Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundsechzigstes Kapitel

Mirabel kam Antons Wünschen zuvor. Der Frühling trieb ihn ohnehin aus der Stadt auf ländliche Weide. Sie schlossen einen neuen Vertrag, erneuerten vielmehr den alten und sagten dem lieben E. Valet.

Von ihrem Leben auf den Landschlössern, in den Beamtenhäusern, die beide nun wechselnd bezogen und nach vierwöchentlichem Aufenthalte wieder verließen, ist wenig zu berichten, was unseren Anton angeht. Immer die alte Leier: gedankenloses Hergeigen der alten Tanzmelodien; dann aber, sobald dies überstanden: Einsamkeit im Feld, im Freien, im Grünen. Da lebte der junge Mann recht eigentlich seiner männlichen Entwicklung, da lernte er denken, indem er verglich, erwog und sinnend an sich bildete.

Was ihn umgab, ließ ihn gleichgültig. Was er durchlebt hatte, galt ihm nur insofern noch für wichtig, als er die Eindrücke zu erforschen strebte, welche die Vergangenheit ihm bleibend hinterlassen. Was er noch durchleben werde, glaubte er mit Fassung erwarten zu dürfen.

»Es ist gleichviel«, meinte er, »was mir begegnet; nur darauf kommt alles an, wie ich dem Unvermeidlichen begegne, wie es mich findet!«

Es gelang ihm, jener einförmigen, leeren Existenz, mit der um des lieben Broterwerbes willen die schöne Jahreszeit gleichsam vergiftet wurde, eine heitere Stirn entgegenzustellen, seine Verpflichtungen gegen Mirabel und dessen Schülerwelt zu erfüllen, wie wenn er sie noch so gern erfüllte und niemand durch trübe Mienen oder mürrisches Wesen entgelten zu lassen, daß er nicht mehr in Hedwigs Nähe lebte.

Wenn jemals ein junger Mann den Beinamen »der Liebenswürdige« verdiente, so war dies unser Freund, jetzt, nachdem er im Feuer der Leidenschaften, des Grames, der Entsagung dreifach geläutert, jene männlich heitere Ruhe gewonnen, die durch milden Ernst so wohl tut, die uns an erfahrenen Weltmännern bezaubert, die aber bei Jünglingen, die erst im Begriff stehen, Männer zu werden, unter die seltensten Vorkommenheiten gehört, – und zwar aus einfachen, natürlichen Gründen! Schade nur, daß Antons gegenwärtige Stellung so wenig Gelegenheit darbot, diese seine Liebenswürdigkeit in ihr volles Licht zu setzen. Diejenigen aus den ländlichen Umgebungen, mit denen sein Verhältnis ihn in Verkehr brachte, wußten das nicht zu würdigen, was an ihm außerordentlich war; und diejenigen, die befähigt gewesen wären, ihn zu erkennen, kamen mit dem Geiger des Herrn Mirabel durchaus nicht in Berührung; sie begnügten sich zu sagen: »Aus welchem Wasser muß doch eine so lächerliche Personage, wie unser alter Tanzmeister, diesen Musikanten gefischt haben? Der junge Mensch sieht manchmal darein, als ob er jemand wäre!«

So rückten die Hundstage heran mit ihrer drückenden Hitze.

Jean Paul in, ich weiß nicht, welchem seiner humoristischen Stilleben, segnet das Andenken des braven Mannes, der die Schulferien dieser glühenden Tage erfand, und möchte seinen Schädel küssen. Wir selbst wissen uns auf den Wert derselben gar wohl zu besinnen, und wenn wir sie als Schüler uns vergönnten, so vergönnen wir sie in reiferen Jahren zwiefach den armen, gepeinigten Lehrern. Mirabel sollte sie nicht genießen. Im Gegenteil, für ihn wurden sie Tage doppelter Anstrengung. Denn aus den geschlossenen städtischen Schulen ergossen sich freigelassene Schüler in Strömen nach allen Richtungen ihrer ländlichen Heimat; und war es den wilden Knaben zu heiß gewesen, im engen Raume des Gymnasiums über alten Autoren zu sitzen, so konnte die glühendste Sonne doch keine Temperatur zustande bringen, die das bewegliche Völkchen verhindert hätte, sich mit Mühmchen, Basen und Schwestern herumzuschwenken. Die Tanzlektionen kamen nun erst recht in Gang. Monsieur Mirabel hatte alle Hände und Füße voll zu tun. Diesen gewaltsamen Anstrengungen war der alte Herr nicht mehr gewachsen. In einer Nachmittagsstunde, wo das Thermometer nach Reaumur einundzwanzig Grad über Null im Schatten deklarierte, rührte den Unermüdlichen der Schlag. Der Dorfbader ließ das Blut des wohlbeleibten Greises zwar schonungslos fließen – doch vergebens. Herr Lemonier-Mîrabel de la Garde, de la Tour d'Auvergne verhauchte sein hundertjähriges Leben im Kreise staunender Schuljungen, die ihn mit feuchten Augen umstanden, denn sie hatten den alten Narren gern gehabt. Die letzten Warte des Sterbenden waren: »Main droite! main gauche! les cavaliers en avant! – et vive l'Empere ...!«

Sie ließen ihn begraben.

Aber die Welt hat es an sich, daß sie auch auf Gräbern tanzt. Und es ward an Anton die Frage gerichtet, ob er nicht zu den künftigen Tanzstunden weiter aufspielen wollte. Man werde versuchen, sich ohne Lehrer zu üben. Anton, als Knabe schon in Liebenau für einen guten Tänzer bekannt, mit Mirabels ganzer Schulweisheit bis in die kleinsten Flüche hinein vertraut, warf sich ohne weiteres zum Erben des Verblichenen auf. Da konnten Eltern, Knaben und Mädchen sich nicht genugsam verwundern und konnten es nicht genügend loben, wie der unbewegliche Geiger, der bisher nichts gerührt als Arm und Bogen, jetzt mit einem Mal Leben gewann, Lebendigkeit, Ausdruck und Sprache! Wie so ganz anders als Herr Mirabel er dem Tanze Sinn und Bedeutung verlieh; wie die Grazien auf seinen Ruf erschienen, der tobenden Schar Ordnung und Mäßigkeit beizubringen. Anton war wieder ein Antoine geworden, allen früher gefaßten Vorsätzen zuwider; und hätte nicht Hedwigs Schnur auf seinem Herzen gelegen, sich sanft an die Brust schmiegend, wer weiß, ob Antoine unter den Schülerinnen nicht eine Laura herausgefunden.

Anton fand keine, weil er keine suchte. Dagegen ergötzte ihn die Beobachtung, wie in dem jungen, heranwachsenden Völkchen sich alles zeigte, – wenn auch in verkleinertem Maßstabe – alles, was diese Erde und ihre Bewohner in Haß und Liebe, in Edelmut und Neid bewegt. Er wurde, ohne danach zu streben, der Vertraute jener schon halb verderbten, halb noch schuldlosen Neigungen, die das Mädchen zum Knaben zogen, die den Knaben in Feindschaft gegen einen kleinen Nebenbuhler entbrennen ließen.

Ein Tanzlehrer – man lächle nicht! – ist für die sich entwickelnde Jugend der wichtigste von allen Lehrern. Nicht, daß er auf edle Gefühle großen und nützlichen Einfluß üben könnte! Wohl aber, indem er, leichter wie jeder andere Lehrer, durch Wort, Beispiel und Tat die schädliche Einwirkung auf seine Schüler wie Schülerinnen geltend zu machen Gelegenheit findet. Deshalb, sage ich, ist er wichtig, das heißt: es ist für Eltern und Erzieher wichtig, zu wissen, wem sie ihre Pflegebefohlenen anvertrauen, wenn es auch sonst nach vieler Ansicht höchst unwichtig scheinen möchte, ob das Tanzen überhaupt gelehrt werde oder nicht. Anton hatte diese Bemerkung schon gemacht, während er nur Orchester war, und hatte deshalb das Benehmen der sieben Mütter in E., die stets als Observationskorps zugegen gewesen, höchlichst billigen müssen. Desto mehr glaubte er sich wundern zu dürfen, jetzt auf dem Lande in recht vornehmen und vornehm tuenden Familien wie auch in minder anspruchsvollen Häusern eine bis an Leichtsinn grenzende Gleichgültigkeit zu finden. Man überließ die junge Welt sich selbst und ihm bei den Lektionen.

Wie gut, daß er Hedwigs Schnur auf dem Herzen trug!

Es befanden sich unter den Schülerinnen einige Mädchen, die schon erwachsen und bei all ihrem adligen Hochmut herablassend genug waren, den zum Tanzlehrer beförderten Violinspieler auf eine fast zudringliche Weise auszuzeichnen. Anton tat hier zum erstenmal in seinem Leben Blicke in die wirkliche »vornehme Welt«, – denn was ihm zu Bärbels Zeiten davon vor Augen gekommen war, konnte nicht dafür gelten.

Da man ihn mit den Hausoffizianten speisen ließ, war auch dafür gesorgt, daß er über alles, was er gesehen und was ihm noch dunkel geblieben wäre, weil seine angeborene Ergebenheit ihn verhinderte, das Schlimmste zu glauben, die unumwundensten Auslegungen empfing.

»Nun«, sagte er manchmal des Abends, wenn er von Stundengeben und Musikmachen ermüdet sein Lager suchte, »mag es sonst sein, wie es will in der hohen Gesellschaft, eins steht fest: bei Guillaumes ging es in gewissen Punkten kaum so toll zu. Und was die stolzen Damen hier herum betrifft, sind unsere Reiterinnen im Vergleich mit ihnen wahre Tugendspiegel gewesen, – der armen Adele gar nicht zu gedenken.«

Es war schon spät im Herbste, da er nach Beendigung aller vom seligen Mirabel abgeschlossenen und auf ihn übergegangenen Engagements in dieser Gegend einige Meilen weiter auf eine große Besitzung verschrieben ward, wohin man ihn mehr seiner angenehmen Erscheinung und seines entsprechenden Betragens halber als wegen seiner Talente für den Tanz bestens empfohlen hatte. Er dankte dem guten Glücke, aus all den Schlingen, die alt und jung, von der Gnädigsten bis zur Kammerkatze herab, ihm legen wollten, mit heiler Haut und unausgekratzten Augen entkommen zu sein, und begab sich nach dem Orte seiner neuen Bestimmung, wo er im Oktober anlangte.

Hier wehte ihm ein anderer Geist entgegen. Von Frivolität, wie er sie kürzlich kennen gelernt, schien hier keine Spur zu entdecken, vielmehr waltete eine fast herrnhutische Neigung zu frömmelnder Strenge vor, in der aber durchaus keine Heuchelei zu bemerken war. Der ernste Ton des Hauses reichte bis auf die Dienstboten, die sämtlich ein wenig erstaunt dareinblickten, einen Jünger sündlicher Tanzluft aufnehmen zu müssen. Das Rätsel löste sich doch bald. Die mittlere Tochter des Gutsherrn (Anton fand sich durch die Dreizahl der Töchter an Liebenau erinnert, wiewohl sonst nicht die geringste Ähnlichkeit der Verhältnisse auffiel) sollte Braut werden; der Bräutigam wurde, wie die Dienstboten sich ausdrückten, auf Brautschau erwartet. Und da diese Verbindung des unseligen Geldes wegen erwünscht, – ja notwendig erschien, so hatten sich die frommen Eltern entschlossen, von ihren religiösen Ansichten einmal abzugehen und den Töchtern in aller Eile einen Anhauch von weltlichem Firnis zukommen zu lassen. Binnen drei Wochen – denn nach Ablauf dieser Frist wurde »Graf Louis« erwartet – verlangte man, daß Antoine Wunder gewirkt und den Schwestern, hauptsächlich der zum Opfer auserwählten, beigebracht haben sollte, was bis auf diesen Augenblick wie unnütze, vielleicht sträfliche Tändelei gar nicht geübt worden war. Er selbst nannte die Unterrichtsstunden, die er – natürlich in Gegenwart von Mutter und unterschiedlichen alten Tanten – den linkischen, verlegenen, bleichsüchtigen Mädchen täglich dreimal zu erteilen hatte, eine Pferdearbeit. Und er mußte sich häufig über dem sündhaften Wunsche ertappen, daß es ihm vergönnt sein möge, nur ein bißchen von den frivolen Anlagen seiner kürzlich verlassenen Schülerinnen auf die unbewegliche, leblose Kälte der jetzigen zaubern zu können, – sollte es auch mit Gefahr für der letzteren Sittsamkeit geschehen!

»Hedwig war doch gewiß ein Musterbild von jungfräulicher, züchtiger Tugend. Aber wie gewandt war sie dabei, wie graziös, – die beste Tänzerin von allen achten! Diese drei tanzen wie bleierne Vögel. Gott verzeihe mir's, ich glaube, sie haben krumme Beine, weil sie so viel auf den Knien beten müssen!«

Durch dergleichen Betrachtungen versuchte sein Unmut sich Luft zu machen. Doch die Erleichterung blieb nur gering, und er sehnte sich sehr ungeduldig nach der baldigen Ankunft des verheißenen Brautwerbers, die ihn seiner Lehrerwürde entbinden und ihm gestatten würde, nach E. zurückzukehren, wo er ebenfalls versuchen wollte, die Erbschaft Mirabels zu übernehmen. Denn in E. lebte Hedwig, und wenn er auch auf sie nicht mehr als Schülerin rechnen durfte, war es doch schon ein Glück, in einer Stadt mit ihr zu weilen, – ihr vielleicht bisweilen zu begegnen, – ihr vielleicht gar zeigen zu können, daß die schwarze Schnur ... »Wenn nur der junge Graf schon ins Schloß führe!« stöhnte er von einer Tanzlektion zur anderen.

Und wie wenn sein Stöhnen das Geschick erweicht hätte, der Ersehnte traf wirklich um eine Woche früher ein, als man darauf gerechnet, kam so unerwartet und überraschend, daß er zum Schrecken der Mutter, zum Schauder beider Tanten mitten in eine Tanzstunde platzte.

»Bitte sich nicht stören zu lassen, meine Schönen –« hier hielt er inne. Es ist schwer zu entscheiden, ob er den Faden dieser etwas nach Billardzimmer und Reitstall schmeckenden Anrede abriß, weil er die Schönen nicht schön fand, oder ob er verstummte, weil er einen fern geglaubten, tödlich gehaßten Gegner in Anton vor sich erblickte.

Anton erkannte seinerseits auf den ersten Blick das einst in B. mit Adeles Fahnenstock gezüchtigte Gräflein. Er begriff sogleich, daß hier seines Bleibens nicht sei, benützte den günstigen Vorwand der unterbrochenen Tanzlektion, um sich zurückzuziehen und hatte nichts Eiligeres zu tun, als ein Schreiben an den Herrn des Hauses aufzusetzen, worin er sich entschuldigte, daß er genötigt sei, plötzlich abzureisen und so den Unterricht abzukürzen. Als er dies Briefchen einem alten Diener übergab, konnte er nicht umhin, an denselben noch eine Frage zu richten, ob denn wirklich dieser kindisch aussehende, wüste Jüngling als künftiger Bräutigam erschienen sei. Der Alte, eingeweiht in die Familienverhältnisse, bestätigte es und gab Gründe dafür an. Von seiten seiner Herrschaft die schon erwähnte Notwendigkeit, Geldrücksichten zu nehmen; von seiten der Eltern Louis' die Hoffnung, daß ihr leichtsinniger Sohn in so ernsten und strengen Umgebungen auf die Bahn der Frömmigkeit und Tugend zurückgeführt werden solle! Anton kannte sich kaum so weit beherrschen, daß er ein lautes Hohngelächter unterdrückte; er verließ den treuherzigen Betbruder in Livree und begab sich nach dem Dorfe, wo er ein Fuhrwerk mietete, das ihn und seinen Kram noch an diesem Nachmittage fortschaffen sollte; er bestellte dasselbe, um kein Aufsehen zu machen, an einer Hintertür des Gartens, schlich sich dann auf sein Zimmer, wo er zusammenpackte, rief einen Hausknecht zu Hilfe und machte sich mit diesem und seinem Gepäck auf den Weg, um den bestellten Wagen unbemerkt zu erreichen. Leider mußten sie hinter einem Boskett vorüber, in welchem Louis mit den Damen, welche die letzten Strahlen einer matten Herbstsonne genießen wollten, beim Teetisch saß. Der alte Diener hatte kurz vorher Antons Scheidebrief überreicht; es wurde darüber geredet. Anton hörte seinen Namen, winkte dem Hausknecht, weiterzugehen und blieb einen Moment lauschend stehen. Er hörte, wie Mutter und Töchter, ihn lobend und seinen raschen Entschluß bedauernd, keine Ursache dafür zu finden wußten. Graf Louis, in übermütiger Laune, in die er durch die Entfernung eines Feindes versetzt war, der, wenn er hier blieb und redete, ihm sehr schädlich werden konnte, meinte sich berufen, eine Ursache anzugeben, und wähnte diese Gelegenheit zur Herabsetzung des Abwesenden und zur Erhebung seiner eigenen Tapferkeit benützen zu dürfen. Er gab alsobald ein Märchen zum besten, das ihn als glorreichen Sieger über Anton darstellte, den er mit den Beinamen eines Vagabunden, liederlichen Herumtreibers, durchgeprügelten Händelmachers reichlich beschenkte. Anton vergaß seine guten Vorsätze, sich durchaus nicht zwischen diese Personen stellen zu wollen; von verzeihlichem Zorne übermannt, trat er vor und führte ohne Schonung gegen einen prahlerischen Lügner die Verteidigung seiner Ehre, indem er die reine Wahrheit erzählte. Dieser gegenüber blieb Graf Louis stumm; sein Schweigen wurde zum Ankläger und Richter für ihn in der Meinung der Damen.

Welche Folgen diese Szene gehabt und künftig haben sollte, werden wir im weiteren Verlauf unserer Erzählung erfahren. Für jetzt genügt uns, Antons nächste Schicksale zu verfolgen, und wir geleiten ihn nur bis zu seinem ländlichen Stuhlwagen, in dem er ohne weiteres die Reise nach E. antrat.


 << zurück weiter >>