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Achtundsechzigstes Kapitel

Wie oft, mein gütiger Leser, haben wir in diesem Büchlein unseren Helden schon beobachtet, wenn er wieder zu wandern begann. Ich wage nicht zu behaupten, aber ich wünsche, daß es mir gelungen wäre, deutlich darzustellen, wie er von Jahr zu Jahr an Einsicht und Verstand reifer, aus vielen Prüfungen immer besser, aus mancherlei unsauberen Verhältnissen und Umgebungen immer gereinigter hervorging. So wollte ich ihn an dir, mein Leser, vorüberführen; doch wie gesagt, ich weiß nicht, ob ich es vermocht habe.

Mag mir aber bisher vieles in meiner Schilderung mißraten, das Beste mitunter in der schwachen Feder sitzen geblieben sein; eines wirst du mir beim strengsten Tadel zugestehen müssen: daß Anton durch die letzten Ereignisse einen großen Schritt in reife, männliche Selbstbeherrschung getan, daß er nun schon Rechte erworben habe, sich Mann zu nennen. So geleiten wir den jungen Mann mit Teilnahme, die wir seinen Irrwegen bisher widmeten, auf dem letzten, den er in dieser Weise antritt; der ihn, will's Gott, zum Ziele führen soll, wenn die Hindernisse besiegt sind, die sich ihm noch entgegenstellen werden.

Geht er doch eigentlich zum erstenmal, seitdem er wandert, einem bestimmten Ziele entgegen; weiß er doch eigentlich zum erstenmal, seitdem wir ihn kennen, wohin er will.

Und zwei Genien umschweben ihn; zwei sanfte Frauenbilder begrüßen ihn täglich. Wenn die Frühlingssonne den Morgen herausbringt, sieht er Hedwig im Geiste vor sich, hört er aus blühenden Gebüschen ihre Stimme ihm zurufen: »Hoffe nur!« Wenn der Abend in grüner Ferne dämmert, ist es der Mutter bleiches Angesicht, aus Wolken lächelnd, das ihm wiederholt: »Ja, hoffe!«

Warum sollte er nicht hoffen?

Auch wachten mit jeder Meile, die er weiter ins Land, in den Frühling hineintat, jugendliche Heiterkeit, angeborener Frohsinn, dankbare Lebenslust in Antons Herzen mehr und mehr auf. Krankenlager, Totenbahre, mit all ihren schwarzen Trauerfloren blieben bei jedem Schritte seines Weges undeutlicher hinter ihm zurück; die zürnenden Worte, die Hedwigs Vater gegen ihn ausgestoßen, verhallten wie ferner Donner. Er vernahm nur der Tochter Liebesschwüre, hörte nur der Mutter segnende Verheißung, empfand nur Hoffnung und Zuversicht.

Wenn seine Seele im vergangenen Winter, zwischen ahnungsvollem Anteil für eine kranke Frau und zwischen schwärmerischer Liebe für ein vorwurfsfreies Mädchen geteilt, einen höheren Schwung genommen, sich sozusagen der irdischen Sinnenwelt enthoben hatte, so kehrte sie jetzt, aus solchem seltsam bedrängenden Widerspruche befreit, zu ihren früheren weltlichen Anforderungen zurück, freute sich des jungen, kräftigen Körpers, den sie beherrschte, und strebte, von ihm getragen, behaglichem Dasein entgegen. Das alte Wort, daß einer schönen Seele am wohlsten sei in einem schönen Leibe, durfte an unserem Freunde seine ganze Wahrheit bewähren.

Wer ihn so rüstig daher wandeln sah, konnte ihn für einen Halbgott halten.

Für etwas dergleichen schienen ihn denn auch die Weiber und Mädchen ansehen zu wollen, die ihn willkommen hießen, wenn er nach rüstiger Wanderung die Herberge suchte. Die freundlichsten Worte wurden von allen Gästen ihm gegönnt, das Beste ihm gebracht, das reinste Lager ihm bereitet. Schon regte sich wieder des Vagabunden Übermut in ihm, nur daß der Gedanke an eine schwere Stunde sich lastend darauf legte und ihn niederdrückte. Diese Stunde, wo er der Frau Gräfin seiner verstorbenen Mutter Brief in eigene Hände zu übergeben gelobt hatte, war der schwarze Fleck in freier Wandertage Sonne; vor dieser Stunde fürchtete sich Anton. Doch die Furcht war ihm dienlich; sie hielt ihn in Maß und Gewicht; sie verlieh ihm den milden Ernst, der einen jungen Mann so trefflich kleidet.

Daß er aber nicht ohne Abenteuer bleibe, daß der Gegenwart ein buntes Zeichen wildbewegter Vergangenheit nicht fehle, auch dafür sorgte das Schicksal. –

Er hatte des eigentlichen Vaterlandes Grenzen bereits überschritten und berechnete schon mit bangem Vorgefühl den Tag, wo er die Stadt erreichen würde, die er sich ausersehen, um, seiner Mutter Anweisung gemäß, die Kunst eines Schneiders in Anspruch zu nehmen, der ihn bekleide, wie er geziemend vor der Gräfin erscheinen solle. Die Hauptstadt wollte er durchaus nicht berühren, aus Besorgnis, sich dort unnütz aufzuhalten und dadurch die gefürchtete schwere Stunde noch weiter hinauszuschieben, die ihm jetzt schon so schwarz drohte, daß er sie nicht rasch genug herbeiwünschen konnte, damit sie nur überstanden wäre; – gut oder übel! er ließ also das alte Br. mit seinen Türmen zur Seite und schlug einen Feldpfad ein, der ihn in gerader Linie auf die Straße brachte, die zu seinem Ziele führte. Es war gegen Abend, doch immer noch heller Tag, ein Sonntag. Auf den Feldern lag feierliche Stille, nur von der Lerche Vesperlied belebt; kein Mensch zu sehen, so weit das Auge reichte. Anton spürte schon die weiche, wehmütige Stimmung über sich kommen, die gegen Abend sich bei so vielen Menschen anmeldet und zwar, im Verkehr der Geselligkeit überschrien, in ungestörter Einsamkeit desto mächtiger zu reden pflegt. Sein Blick verfolgte eine hoch aufsteigende Lerche, so weit, daß sie ihm beinahe schon entschwand, als er über ihr einen größeren Gegenstand im blauen Raume wahrnahm, den er für einen Raubvogel hielt. Doch zeigte die Lerche nichts von ängstlicher Besorgnis, wirbelte vielmehr ihren Hymnus mutig fort. Erst als sie satt vom Singen war, ließ sie sich zu ihrem Neste nieder. Der Gegenstand in der Höhe nahm immer zu an Umfang – das war kein Raubvogel ... er senkte sich ... seine Formen traten deutlicher hervor ... Anton erkannte einen Luftballon. Nach und nach sonderte sich das Schiff, welches dieser Ballon trug, vor seinen Blicken deutlich ab ... Fahnen flatterten ... eine menschliche Gestalt bewegte die Fahnen ... das Gesicht wurde kenntlich ... es war ein Frauenzimmer!

»Eine Luftschifferin!« rief er aus, »eine Luftschifferin, die aus der zweiten Residenz des Landes in die Wolken emporstieg und sich nun zu mir herabläßt; zu mir ganz allein. Denn so viel ich sehen kann, ist außer mir niemand zu sehen. Wie sie rasch sinkt! – Ja, das ist nicht anders; mit dem Steigen geht es nicht so geschwind. – Jetzt bin ich schon imstande, ihre Züge zu unterscheiden; – sie ist hübsch, – nun wirft sie einen Anker aus, – er greift nicht ein, – schnell ihr zu Hilfe!«

Anton hing sich an den herabgeworfenen Strick. Der Ballon machte Miene, sich noch einmal zu heben, trug auch die neu hinzugekommene Last wirklich ein paar Schritte über den Boden hin; doch Anton ließ nicht los, und bald hatte sich die letzte Spur von Widersetzlichkeit verloren. Die Gondel wurde an einen Feldbirnbaum befestigt, die schöne Luftschifferin erreichte, über Antons Kopf, Schultern, Rücken kletternd, unversehrt den Erdboden.

»Das war Hilfe in der Not!« rief sie aus, »wäret Ihr, guter Freund, nicht herbeigekommen, wer weiß, ob der Ostwind mich nicht bis nach jenem Gehölz getrieben und mir den Ballon in den Baumzweigen beschädigt hätte. Nun aber setzt Eurem guten Werke die Krone auf und rennt nach dem nächsten Dorfe, mir einen Bauernwagen und einige Arbeitsleute herbeizurufen, damit wir vor Nacht ins reine kommen. Ich werde Euch für Eure Mühe anständig bezahlen.«

»Womit?« fragte Anton.

»Womit? die Frage klingt verzweifelt naiv; womit bezahlt man sonst als mit Geld? Oder herrscht hierzulande ein anderer Brauch?«

»Es kommt darauf an, Madame, wen man bezahlt, und wer bezahlen soll.«

»Seht doch! Ihr spitzt Eure Redensarten gewaltig zu. Seid Ihr ein Schneider?«

»Ihr meint, weil ich mein Ränzel auf dem Buckel trage, müßte ich ein Handwerksbursche sein? Aber so gut ist's nicht mit mir bestellt. Ich bin nur ein Landstreicher von Profession und gegenwärtig ohne Gewerbe.«

»Und was für Länder habt Ihr neuerlich durchstrichen? Von wannen kommt Ihr? Wohin geht Ihr?«

»Nicht alle Leute sind so glücklich, auf derlei Fragen erwidern zu können: vom Himmel auf die Erde, wie eine gewisse Dame. Ich muß gestehen, daß ich von Paris über Turin und Nizza geraden Weges hierher stiefelte, Euch an diesem Platze die Hand zu bieten.«

»So habt Ihr mich erwartet? Nicht übel. Ihr scheint besser unterrichtet vom Strom der Lüfte als ich, die ihm Folge leisten muß. Sollte es mich doch nicht wundern, wenn Ihr mir einreden wolltet, wir wären alte Bekannte.«

»Und das sind wir in der Tat. Ich glaube, Euren Namen zu kennen – und Euch.«

»Leicht möglich. Ihr habt in irgend einem Nachtquartier ein Zeitungsblatt erwischt, das meine heutige Luftfahrt verkündet.«

»Mit nichten. Davon habe ich nichts gehört, noch gelesen. Auch bin ich nicht imstande, Euch zu sagen, wie Euer jetziger Name lautet; denn ich sehe einen Trauring an Eurer Hand, und so vermute ich, daß Ihr nach Eurem Gatten heißt. Doch in der Taufe empfingt Ihr den Namen Rosalie, und nach Eurem Vater wurdet Ihr Sanchez genannt. Wer Rosalie Sanchez einmal gesehen hat, wer von ihr angeblickt wurde, wie ich Unwürdiger, der kann sie unmöglich vergessen; der müßte sie wiederkennen und wenn sie auf einem feurigen Drachen angeritten käme, mit einer Suite von allem, was die liebe Hölle an niedlichen Teufelchen besitzt.«

»Wenn's noch lange so fortgeht, holdseliger Landstreicher, bin ich geneigt, dich selbst für einen Teufel zu halten. Das ist die originellste Entrevue, das sonderbarste Rendezvous, dessen ich mich aus meiner Praxis erinnere. Aber deiner, mein Unerklärlicher, kann ich mich wahrhaftig nicht erinnern. Hätten wir uns näher gekannt, – ich will nicht nein sagen, denn ich bin meiner Sache nicht gewiß, – so wird sich das später finden; für jetzt wiederhole ich meine Bitte, der Tag geht zu Ende.«

»Ich eile zu gehorchen. Bald sehen Sie mich wieder mit Wagen, Pferden, Eseln und anderen Menschen. Bewahren und bewachen Sie so lange, wenn ich auch eine Bitte wagen darf, die Last meiner Schultern. Dort rauchen Schornsteine; das halbe Meilchen ist bald zurückgelegt.«

Anton warf sein Felleisen zu Rosalies Füßen und flog querfeldein dem fernen Dörflern zu.

*

Wie er auch seine Schritte fördern mochte, doch war die Dunkelheit schon hereingebrochen, bis er mit den nur mühsam aus der Schenke zu holenden Bauern angefahren kam. Rosalie, die sich aus seinem Felleisen ein Kopfkissen gemacht, schlief ruhig unter dem alten Birnbaum, dessen Blüten wie Schnee im reinen Ostwind auf sie herabsäuselten. Das Wiehern der lustigen Pferde, das Rasseln des Leiterwagens, das Geschrei, womit die staunenden Landleute den noch immer in der Luft schwankenden, wenn auch schon höchst abgemagerten Ballon begrüßten, erweckte sie nicht. Erst als Anton ihr einen herzlichen Kuß auf die im Schlafe lächelnden Lippen drückte, ermunterte sie sich. Ihre erste Tat nach dem Erwachen war diese, daß sie dem Küssenden eine derbe Ohrfeige gab; dann sagte sie freundlich: »Nun, Landstreicher, seid Ihr wieder da?«

Unter ihrer Leitung, und indem sie tätig half, wurde der Ballon bei Sternenschein völlig entleert, zusammengepackt, aufgeladen; die ganze Gesellschaft nahm auf Strohbündeln Platz; dann ging es guter Dinge dem Dorfwirtshause entgegen, wo eine Schar müßiger Sonntagsgaffer des ungewöhnlichen Besuches harrte.

Sie warf das Geld mit vollen Händen aus, handelte nicht mit den Leuten, entließ alle, die ihr Beistand geleistet, zufrieden und dankbar.

»Wie steht es aber jetzt mit meinem Landstreicher?« fragte sie, »in welcher Münze soll ich diesen befriedigen?«

»Ich habe Euch«, erwiderte Anton, »eine Probe des Münzfußes, der in meinen Staaten gilt, auf die Lippen geprägt; in dieser Gattung mögt Ihr weiter zahlen.«

»Nicht doch, mein Lieber; das wäre Falschmünzerei, und mein Gemahl –«

»O der – ist nicht hier!«

»Freilich nicht. Und Euch die Wahrheit zu gestehen, ist er überhaupt nicht mehr vorhanden.«

»Ihr seid Witwe?«

»Seit einem Jahre. Mein armer Mann hat den Hals gebrochen, indem er aus derselben Gondel herabstürzte, die mich heute trug.«

»Und Ihr wagt ...«

»Torheiten! Seid Ihr ein rechtschaffener Vagabund, ein tapferer Landstreicher, und wollt nach solchen Kleinigkeiten fragen? Schweigen wir davon. Fahrt lieber in Euren Erzählungen fort, die Ihr auf dem Leiterwagen so heiter begonnen. Wir standen eben bei Laura, die Euch neidisch in die Seite stieß, als ich Euch einige unschuldige Oeilladen lancierte. Was ist aus dem schönen Weibe geworden? Habt Ihr Euch wiedergesehen?«

»Das sind lange Geschichten, reizende Rosalie; lange, langweilige, traurige Geschichten, zu denen diese Nacht nicht ausreichen dürfte. Und morgen müssen wir uns trennen; Ihr kehrt in die Hauptstadt zurück, – ich habe ein ernstes, schweres Geschäft zu bestellen, von dessen Erfolg meine ganze Zukunft abhängt. Dann hat der Spaß ein Ende. Laßt mich diese Stunden noch heiter verbringen; erzählt mir von Euch, von Euren Triumphen, Liebschaften, Eurer Ehe; wie Ihr vom Seil in die Gondel gestiegen seid; wo Euer Vater, Eure Schwestern geblieben sind. Setzt Eure Lippen in Bewegung. Diese müssen mich nun einmal bezahlen, und darf's nicht mit Küssen sein, laßt es mit Worten geschehen.«

Rosalie schwieg einige Minuten, während welcher sie Anton betrachtete. Dann hub sie in ernsthafterem Tone an:

»Ich weiß nicht, warum es mir unmöglich ist, die Verstellung, ja die Lüge, worin ich mich vor allen Menschen hülle, die ich auch Ihnen entgegentrug, jetzt länger fortzusetzen. Eine Empfindung eigener Art – weiß ich doch kaum, ob ich sie Mitleid nennen soll – drängt mich, gegen Sie aufrichtig zu sein. Vielleicht entspringt sie aus einer Ahnung, daß die Frivolität, die Sie zu zeigen erstreben, nicht minder erheuchelt sei als jene, mit welcher ich prahle; daß auch Ihr Herz von heißen Schmerzen zerrissen ist, daß auch über Ihr junges Haupt Jammer, Not, Elend und Verzweiflung schon ihre glühenden Schalen ausgegossen haben wie über das meine. Fort mit der Lüge! Fort mit erquälter Lustigkeit, mit frechen Witzen, sehen Sie mich, wie ich bin, und wenn es Ihnen wehe tut, in einen solchen Abgrund des Grames zu schauen, dann um so besser für Sie. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ihnen kann ich vielleicht nützen, wäre es auch nur dadurch, daß, mit meinem Unglück verglichen, das Ihrige Ihnen wie Glück erscheinen wird.

Als Sie mich in D. sahen, kann ich beinahe vierzehn Jahre alt gewesen sein. Das Jahr zuvor hatte mein Vater mich an einen reichen Russen verkauft. In diesen wenigen Worten ist die Geschichte meiner Jugend enthalten. Ich fuhr fort zu sündigen, nicht, weil mich Leidenschaft oder Neigung trieb, sondern nur aus Eitelkeit, aus Lust am Schlechten, Gemeinen, Niedrigen. Es fehlte nicht an Verehrern, die ich, einen wie alle, verhöhnte, denen ich Geschenke abschwatzte, und über die ich mich, je vornehmer und reicher sie waren, desto lieber und ausgelassener lustig machte in vertrautem Umgange irgend eines kecken Schulknaben, eines Lehrjungen, eines Jockeys. Mit sechzehn Jahren stand ich auf einer so niedrigen Stufe der Verderbtheit, daß ich kaum noch tiefer hätte sinken können. Dabei wurde ich immer schöner. Es scheint Naturen zu geben, die im Laster äußerlich gedeihen und sich nur kräftiger blühend daraus entfalten wie manche üppige Frucht am goldensten und duftigsten aus Mist emporwächst. Ich ward angestaunt wie ein Wunder von Schönheit, Gewandtheit, Körperkraft, Bravour auf dem Teile der Korruption. Mehr als die vorhergehenden Eigenschaften brachte die letzte mich en vogue. Es gab einen förmlichen Wettstreit unter den Männern von Ton, jungen wie alten, wer zuerst und zumeist erproben solle, wie weit meine Frechheit reiche. Mitten in diese Nacht und Finsternis eines verworfenen Daseins fiel ein Strahl des Lichtes und der Liebe; ein Engel, der Mitleid und Erbarmen gefühlt, weil so viel Schönheit und Geist – (das klingt Ihnen sehr anmaßend, nicht wahr? Dennoch habe ich ein Recht, es zu sagen) – im Kot untergehen solle, führte mir ein Herz entgegen: ein Herz! Das einzige, was mir noch niemand geschenkt, niemand nur gezeigt hatte. Rohe, selbstsüchtige Begierde hatte mir Gold über Gold geboten, das ich verachtete, nahm, verschwendete, um verachtet zu werden. Hier forderte bescheidene Liebe ein Herz für das seine, – und mit Schauder mußte ich entdecken, daß ich des Tausches unwürdig sei.

Der junge Mann, dessen Bekanntschaft ich in einer belgischen Stadt machte, war von Geburt ein Deutscher, nach seiner Eltern Tode von einer hier verheirateten, kinderlosen Tante aufgenommen worden und stand im Begriff, seine Studien als Physiker, Chemiker, Techniker zu vollenden, wonach er eine Stellung in Brüssel oder gar Paris zu finden dachte. Er sah mich und faßte für mich jene glühende Leidenschaft, die mit verderblicher Gewalt sich bisweilen eines jungen Mannes um so furchtbarer bemächtigt, wenn er selbst noch ganz unverdorben ist. Da er keinen Begriff haben konnte von meiner Schlechtigkeit, weil er überhaupt nicht zu ahnen vermochte, daß es Teufel meiner Gattung in dieser Gestalt und in so zarter Jugend auf Erden gebe, ließ er kein Mittel unversucht, sich mir zu nähern. Ich, seine Schüchternheit durchschauend, kam ihm sittlich entgegen, war schlau genug, ihn über mich und meine Eigenschaften zu täuschen, spielte die Vorwurfsfreie, die nur aus Liebe für ihn sich schwach zeige, und schloß auf diese Art ein Bündnis, das ihn beglückte, das er als ein unauflösliches betrachtete. Dies tat ich, weil ein solches Spiel mir neu war, anfänglich ohne tiefere Empfindung. Ja, ich verspottete seine Leichtgläubigkeit, indem ich ihm Treue schwur. Aber das dauerte nicht lange. Der wahren, aufrichtigen Feuerglut heißer Liebe widersteht fühllose Härte zuletzt doch auch nicht. Während ich noch wähnte, dies Verhältnis zu beherrschen und ihn von mir zu stoßen, sobald es mir nötig scheinen würde, war Reinhard schon der Herr meines Willens geworden. Ich ging ernstlich mit mir zu Rate, und ich entdeckte, daß ich für ihn empfand, was ich noch nie empfunden. Zuerst erschrak ich vor mir und meinen Gefühlen; sah ich doch meine wilde Freiheit gefährdet! Ich wollte mich losreißen; ich versuchte, ihm untreu zu werden. Vergebliche Mühe! Die Wahrheit brach durch, das Reich der Lüge war zerstört, die Sünde lag bloß und nackt in ihrem Schlamme zu meinen Füßen – ich gehörte ihm! Doch zugleich begriff ich, daß ich seiner Achtung, seiner Treue, daß ich seiner nicht würdig sei! Und dies durfte ich ihm nicht verschweigen. Der Arme! Wie bleich und erschüttert stand er vor mir, als ich meine Bekenntnisse ihm ablegte, als ich ihm enthüllte, wen er Geliebte nenne! Nein, ich schonte mich nicht. »Tritt mich in den Kot, aus dem du mich erhoben hast«, rief ich ihm zu; »wirf mich zurück in den Pfuhl, dem ich entstiegen bin, deine reine Seele durch den Hauch dieses Atems zu beflecken; töte mich, – aber verzeihe mir!« Und er hob mich auf und sagte nur: »Was du warst, bevor du mich kanntest, darf ich nicht richten, noch verdammen; die Frage ist nur, was du warst, seitdem ich dich liebe, was du wurdest, seitdem du mich liebst: was du sein wirst und willst, so lange wir uns lieben werden. Und deshalb frage ich dich: bist du mir treu gewesen von der Stunde an, wo du mein warst? Willst du mir treu sein und bleiben aus frohem Herzen und freiem Willen bis zum Tode? Und kannst du diese Frage mit einem entschiedenen Ja beantworten, jetzt, zu dieser Stunde, so werde ich um so sicherer an dich glauben, je ungeheurer deine freiwilligen Geständnisse sind; werde um so fester an dir halten, je höher du dich zu erheben vermochtest durch deine und meine Liebe. Trennen von dir kann ich mich nicht mehr. Erwiderst du Nein, dann sprichst du mein Todesurteil, doch sterbend will ich dich noch segnen, daß du die Wahrheit gesprochen. Kannst du Ja sagen, dann ist es unser beider Leben.

– Ich sagte Ja! Ich durfte es sagen mit gutem Gewissen. –

»Mein Vater sah die Liebschaft, die seine ›einträglichste‹ Tochter mit einem unbemittelten Studenten unterhielt, nicht günstig an. Noch ungünstiger mußte eine Geliebte, die sich allabendlich auf dem Seile schwang und ihre Reize unweiblich zur Schau trug, Reinhards religiösen, bürgerlichen Verwandten erscheinen. Gedrückt, gescholten, gestört von beiden Seiten, entschlossen wir uns zur Flucht. Reinhard hatte schon früher mancherlei Versuche gemacht, sich gewagten Theorien hinzugeben, die Luftschiffahrt betreffend. Einem Charakter von seiner Energie war das Bücherleben stets lästig gewesen. Ihn trieb es, zu wagen, zu gewinnen! Ein bestimmter Zweck nur hatte ihm gefehlt, nach außen zu streben. Dieser zeigte sich nun. Er durchbrach seine Ketten, ich die meinigen, wir entwichen miteinander. Was wir an Geld und Geldeswert besaßen, wurde verwendet, seine Pläne auszuführen. In einer französischen Grenzstadt, wo wir einen stillen Zufluchtsort gefunden, begann und vollendete der in allen mechanischen Geschicklichkeiten geübte Reinhard seinen großen Luftballon, mit vielfältigen neuen Verbesserungen ausgestattet, die er selbst ersonnen. Seine erste Probefahrt unternahm er, ohne sie vorher öffentlich anzukündigen. Da sie über alles Erwarten günstig ausfiel, ließ er ihr bald eine zweite folgen, die ein ansehnliches Publikum versammelte und uns eine gute Einnahme brachte. Von nun an schien uns alles gelingen zu wollen. Wir durchstreiften ganz Frankreich, England, und in allen Städten erntete Reinhard Geld und Ruhm. Die Besorgnisse, die ich anfänglich gehegt, wenn ich ihn sein Leben einem so gebrechlichen, dünnen Fahrzeuge anvertrauen sah, schwanden gänzlich durch die Macht der Gewohnheit. Wie zu einem Spaziergange durch Feld und Flur sah ich ihn zu jeder neuen Fahrt sich rüsten, winkte ich ihm lächelnd ›viel Vergnügen‹ nach, wenn er von mutiger Freude strahlend emporstieg. Ich liebte ihn mit einer Innigkeit, die sich durch Worte nicht beschreiben läßt; ich lebte nur in ihm, nur in meiner Anhänglichkeit für ihn. Seine Sanftmut legte meinen üblen Gewohnheiten den mildesten Zwang auf. Ich besserte mich, ich wurde gut, weil es mich glücklich machte, ihm zu gehorchen, ihm nachzustreben. Ich glaube nicht, daß auf dieser Erde noch zwei Menschen leben, die so glücklich miteinander sind, wie ich mit ihm war. Wir waren nie getrennt, auch nicht auf Viertelstunden, außer wenn er in die Luft stieg. Und daß ich, während er die blauen Räume durchflog, auf der Erde weilen mußte ohne ihn, blieb die einzige Einwendung, die ich gegen seine Wagnisse vorzubringen wußte. Ich beneidete die Wolken, durch die er drang, ich fühlte Eifersucht gegen die Adler, die sich ihm nähern durften. Da schlug er mir vor, ihn zu begleiten, halb scherzend, und war nicht wenig erstaunt, als ich seinen Vorschlag feurig ergriff. Er durfte sein Anerbieten nicht mehr zurücknehmen, ich ließ ihm keine Ruhe. Wir gingen ohne Aufschub an die Arbeit, einen zweiten größeren Ballon zu bauen; schon der nächste Sommer fand uns bereit, die gemeinschaftliche Reise anzutreten. Ich zählte vor Ungeduld Stunden und Minuten; der Gedanke, mit ihm vor aller Blicken mich erheben, mir sagen zu dürfen, er ist dein, du bist sein, und so schwebt ihr, ein seliges Paar, zu den Sternen hinauf, machte mich schon im voraus rasend vor Entzücken. Wenn ich dabei wider Willen an Gefahr denken mußte, so dachte ich nichts als meinen – unseren Tod. Und Tod mit ihm! Was konnte das anderes sein als Leben? Ich fürchtete nicht den Tod an Reinhards Seite; ich forderte ihn höhnisch heraus, ... und er übte die furchtbarste Rache.

Wir stiegen vor einer unermeßlichen Schar von Gaffern, die dem jugendlich schönen Paare laute Bewunderung zollten. Im Augenblicke, wo man die Stricke losließ und der umfangreiche Luftball sich mächtig hob, umschlang ich mit dem linken Arm den Geliebten, mit dem rechten schwenkte ich über den Rand der Gondel hinaus eine Fahne, wie triumphierend über unser Glück.

Obwohl wir mit ungemeiner Schnelligkeit emporflogen, regte sich doch in mir nicht eine Spur von Besorgnis; je höher wir drangen, desto wohler fühlte ich mich, und in diesem Gefühle übersah ich, daß Reinhard unruhig, ja ängstlich wurde. Endlich aber konnte mir trotz meiner übermütigen Stimmung nicht länger entgehen, wie er sich vergebens bemühte, das Ventil, das hoch oben am Ballon angebracht ist, zu öffnen. Auf meine Frage, wozu, erklärte er mir, der Ballon sei zu stark gefüllt, es habe ein Versehen stattgefunden, und nun könne er die Klappe, durch die der Überfluß an Gas ausströmen solle, nicht öffnen, weil die Schnüre sich verwickelt hätten. »Was kann uns geschehen?« fragte ich, ohne mit der Stimme zu beben.

»Wir fliegen immer höher«, sprach er, und indem er sich zu trübseligem Lächeln zwang, fuhr er fort: »Möglicherweise gelangen wir in die Sonne!« »Laß uns im Monde bleiben«, rief ich ihm zu, »der Mond ist der Stern der Liebe!« – Doch kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als auch schon unser Flug gehemmt schien und wir zuerst langsam, dann immer schneller sanken. Ich sah Reinhard forschend an. Er wies nach oben – der Ballon war geborsten, durch einen großen Riß entleerte er sich unglaublich schnell.

Wir schwebten über einer öden, menschenleeren Waldstrecke. Um diese zu vermeiden und womöglich eine freie Fläche zu gewinnen, bevor wir den Boden erreichten, wurde aller Ballast ausgeworfen, doch vergebens. Die Erleichterung der Last stand in keinem Verhältnis zur Abnahme der tragenden Kraft: diese wurde von Augenblick zu Augenblick geringer; unser Fallen glich beinahe einem Sturze: mir vergingen fast die Sinne, Reinhard behielt vollkommene Fassung. Er band sich das Ende eines Strickes, nachdem er das entgegengesetzte an die Gondel befestigt, um den Leib, er sah den Moment, wo wir eine Lücke im Walde unter uns hatten, sprang tollkühn hinab, erreichte mit seinen Füßen glücklich den Erdboden und wendete jetzt alle Kräfte an, den Ballon bis zum nächsten Baume zu zerren, an dessen Stamm er sich klammerte und sodann den Strick befestigen wollte. Doch er hatte nicht berechnet, daß, von dem Gewicht seiner eigenen Schwere befreit, das zerrissene Gewebe sich noch einmal erheben könne. Dies geschah, und mit so tückischer Gewalt, daß der Unglückliche in fruchtlosem Widerstreben vom Boden aufgezogen wurde. Ich streifte über die Wipfel der hohen Bäume hin und zerrte den gemißhandelten Leib meines Geliebten hinter mir her; ehe ich noch mit blutenden Fingern den Knoten gelöst, den er in seiner Todesangst für mich doppelt fest um die Gondel geschlungen, war sein Haupt schon zerschellt an den Ästen der starren, fühllosen Bäume. Die Gondel blieb in den Zweigen hängen. Ich kletterte hinab. Ich band den Leichnam los. Ich warf mich über ihn ...

Das übrige ergibt sich von selbst. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, hoffe ich, warum ich die Luftschifferei fortsetze. Die Leute wähnen, weil es ein einträgliches Gewerbe sei für eine so junge, schöne Witwe. Was kümmern mich die Leute? Sie haben gesehen, wie gering ich das Geld achte. Ich wage mein Leben in der Erinnerung an den, der auf diese Weise das seinige verlor; ich wünsche zu sterben gleich ihm. Ich denke nur seiner, wenn ich, abgeschieden von diesem Erdgewühl, hoch über eurem Jammer in Lüften hause. Dann glaube ich seine Nähe zu fühlen, und eines Tages, meine ich, wird er kommen, mich zu sich zu rufen. Vor den Menschen zeige ich mich lustig, keck, vielleicht frech! Warum soll ich mich dem Gesindel zeigen, wie ich bin? Sie verstehen mich nicht; ich habe als Kind schon gelernt, jung und alt zu verachten. Daß ich Ihnen mein Herz geöffnet, kaum weiß ich selbst, warum. Vielleicht verdienen Sie's nicht? Doch es ist geschehen! Und nun leben Sie wohl. Ich danke Ihnen noch einmal für Ihren Beistand; er war mir willkommen. Denn, suche ich schon den Tod, siegt doch in solchen Augenblicken immer wieder des Lebens angeborener Trieb. Auch will ich nicht unten, nicht auf dem schlechten Erdboden enden. Mein Reich ist die freie Luft. Hört Gott mein Gebet, dann sendet er mir einen seiner Blitze, der mich in Feuer hüllt, wenn um mich her die schwarzen Wolken krachen. – Viel Glück, Vagabund, auf die Reise! Jetzt gehe ich schlafen.«


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