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Neunundzwanzigstes Kapitel

Zwischen den Besitzern der Brandstätte und Madame Simonelli waren die Streitfragen über Entschädigung sehr bald ausgeglichen. Madame zeigte sich als erfahrene Weltfrau, die des Schicksals Fügungen mit Gleichmut hinnimmt. Sie hatte als Tochter, Gattin, Mutter, selbständige Witwe, immer auf Reisen, immer in Wirksamkeit, so viel und so vielerlei erlebt, daß nichts mehr vermochte, sie aus ihrem Gleise zu bringen. Vielleicht auch trug zu ihrer Seelenruhe der Umstand nicht wenig bei, daß sie sich eine reiche Frau wußte, die bedeutendes Vermögen in auswärtigen Banken angelegt. Sie hatte, wie man sich auszudrücken beliebt, etwas vor sich gebracht.

Der Hauswirt wurde nach M. beschieden, um dort vor Gericht seine Ansprüche geltend zu machen und deren Befriedigung zu gewärtigen, zu welcher Madame Simonelli sich verstand, weil sie jeder Untersuchung über die Entstehung des Brandes auszuweichen wünschte. Indem sie ohne Weigerung für eine »vielleicht stattgehabte« Unvorsichtigkeit ihrer Leute einzustehen sich bereitwillig erklärte, vermied sie Forschungen, deren Resultat ihrem Ehrgefühl unerträglich schien.

Pierre begab sich zu Fuße nach der nächsten Ortschaft, Pferde herbeizuschaffen und noch eine Kutsche.

Nicht so leicht schien jener Zwiespalt auszugleichen, der im Innern der Familie nachglimmte. Mutter und Tochter standen im Begriff eine große Szene aufzuführen. Anton ahnte wohl, daß seine Rolle dabei keine glorreiche werden dürfte.

Ein wunderbarer Schauplatz für diese Szenen! Dort die See, über welche ein klarer Herbsttag mild heraufzieht. Hier eine dumpfe Brandstatt, aus der noch immer Flammen zucken, die Suchenden zurückschreckend, welche aus glühendem Schutt mit Gefahr ihrer Gliedmaßen dies oder jenes noch hervorzuholen sich bemühen.

Und am Strande, wie eine vertriebene Herrscherin, Madame Simonelli, Gericht zu halten über eine schuldige Tochter – über einen unschuldig-schuldigen Verräter!

Laura war doch die erste, die redete.

»Das muß ein Ende nehmen«, sagte sie, »wir müssen klar sehen, Mutter.«

»Was das betrifft, meine Liebe, habe ich schon so klar gesehen, daß ich beinahe wünschen könnte, ich wäre blind. Schämst du dich nicht vor unseren Leuten?«

»Und warum sollte ich um anderer willen verleugnen, was ich mir selbst eingestehen darf? Ist mein eigenes Urteil über mich, meine gute Meinung von mir nicht wichtiger für mich als Meinungen und Urteile Fremder? Ich bin frei, unabhängig, habe keine Pflichten außer gegen Sie, meine Mutter, und gegen mich selbst. Die Pflicht gegen Sie habe ich erfüllt. Ich habe Ihrem Wunsche gemäß wie ein Aushängeschild an Ihrer Kasse gestanden, seitdem ich von Herrn Amelot getrennt lebe. Sie wissen am besten, welche Abgeschmacktheiten, welche fade Redensarten ich hinnehmen mußte von albernen Stutzern, die frei umherlaufen durften, während unsere armen Affen eingesperrt waren. Ihnen, meine teure Mutter, mißfiel das nicht, wenn der Schwarm der Anbeter mich umlagerte, weil es Ihre Kasse schwerer machen half. Mir blieben sie alle gleichgültig, ich langweilte mich zum Sterben – aus kindlichem Gehorsam. Da schickt mir der Himmel, oder ich weiß nicht wer sonst, diesen! und ich liebe ihn. Kann ich dafür? c'est plus fort que moi! Was Sie dagegen einzuwenden wissen, habe ich mir ein Jahr lang selbst gesagt. Am Ende half nichts mehr. Ich wurde mit mir einig – und mit ihm! Was kümmern mich die anderen? Und daß in vergangener Nacht solches Unheil über uns kam, ist nicht meine, ist noch weniger seine, ist nicht die Schuld unserer Liebe; nein, es ist die Schuld derjenigen, die mich verhindern wollte, glücklich zu sein, mich, die ich so wenig Glück erlebte, seitdem ich atme, mich, der man wohl ein bißchen Glück gönnen dürfte! Hätten Sie mich nicht gezwungen, ihn zu meiden, so wäre ich nicht entwichen, ihn zu suchen. Doch das versteht sich: der Schade, den ich verursacht, trifft mich allein. In Ihren Händen ist mein väterliches Vermögen. Was Herr Simonelli mir hinterließ, verwalten Sie. Seitdem ich volljährig bin – ja, mein kleiner Antoine, deine Geliebte ist um so viel älter als du, armes Kind; desto schlimmer für uns beide! – seitdem ich volljährig bin, besitze ich darüber die schriftlichen Ausweise. Diese sind von jetzt an ungültig, ich werde sie vernichten, auf mein Ehrenwort! und habe dann nichts mehr von Ihnen zu fordern. Hunderttausend Frank werden hinreichen, meine Mutter, damit Sie nach London gehen und neue Tiere akquirieren – wenn Sie denn doch einmal nicht aufhören wollen oder können, in der Welt herumzureisen. Für hunderttausend Frank kaufen Sie den halben Tower aus. So wäre denn die Sache in Ordnung.«

»Das nennt sie ›in Ordnung‹! Unglückliches Weib, wovon wirst du leben?«

»Ich habe meine kleine Privatkasse, Sie wissen ja, und meinen Schmuck. Es ist genug für mich und ihn, um in die Welt zu laufen. Das Weitere findet sich. Fürchte nichts, Antoine, nimm meine Schatulle, halte sie, sie ist dein. Wir haben genug –«

»Auf wie lange? Närrin, ohne Verstand, ohne Erfahrung! Leichtsinniges, gutherziges Kind! Deine paar Frank willst du hinopfern und kannst wähnen, die Mutter werde das annehmen? Ich sollte dich schlagen für solche Zumutung. So weit ist es, Gott sei Lob, noch nicht mit Madame Simonelli gekommen, daß sie nötig hätte, ihrer schönen Tochter Eigentum zu stehlen, wenn sie eine neue glänzende Menagerie etablieren will. Was dein ist, bleibt dir! Und was mein ist, kommt dazu, nach meinem Tode. Und Madame Amelot muß eine reiche Frau sein, aller Welt und allem Feuer zum Trotze! Komm' in meine Arme, Laura. Ich war auch jung, ich besinne mich auf ähnliche Torheiten aus meinem Leben. Ich kann meiner einzigen Tochter nicht zürnen! Ich verzeihe dir.«

Und sie umarmten sich im Angesicht der See – der Sonne –, Antons, welcher letztere den schlimmsten Stand hatte, in den ein junger, braver, tatkräftiger Bursch versetzt werden kann: Weiber über sich und sein Geschick verhandeln zu hören, ohne Berechtigung, den Ausschlag zu geben.

Durch die Versöhnung mit ihrer Mutter errang Laura die Erlaubnis, mit dem Manne, der niemals ihr Gatte werden durfte – es sei denn, Herr Amelot wolle vorher aus besonderer Gefälligkeit sich das Genick abstürzen –, in die Welt zu ziehen, während Mama nach London ging, Tiere anzukaufen. Pierre und Jean mußten als Vertraute und geübte Männer vom Fach gleichfalls dahin. Die große Wasserreise von M. aus nach London zu wagen, schien es schon zu spät im Jahre. Madame Simonelli zog vor, den Weg durch Deutschland und Frankreich bis nach Calais zu nehmen. Sie behielt ihre wohl eingerichtete Reisekutsche, als Gesellschaft den kleinen Seidenaffen, nächst Koko das einzige unverbrannte von so vielen Tieren. Pierre begleitete sie. Jean erhielt Geld und die Weisung, sich auf eigene Hand nach London zu begeben.

Der Abschied war herzlich genug, aber kurz, resolut, wie er es immer bei Personen ist, die seit ihrer Geburt an Trennung, Entfernung und Wiedersehen gewöhnt sind.

Anton, teils aus aufrichtiger Anhänglichkeit für seine Wohltäterin, denn das war ihm die Simonelli wirklich gewesen, teils aus Verlegenheit, seiner peinlichen Stellung wohl bewußt, versuchte dem Lebewohl einige schwiegersöhnliche Färbung zu geben, wurde jedoch mit diesem Versuche völlig in die Flucht geschlagen.

»Junger Mann«, redete die rüstige Frau ihn an, bevor sie in den Wagen stieg, »wir scheiden freundlich, doch nicht als Freunde. Ich kann denjenigen nicht für einen Freund meines Hauses ansehen, der sich zwischen mich und meine Tochter stellte. Als Laura wider meinen Wunsch Madame Amelot wurde, sagte ich ihr voraus, was geschehen ist. Diesmal will ich nicht prophezeien; das Verdienst, die Wahrheit vorher zu künden, wäre zu gering. Übrigens wünsche ich gute Reise und viel Vergnügen – so lange es dauert!«

Der Postillon blies ins Horn.

Laura und Anton blieben sich selbst überlassen und ihrer Zärtlichkeit – und das war vielleicht das Schlimmste, was ihrer jungen Liebe, sollte sie ja zur alten reifen, widerfahren konnte. Von der Stunde an, wo jedes Hindernis verschwindet, welches Sehnsucht von Gewährung trennt, beginnt auch gewöhnlich die Sehnsucht zu schwinden.

Bei Anton, dem überraschten Neuling, schien die erste Wirkung des sicheren, ungestörten Besitzes günstig, sie gab ihm die Haltung eines neuvermählten, zufriedenen Gatten.

Für Laura, wo der Reiz dieser Täuschung nicht vorwaltete, wurde schon der Anfang ihres Honigmondes bedenklich. Der kleine Krieg gegen die Mutter hatte sie so hübsch beschäftigt, jetzt gab es keine Aufpasserin mehr, die jeden verbotenen Blick, jeden inbrünstigen Seufzer überwachte. Dafür lauerte bereits der Überdruß und gähnte schon bisweilen hinter den Gardinen hervor.

Sein Glück recht aus dem Vollen zu genießen, hatte unser Paar sich gleich in M. festgesetzt. Violinspiel, Gesang, Gitarrengeklimper, Lektüre sollten sich, anderen Blumen gleich, durch die Rosen der Liebe schlingen.

Wäre nur irgend eine Störung von außen eingedrungen, hätte nur irgend ein verdrießlicher Umstand sie gütigst beunruhigen wollen! – Doch so gut sollte es ihnen nicht werden. – Vor lauter Seligkeit und Wonne gerieten sie schier in Verzweiflung.

Anton, zu wahr und ehrlich, um eine Zufriedenheit zu erheucheln, die ihm fehlte, und deren er seine schöne Hälfte schon früher verlustig gesehen, öffnete nach einigem Kampfe sein Herz.

»Was soll aus mir werden, Laura? Ich empfinde in mir eine Leere, welche sogar durch deine Gunst und deinen Besitz nicht ausgefüllt scheint. Ein Ziel müssen wir uns doch setzen, einen Zweck muß ich doch suchen, den ich erreichen will! Ich kann doch mein Leben nicht vergeuden, indem ich von deinem Gelde zehre und – wenn ich auch nicht müßig gehe – doch nichts fördere. Wie lange sollen wir hier noch verweilen? Sage, Laura, meinst du nicht auch, daß ich ein Geschäft unternehmen, daß ich etwas beginnen dürfte?«

»Antoine, du redest, als ob du meiner schon satt wärest!«

»Du weißt am besten, wie wenig das möglich ist. Doch leugne, wie du willst, auch du spürst das Bedürfnis, diesen traurigen Ort zu verlassen. Auch du ahnst, daß ein fauler Tagedieb dich bald belästigen könne.«

»Übe dich nur auf deiner Geige!«

»Tue ich's nicht? Alle Mäuse im ganzen Hotel können mir's bezeugen. Aber was hilft mir das? Ein großer Künstler zu werden, dazu gehört mehr.«

»So mache wieder Körbe.«

»Spotte nicht. Jene glücklichen Tage sind vorüber, wo ich mir daran genügen ließ. Nein, Laura, ich hätte wohl eine Idee ... doch wirst du sie verlachen. Sie ist kühn – vielleicht gar toll.« –

»Dann heraus damit! Je toller, desto besser wird sie mir zusagen!«

»Mein Violinspiel ich nicht bedeutend genug, und ich habe auch zu wenig Schule, zu wenig musikalische Kenntnisse, um als Virtuose zu glänzen. Aber an Bravour fehlt es mir doch nicht, und manches Stückchen spiele ich leidlich. Nun habe ich mir so gedacht, es käme nur darauf an, was ich etwa vermag, in einer Art und Weise vorzuführen, die noch nicht da war. An einen Geiger, der neben den übrigen Musikanten steht, werden mit Recht große Ansprüche gemacht, und er muß viel leisten, bis er seine Nachbarn überragt. Wenn aber einer käme, der das Ding ...«

»Willst du vielleicht deine Variationen über nel cor più non mi sento vom Kirchturm herab zum besten geben? Das hätte sein Gutes, man würde die falschen Griffe weniger heraushören.«

»Vom Turme nicht, wohl aber vom Pferde

»Vom Pferde? Warum nicht gar vom Esel?«

»Du meinst, um in meiner Verwandtschaft zu bleiben? Sei nicht boshaft und lasse mich ausreden. Als ich im Zirkus bei Guillaume war –«

»Ah, Madame Guillaume!«

»Laß mich ganz ausreden; unterbrich mich nicht. Und wenn ich fertig bin, ist die Reihe an dir. Als ich bei Guillaume war und ritt, verwunderte er und seine Leute sich über mein angeborenes Reitertalent. Angeboren mußte es sein, denn ich hatte vorher noch niemals ein Pferd bestiegen, wenn du nicht den Ziegenbock so nennen willst, den unser Gemeindehirt in Liebenau zur Ergötzlichkeit seiner Kinder hielt. Mir kam es vor, als ich im Sattel saß, wie wenn ich schon häufig davon geträumt und mich im Traume geübt hätte, wie wenn diese Träume jetzt in Erfüllung gingen. Ich fühlte mich ein ganz anderer Mensch! Du untersagtest mir damals, Guillaume wieder zu besuchen – und ich gehorchte. Das gilt jetzt nichts mehr. Wie wir jetzt miteinander stehen, kann das kein Hindernis meines Planes sein, und du wirst nicht argwöhnen, daß ein armer Junge, dem du dein volles Vertrauen und mit diesem dich selbst geschenkt hast, dich auch nur durch eine Silbe verraten, dich mit Undank belohnen könnte. Wie, wenn wir nun Herrn Guillaume nachreisten, wenn ich bei ihm lernte? An Mut, Gewandtheit, Kraft fürchte ich keinen Mangel. Ehe vier Wochen vergehen, stehe ich auf meinem Rosse so sicher wie der kleine Kerl mit der Lyra dort oben auf dem blaugrünen Ofen steht. Ihre Sättel sind ja breit ausgepolstert und bequemer als manches Kanapee hier im Gasthause. Eine erträgliche Figur will ich schon machen, und daß ich nicht schlecht gekleidet sei, ist Lauras Sorge, die ihren kleinen Herrn Amelot so aufzuputzen verstand, daß er einem Apollo glich, nicht wahr? Eh bien; ich bin schlank. Wenn ich nun mein Solo reitend spiele, nachdem ich es vorher mit Guillaumes sicherem Orchester tüchtig eingegeigt, so macht das Aufsehen. Guillaume engagiert mich. Auf diese Art erwerbe ich etwas, bringe auch etwas in unsere Menage (aus der Manege), gewinne außerdem Zeit, übe fleißig, setze täglich drei Stunden daran, und ehe ein Jahr um ist, jage ich mit dem wildesten Furioso um die Wette – oder ich habe den Hals gebrochen. Im ersteren Falle ist dein Freund ein tüchtiger Mann, den man rasend applaudiert, auf den du stolz wirst! – Im letzteren Falle bist du zum zweitenmal Witwe, und für diesen Fall erteile ich dir heute, noch sehr, sehr lebendig, wie du weißt, heute, wo mein Kopf noch auf heilem Halse steht und blüht wie eine Feuerlilie auf ihrem Stengel, heute schon im voraus die Erlaubnis, mich nicht länger zu beweinen als drei Jahre, drei Monate, drei Wochen, drei Tage und drei Stunden. Hat die dritte ausgeschlagen, darfst du dich nach einem dritten umschauen! Doch siehe zu, ob du wieder einen Antoine findest!«

»Nein, ich finde keinen! Und stirbst du, will ich mit dir sterben! Jetzt erst bist du schön! Jetzt erst liebe ich dich mit all der Liebe, deren ich fähig bin. Du hast recht: Leben und Wagen! Ohne Leben keine Liebe, ohne Gefahr kein Leben! Heute noch lasse uns Anstalten treffen zur Reise! O, ich sehe dich zu Pferde! Du mußt entzückend sein! Diese breite Brust, diese feine Taille, diese aristokratischen Knöchel; ganz comme il faut! Und wie will ich dich kleiden! – Fort mit den geschmacklosen traditionellen Lappen, wie sie um jene plumpen Stallknechte flattern! Fort damit! Wenn du auftrittst, sollen alle Männer vor Neid gelb werden und alle Weiber aus Mißgunst bersten, weil du nicht ihnen gehörst, weil du mein bist! Was? Madame Guillaume? Ich fürchte sie nicht. Wird sie wagen, sich mit mir zu messen? Ich hatte sie nur zu fürchten, ehe du mich kanntest, wie du mich jetzt kennst. Nicht wahr, Antoine?«

»Heute noch bleiben wir hier. Heute noch: nur Liebe! Und morgen ... ins Leben! Auf diese Reise! In die Welt! Glück auf! Glück auf! die Vagabunden!«


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