscheu gegen erzwungene Heimkehr geltend zu machen. Vielleicht würde dennoch seine Beamtenpflicht über sein Mitgefühl gesiegt haben, wäre nicht die Glasbläserin mit ihrem Gatten vermittelnd dazwischen getreten. Diese beiden Leute, die sich auf langen Reisen schon ein genügendes Vermögen gesammelt hatten, standen im Begriff nach Venedig zurückzukehren; sie erboten sich, mich mit sich zu nehmen und mir auf ihre Kosten diejenige künstlerische Ausbildung erteilen zu lassen, die mich befähigen würde, eine Laufbahn als dramatische Sängerin anzutreten. Da sie selbst keine Kinder besaßen, so konnte dies Anerbieten für eine Erklärung gelten, mich zur Tochter annehmen zu wollen. So auch betrachtete der gutmütige Beamte diese Sache und erteilte seine Einwilligung.

Von hier an, mein geliebter Sohn, beginnt deine Mutter das Leben einer Opernsängerin, mit seinen Eitelkeiten, Siegen, Triumphen und Verirrungen. Du weißt genug von der Welt, um dir denken zu können, welch ein Dasein ich führte. Ein Jahr des Unterrichts von einem trefflichen Singemeister, wie man sie für ähnliche Zwecke wohl nur in Italien findet, hatte vollkommen hingereicht, mich bis zu demjenigen Grade der Vollendung auszubilden, dessen meine natürlichen Anlagen überhaupt fähig waren. Ich debütierte bei kleineren Unternehmungen in Städten dritten Ranges mit Glück. Man prophezeite mir günstige Erfolge. Die guten Pflegeeltern statteten mich gehörig aus mit allem, was mir nötig war, und entließen mich als selbständige Künstlerin.

Du wirst mir das Bekenntnis meiner Irrtümer im einzelnen erlassen. Es kann dir keine Freude machen, die Anklagen deiner strafbaren Mutter, von ihrer eigenen Hand niedergeschrieben, zu lesen. Erlaube mir also über diese Jahre meines sogenannten Glückes flüchtig andeutend hinzugleiten. Nur was für dich von Wichtigkeit ist, weil es sich auf meine Empfindungen für dich bezieht, werde ich noch umständlich enthüllen, ohne Schonung gegen mich.

Von den Verhältnissen, die ich, dem Leichtsinn angemessen, der im Kulissentreiben vorherrscht, mit jungen Männern knüpfte, um sie bei Anknüpfung eines neuen Engagements gedankenlos wieder aufzugeben, nenne ich nur eines! teils weil dieses in seinen Folgen bis an das Ende meiner Laufbahn nachwirkte, teils weil es in unmittelbarer Beziehung auf dich, mein Sohn, steht. Ein Musiker, der sich den Namen Carino beigelegt hatte, der jedoch ebensowenig seine deutsche Herkunft verleugnete, als »Signora Antonia« die ihrige vor ihm geheim halten wollte, suchte meine nähere Bekanntschaft, die zu machen ihm desto leichter wurde, weil er sich bald als Landsmann kundgab und weil ich nach kurzer Unterhaltung in unserer Muttersprache den Sohn des ehrlichen Karich in ihm erkannte, des armen Gerbermeisters, der mich bei meiner Flucht so väterlich aufgenommen hatte. Tief erschütterte es diesen leidenschaftlichen jungen Mann, aus meinem Munde zu vernehmen, welch bitteren Schmerz sein Entweichen den armen Eltern verursacht! Leider durfte ich ihm keine Vorwürfe machen; hatte leider kein Recht mehr, ihn zu tadeln, der seine Eltern betrübte, während ich das Bewußtsein in meinem Busen trug, nicht nur, gleich ihm, ein undankbares Kind, sondern auch eine schlechte Mutter zu heißen; wobei ich doch ängstlich und vorsichtig Sorge trug, weder meinen Geburtsort, noch den Namen meiner Eltern oder sonst irgend etwas zu nennen, was andere kompromittieren könne. Gleiche Schuld, gleiches Leid, gleiche Reue, – immer wieder durch die Macht des Augenblicks überwältigt! – gleiche Liebe für die Tonkunst und, daß ich's nur gestehe, gleicher Hang zum Leichtsinn führte uns beide ins vertrauteste Beisammenleben. Ich galt für sein Weib und nannte mich bald nach ihm »Carina«, als welche ich in der Sängerwelt meinen Ruf erwarb.

Verbindungen, die keinen anderen Halt in und außer sich tragen, als nur den freien, ungebundenen Willen derer, die sie schlossen, dauern entweder bis zum Tode, oder sie lösen sich gewöhnlich bald mit Zwist und Unfrieden. Das letztere geschah bei mir und Carino. Wir gerieten streitend auseinander, wir trennten uns. Zufall oder Absicht brachten uns wieder zusammen, und es wurde eine Versöhnung geschlossen, um nach Verlauf einiger Wochen wieder zu brechen. Unser Leben bestand aus Liebe, Eifersucht, Zank, Scheidung, Trennung, Wiedersehen, Vereinigung und Unglück. Gibt es doch solche Ehen auch mit dem Segen der Kirche! –

Unterdessen, mein Sohn, warst du zum Knaben herangewachsen, zum Jüngling, ohne daß deine lieblose Mutter von dir wußte, ohne daß sie deiner gedachte. Sie hielt euch alle für tot, und dieser Irrtum beruhigte sie, verhärtete sie vielmehr gegen die häufig wach werdenden Regungen ihres Gewissens.

Nach so vielfältig wiederholten Trennungen war es zwischen Carino und mir endlich zu einem entschiedenen Bruche gekommen, der länger dauerte, als alle vorhergegangenen, und der nicht mehr heilen zu sollen schien. Daß er nach seiner Heimat reisen, seine alten Eltern noch einmal sehen, sich mit ihnen versöhnen wolle, erfuhr ich folglich nicht. Ich würde, wäre es mir vorher kundgeworden, mein starres Schweigen über meine heimatlichen Zustände wahrscheinlich gebrochen und den Carino beauftragt haben, sich nach allen Einzelheiten zu erkundigen. So hörte ich nur von seiner gänzlichen Übersiedlung nach Deutschland, von einer Stelle, die er am Hofe eines kleinen Fürsten angenommen hatte, und wovon er einigen seiner künstlerischen Freunde Wunderdinge schrieb. Ich gönnte ihm sein Glück und fand mich leicht in den Gedanken, ihn niemals wiederzusehen. Doch bevor noch die Herbstvögel ihre Flüge und Züge begannen, war er schon wieder in Italien, war er schon wieder bei mir und trat ein mit seinem gewöhnlichen Wahlspruch, den er für diesen Fall einem verwunderlichen Schauspiel von Goethe – (seinem Liebling unter allen Dichtern) – zu entlehnen pflegte: »Rinaldino wieder in den alten Ketten«. Diesmal galt meine Freude über die Rückkehr des Freundes mehr als seiner Person, wahrlich seinen Erzählungen. Indem ich zunächst nach seinen Eltern fragte, wozu ich ja zwiefach berechtigt und verpflichtet war, während er mir mit aufrichtigen Tränen schilderte, wie er nur ihre Gräber hätte besuchen können, führte ihn der Fortgang seiner Reiseberichte auch nach Liebenau zum Oheim, dem alten Pastor Karich. Mit der ihm eigenen Lebendigkeit, mit seinem Talent, dem Hörer Menschen und Umgebungen anschaulich zu machen, beschrieb er mir seinen Oheim, die Neffen, das Schloß, den Gutsherrn, dessen drei Töchter, die Wälder ums Dorf, den langen Spaziergang, die Weinlaube, den lauen Sommerabend bei kühlem Trunke, den schönen Korbmacherjungen, der ihn durch den Vortrag einer alten Melodie auf der Geige gerührt habe ...

Schon wie er von der Großmutter dieses jungen Burschen gesprochen, an deren Häuschen sie das Dorf entlang vorbeizogen, und wo die Fräulein bestellten: Anton solle aufs Schloß kommen, sobald er aus dem Walde heimkehre; – schon wie er mir die alte Frau mit Worten malte, meinte ich in diesem Bilde meine Mutter zu erkennen. Später, da er auf dich kam, blieb mir fast kein Zweifel mehr, daß dieser Anton mein Anton, derselbe sei, den ich mit der Melodie von den drei Reitern so oft in Schlaf gesungen! Ja, er war es, er mußte es sein. Mein Vater ist gestorben, und die Mutter samt dem Kinde ist nach Liebenau gezogen; sie ist es; mein Kind ist es, das Carino gesehen. Von diesem Gedanken wurde ich erfüllt. Ich gönnte den weiteren Berichten des unermüdlichen, wenn auch liebenswürdigen Schwätzers nur noch wenig Gehör, trachtete einzig danach, ihn bald loszuwerden und allein zu bleiben mit den Empfindungen, die ich mir so lange ferngehalten, die aber nun, sich an mir rächend, mehr schmerzlich als wohltätig auf mich einstürmten. Meine würdige Mutter lebte noch! Mir lebte ein Sohn; ein hoffnungsvoller, begabter Sohn! Und ich – – – – –

Damals war es, wo ich mich entschloß, deiner Großmutter zu schreiben, ihre Verzeihung anzuflehen. Wäre mir liebevolle Antwort auf jenes Schreiben zuteil geworden, so hätte ich – dies war mein Vorsatz – den Flitterkram und Prunk, der mich zu dieser Zeit noch umgab, zu Gelde gemacht und wäre heimgekehrt, in eurer Hütte mit euch zu leben, euch zu dienen, eure Magd zu sein; nicht ihre Tochter, nicht deine Mutter. Ich hatte mit Tränen geschrieben, mit blutigen Tränen; so krümmt und windet sich der Wurm unter des Vogels Krallen, wie ich mich demutsvoll flehend unter meines Schmerzes, unter meiner Reue Geständnissen wand; wie ich um ein Wort der Liebe bat. – Es blieb aus, – ich sah mich verstoßen, verflucht; und aufs neue siegten Trotz und Leichtsinn über mein besseres Gefühl. Bisweilen fand ich mich geneigt, ein zweites Mal zu schreiben, mein Glück ein zweites Mal zu versuchen, weil ja doch der erste Brief verloren sein konnte; denn ich hatte ihn nach N., unserem ehemaligen Aufenthaltsorte, richten müssen, da Carino über die Bezeichnung des Dorfes Liebenau, dessen Name mehrfach vorkommt, nichts Näheres gesagt hatte. Ja, ich begann verschiedene neue Briefe, zerriß aber immer wieder den halb beschriebenen Bogen, weil der Groll, unerhört geblieben zu sein bei der ersten Bitte, mit jeder Zeile auflebte. »Sie hat doch wohl deinen Brief erhalten, sie will nichts von dir wissen; dränge dich nicht auf!« das waren meine unkindlichen, schändlichen Gegeneinwendungen.

Du hast mir in deinen traulichen und vertrauten Selbstbekenntnissen, mein geliebter Sohn, auch erzählt, daß mein Schreiben richtig in deiner Großmutter Hände gelangt ist, und welche Wirkung es gehabt. Du hast der »kranken Frau« das Ende, das selige Ende deiner Großmutter beschrieben, nicht ahnend, was die Sterbende dabei empfand. Ach, Anton, ich zittere Sie wiederzufinden, die uns beiden Mutter gewesen. Wird sie ihr undankbares, treuloses Kind nicht anklagen als ihre Mörderin vor Gottes Thron?

Was hätte ich nun weiter noch von mir zu sagen; daß ich mich fester an Carino schloß denn jemals, weil die erneuerte Mahnung an Mutter und Sohn, die beide mein Frevel mir geraubt, mich das Bedürfnis, einem Wesen auf Erden anzugehören, furchtbar ernst empfinden ließ. Er war zu gutmütig, mich von sich zu stoßen, mich deutlich merken zu lassen, daß ich ihm eine Last sei; doch konnte ich es ahnen? Meine gepriesene Schönheit schwand mit der Jugend; meine Stimme nahm ab; nur höchstes Aufgebot der Kunstfertigkeit hielt mich noch. Italiens große Städte, die mich in meiner Blüte bewundert, hatten kaum noch Nachsicht für die alternde Künstlerin; ich errang mir mit Not und Mühe hier und da, was man einen succes d'estime nennt. Carino schlug vor, man möge es mit Paris versuchen, wo er als Virtuose zu glänzen wähnte. Ich fand unzählige Schwierigkeiten und Kabalen, die meine Debüts ins Unendliche hinausgeschoben. Er drang gar nicht durch neben Lafont, Boucher und anderen, und sein brillantester Erfolg ist, fürchte ich, jener gewesen, den er auf dem Boulevard mit des Bettlers Geige errang. Du weißt, mein Sohn, wie wir uns dort begegneten; wie ich, beim ersten Anblick von deiner Erscheinung ergriffen, in dir den Liebenauer Korbmacher, in diesem ein mir ungehöriges Wesen ahnte. Du verschwandest mir sozusagen unter den Augen. Alle Mühe, dich wieder zu entdecken, blieb vergebens. Endlich kam ich auf die halbverrückte Idee, du seist um jene Stunde, Gott weiß wo, gestorben und mir als Geist, als anklagendes Gespenst erschienen!

Meine Gesundheit ging schon sehr bergab. Ich litt viel. Der Gram um dich trug dazu bei; nicht minder Carinos Ausschweifungen, die durch das Mißlingen seiner Pläne immer wilder wurden. Ich sah das niedrigste Elend vor uns. Ich klagte und jammerte; das Schlimmste, was ein Weib in meiner Lage einem solchen Manne gegenüber tun kann. Er mied meine Nähe und geriet immer tiefer ins Verderben.

Wie mein durch tausend schwere Opfer erkaufter öffentlicher Auftritt ablief, hast du mit angesehen. Die Schmach, die ich erlebte, bohrte sich tief in mein eitles Herz ein, wo sie so lange bohrte, einem giftigen Tiere ähnlich an meinem Leben fraß, bis ich von deinen Lippen vernahm, daß eben jene Schmach dazu beigetragen, dich aus entehrenden Banden zu befreien, dir Rettung zu bringen. Auf meinem Sterbelager habe ich sie gebenedeiet, habe Gott dafür gepriesen, weil sie meinem Sohne zugute kam.

Carino, der auf mein Debüt die letzte seiner Hoffnungen gebaut, geriet nun außer sich. Seine Gutmütigkeit unterlag der Wut; er verlor sich selbst; drohte mir mit Mißhandlungen. Ich mußte ihm entweichen.

Rat- und hilflos wandte ich mich nach Turin zurück. Auch dort war meine Sonne untergegangen. Meine Zeit lag hinter mir.

Du weißt, daß ein armseliger Spekulant versuchen wollte, mit einer italienischen Oper Deutschland zu durchziehen. Da es ihm an Mitteln fehlte, Talente zu engagieren, so begnügte er sich mit Stümpern und mit einem Namen; diesen letzteren sollte ich hergeben. Er fand auch jenseits den Klang nicht wieder, den er diesseits der Grenzen schon eingebüßt.

Die reisende Unternehmung quälte sich mühsam von Ort zu Ort, um bald gänzlich zu zerfallen. Der Impresario entfloh bei Nacht und Nebel; ich blieb mit meinen leeren Ansprüchen zurück, ohne Geld, ohne Aussicht, ohne Stütze; krank; ach, schon krank zum Tode.

Da traf sich's, daß der greise Puppenspieler durch seines Gehilfen Perfidie um Weib und Beistand gebracht wurde. Er hauste in demselben traurigen Gasthofe, den ich bewohnte. Seine Verlegenheit, meine Not fanden sich. Mir blieb die Wahl, aus dem unbezahlten Bodenstübchen geworfen, zu verhungern oder seinen Vorschlag anzunehmen. Ich wählte das letztere und gestattete ihm, daß er mich seine Frau nenne vor den Leuten; gelobt ihm, die Stelle der Entlaufenen bei den Marionetten zu übernehmen; dagegen mußte er mir geloben, keiner Seele zu verraten, daß ich eine herangekommene italienische Primadonna sei. Er hat sein Wort gehalten, ich hielt das meinige.

Und da erschienst du!

Ob ich dich erkannte? Ob ich gleich bei deinem ersten Anblick wußte, wer du seist? Magst du es glauben oder nicht: Deine Mutter begrüßte dich als ihren Sohn! Und sie legte in feierlicher Mitternacht vor sich selbst wie vor Gott einen heiligen Schwur ab, du dürfest sie erst erkennen, wenn sie ein Leichnam geworden. Ja, das soll meine Buße sein. Im Augenblick des Verscheidens noch will ich sie festhalten. Ich will hinübergehen, ohne aus deinem Munde das Wort: »meine Mutter« vernommen zu haben.

Aber, Anton, wenn ich nun wirklich tot bin, wenn ich regungslos auf meinem Sterbebette liege, wenn du diese Blätter liest und bis an diese von meinen Zähren verwischten Zeilen kommst ... nicht wahr, dann halten Grausen und Ekel dich nicht zurück? Dann senkst du dein schönes Haupt auf meinen Totenkopf hernieder und gibst den blauen, kalten Lippen einen kindlichen Versöhnungskuß?

Ich werde ihn empfinden, diesen Kuß!«


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