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Vierundsechzigstes Kapitel

Der Aufenthalt in E. ging mit den Weihnachtsfeiertagen zu Ende. Anton verließ sehr gleichgültig eine Stadt, in der Hedwig längst nicht mehr weilte.

Sie schlugen ihr Theater jetzt abwechselnd in verschiedenen kleineren Orten auf. Der alte Herr nahm zusehends ab; es war, als ob mit dem täglichen Erlöschen von seiner Frau Lebenskräften auch die seinigen dahinschwänden. Er ließ Anton stündlich mehr gewähren; bald lenkte dieser die Fäden des ganzen Puppenspieles, sprach die meisten ernsthaften Rollen, – nur seinen Kasperle ließ sich der graue Meister nicht nehmen, und diesen hätte auch Anton ihm streitig zu machen nimmer gewagt. Aber wie nutzbar der neue Zunftgenosse sich zeigte, wie umfassend seine Kenntnis des mechanischen und geistigen Apparates in wenig Monden geworden, dennoch gab es zwischen ihm und dem Lehrherrn häufig Streitigkeiten, sobald der Lehrling den Meister meistern, Änderungen machen oder Neuerungen einschwärzen wollte. Ihm war unter anderen auch die Besorgung der Anschlagezettel anvertraut, die er natürlich auf Grund der alten, schon vorhandenen drucken ließ. Auf einem derselben befand sich im Personenverzeichnis ein Priester aufgeführt mit der Bezeichnung: »Mufti, Oberbramine in Rom!« Diese Zusammenstellung dreier höchst getrennter Kirchen in eine schien dem Schüler des wohlwürdigen Pastors von Liebenau denn doch gar zu kühn. Als er sich Einwendungen dagegen erlaubte, wurde Herr Dreher sehr ungehalten: »So hat es bei meinem Vater geheißen«, rief er zornig aus, »und ich bin nicht siebzig alt geworden, um mich von meinem Lehrbuben korrigieren zu lassen!«

Dergleichen Zwistigkeiten, die stets durch weibliche Vermittlung ausgeglichen wurden, abgerechnet, ging alles friedlich und still seinen Weg fort. Die kranke Frau, wie sie von Tag zu Tag an Körperkraft und Gesundheit verlor, gewann ebenso von Tag zu Tag in Antons Meinung und Anhänglichkeit. Je genauer und vertrauter sein Verkehr mit ihr wurde, desto aufrichtiger lernte er ihr Gemüt, ihren Verstand, ihr Wissen verehren. Lieb freilich wäre es ihm gewesen, hätte sie sich offenherziger gegen ihn erweisen, hätte sie ihm, der ja doch sein ganzes Leben ehrlich und rücksichtslos vor ihr entfaltete, auch bisweilen einen Blick in ihre Vergangenheit gönnen wollen; eine Vergangenheit, die gewiß höchst interessant und von bedeutenden Erlebnissen, Erfahrungen, Schicksalen voll war. Doch darin blieb sie unerbittlich; sie wich jeder Mitteilung darüber aus und verwies den Fragenden stets auf ihren baldigen Tod. »Dann«, pflegte sie zu sagen, »wenn ich auf der Bahre liege, wird mein Leben klar vor Antons Blicken liegen; eher nicht, lieber, junger Freund! Sie sollen mir gut sein und bleiben, solange ich noch atme. Wer weiß, ob dies der Fall wäre, wenn Sie mein Dasein genau durchschauten! Gönnen Sie der Kranken den Schleier, der ihre traurigen Geheimnisse birgt. Bin ich erlöst von der Last meines gebrechlichen Leibes, bin ich tot, so werden Sie, das weiß ich, das hoffe ich, mir und meinem Andenken eine Träne des Mitgefühls widmen, und diese Träne wird jene schwarzen Flecken verlöschen, die meine Schriftzüge enthüllen sollen. Bis dahin halten Sie mich für eine Bedauernswürdige, die viel gefehlt hat, die schwer büßen mußte, die Ihnen aber treu, mütterlich zugetan bleibt bis zum Grabe und übers Grab!«

Darauf ließ sich nichts mehr sagen; sowohl Bitten als Forderungen mußten da verstummen. Anton begnügte sich, seiner lebenssatten Freundin die Versicherung zu wiederholen, daß er um jenen von ihr gestellten Preis niemals etwas Näheres von ihrer Vergangenheit erfahren möge.

»O dennoch, dennoch!« rief sie aus. »Sollten Sie Ihre Jugend in den Torheiten verderben, denen Sie jetzt obliegen? Das wäre ja fürchterlich für Sie und noch fürchterlicher für mich, die den größten Teil der Schuld trägt, daß Sie bei uns blieben. Nein, Anton, Ihnen winkt eine bessere Zukunft. Wie ich Sie kennen und erkennen gelernt, sind Sie der Mann, sich Bahn zu brechen, wohin ich Ihnen durch meine Handschrift den Weg zeigen darf. Es soll mein Testament sein!«

»Mit Testamenten«, äußerte Anton sehr kleinlaut, »habe ich kein Glück, wie Sie wissen. Möchten Sie lange leben

»Leben«, – flüsterte die kranke Frau. »Ja, leben! Wenn man lebte? Nennen Sie das Leben, was ich führe.«

Darauf blieb er die Antwort schuldig.

Und er begab sich hinter die Bühne, sie setzte sich an den Kassentisch.

*

Das neue Jahr hatte übel begonnen für Drehers Kasse. Im Städtchen, wo sie nach E. zuerst ihr Glück versuchen wollten, war es gar nicht gegangen; im nächsten, wo sie jetzt weilten, ging es schwach; der Zuspruch blieb sehr gering. Eines Abends stand Anton, der hinter der Szene bereits alle Utensilien zurechtgelegt und also bis zum Beginn des Schauspiels noch eine müßige Viertelstunde hatte, am Eingange des Saales, die sparsam erscheinenden Ankömmlinge musternd. Ein Offizier, an einem Krückstock mühsam forthinkend, kam langsam die Treppe herauf; ihn führte sorgfältig ein junges Mädchen. Die Beleuchtung war so schwach, daß unter dem engen Winterhute die Züge der Dame nicht zu erkennen waren. Aber ihr Wuchs, ihre Gestalt, ihre Bewegung, – alles erinnerte Anton an Hedwig. Er sagte sich: »Sie ist es nicht! Sie kann es nicht sein; wie käme sie hierher? Wenn sie im Städtchen wohnte, würde ich es längst wissen; nein, sie ist es nicht!«

Dennoch zitterte er, als sie, die ihm keinen Blick zuwandte, weil sie nur für den verstümmelten Vater Augen zu haben schien, mit diesem und diesen unterstützend an ihm vorbeiging.

Madame Dreher rief von der Kasse zu ihm hinauf; er möge Sorge tragen, daß der Herr Hauptmann in der ersten Reihe gute Plätze finde. Dies geschah in französischer Sprache, die sie immer anwendeten, wenn sie vor Fremden etwas miteinander zu sprechen hatten. Anton erwiderte, es sei kein Platz mehr leer, doch wolle er eiligst Stühle herbeischaffen, und bat den Hauptmann, sich solange zu gedulden. Als er nun die Stühle brachte, und als der ehrwürdige Invalide sich niedergelassen und ihm freundlich gedankt hatte, knüpfte derselbe noch ein Gespräch mit ihm an, ihn fragend, wie er doch zu der vortrefflichen französischen Aussprache gekommen, und ob er vielleicht gar ein Franzose sei.

»Das nicht«, sagte Anton, »aber ich bin viel mit Franzosen umgegangen, – habe auch einige Zeit in Paris verlebt«, setzte er seufzend hinzu.

Da sprach der Offizier: »Sie könnten einem alten armen Haudegen große Freude machen, junger Mann, wenn Sie ihn morgen besuchen wollten. Ich habe eine Bitte an Sie zu richten.«

Anton erklärte sich gern bereit, bat sich des Hauptmanns Adresse aus, – da ertönte Herrn Drehers Glocke hinter dem Vorhang als Anfangssignal fürs Orchester, und der Gehilfe fand eben nur noch Zeit, zu versprechen, daß er sich morgen gegen Mittag einfinden werde. Er mußte auf seinen Posten eilen, ohne entdeckt zu haben, welch niedliches Gesicht hinter dem häßlichen Winterhute verborgen sein möchte.

Die Vorstellung dieses Abends wurde mehrmals unterbrochen und nur kümmerlich zu Ende gebracht, weil die kranke Frau förmlich zusammensank. Man kann denken, mit welchem Herzen sie und der alte Dreher die Scherze vorbrachten, die zu der aufzuführenden Posse gehörten. Auch Anton war vom herzlichsten Mitleid für seine leidende Freundin bewegt und rannte noch bei Nacht, einen Arzt herbeizuholen, der nach langem, vielfältigem Ausfragen und Pulsfühlen mit bedenklichem Kopfschütteln davonging, ohne sich bestimmt auszusprechen. So viel stand am nächsten Morgen fest auch ohne eines Arztes Ausspruch, daß die Kranke, die sich so lange Gewalt angetan und sich mühselig herumgeschleppt hatte, nun außerstande sei, ferner dergleichen zu versuchen; daß sie daniederliegen, und daß fürs erste jede Hoffnung aufgegeben werden müsse, die Puppendarstellung fortzusetzen. Anton ging, den für diesen Tag schon bestellten Zettel aus der Druckerei zurückzuholen. Dann rüstete er sich zu dem Besuche, den er gestern abend zugesagt. – Herr Dreher begab sich ins Bierhaus, um seinen Kummer zu ertränken. Die kranke Frau blieb allein mit der Magd.

Der sogenannte Hauptmann, eigentlich ein Rittmeister, erwartete schon gestiefelt und gespornt Antons Ankunft und ging ihm so rüstig, als die zusammengeschossenen und gehauenen Gliedmaßen gestatten wollten, entgegen. Ohne lange Vorrede kam er auf den Zweck dieses Gespräches: »Sehen Sie, mein Lieber, ich bin als Rittmeister verabschiedet, stehe jedoch auf halbem Leutnantssold, denn weiter hat mich's der Feind nicht bringen lassen; und daß ich als solcher kein Vermögen zurückgelegt habe, werden Sie begreifen. Nun habe ich ein einziges Kind, eine Tochter, dieselbe, die mich gestern begleitete; die ist so arm wie ihr Vater, und wenn ich sterbe, ist sie noch ärmer. Da sind wir denn einig geworden, sie und ich, sie soll versuchen, eine vorteilhafte Stelle als Gouvernante in einem großen, guten Hause zu erhalten. Dafür hat sie sich ausgebildet. Bei ihrem Fleiße, ihrer Umsicht, ihren Anlagen wird ihr das leicht. Sie weiß auch Französisch, so gründlich, wie man's nur aus Büchern erlernen kann, und beim Schreiben wird sie gewiß keinen Fehler machen. Aber mit dem Sprechen, – da sitzt's! Hier, in dem verfluchten, kleinen Neste, wo ich der Ersparung wegen zu leben gezwungen bin, versteht kein Teufel etwas davon und der einzige Sprachlehrer, der hier herumläuft, hat eine Aussprache wie eine spanische Kuh. Ich selbst, obgleich ich lange genug in Frankreich umhergeworfen wurde, habe mehr mit dem Säbel geredet als mit der Zunge und gerade nur so viel gelernt, um zu hören, ob einer gut oder schlecht ausspricht. Die Aussprache aber ist für eine Gouvernante die Hauptsache. Mag es mit Rechtschreibung und Grammatik noch so schwach bestellt sein, wenn sie den »Pariser Akzent« hat, so steht sie gleich hoch in Ehren. Sie reden, das habe ich gestern vernommen, wie ich jemals an Ort und Stelle habe reden hören; das kann ich Ihnen versichern. Ich hätte Sie, als Sie Ihrer Madame an der Kasse zuriefen, Sie wollten Stühle für uns besorgen, gleich am liebsten hinter die Ohren geschlagen, so vortrefflich redeten Sie, und so fest war ich für den Augenblick in der Täuschung befangen, ich befände mich in Paris, und Sie wären einer von unseren Feinden. Nun, sehen Sie, geht mein Wunsch dahin, Sie möchten, so lange Sie sich in diesem Neste aufhalten, meiner Tochter täglich einige Parlierstunden erteilen, mit ihr schwatzen und sie schwatzen machen und ihr dabei sagen, wo sie fehlt. Fordern Sie dafür, was Sie wollen; ich werde es erschwingen; die Sache ist mir zu wichtig, und eine solche Gelegenheit findet sich nicht wieder.«

»Herr Rittmeister«, sagte Anton, »meine Forderung kann gar nicht in Betracht kommen; ich bin reichlich bezahlt durch Ihr Vertrauen, und ich bin gern bereit, ihm zu entsprechen. Auf einen langen Aufenthalt in diesem kleinen Städtchen hatten wir freilich nicht gerechnet. Seit gestern abend jedoch scheint er sich unerwartet verlängern zu wollen. Die Frau meines Prinzipals ist gefährlich erkrankt, an Weiterreisen ist nicht zu denken. Wer weiß, wie weit sich das hinauszieht. Ich werde folglich hier ohne Beschäftigung sein und stehe immer zu Diensten.«

»Es tut mir leid um Ihre Prinzipalin, doch da ich ihr nicht helfen kann, so ist mir's herzlich lieb, daß sie hier krank wurde statt in einem anderen Neste. Das ist ein wahres Glück für uns. Komm' heraus, Hedwig, du kannst deine Übungen sogleich beginnen.«

Bei dem Namen Hedwig sprang Anton vom Stuhle auf, den der Rittmeister ihm dargeboten. Der Vater hätte in des jungen Mannes Gesicht lesen können und müssen, was in ihm vorging, wenn er nicht gerade, nach der Tür des Nebenzimmers gewendet, die Tochter wiederholt gerufen hätte. Hedwig war in der Küche beschäftigt, deshalb erschien sie nicht auf den ersten Ruf. Unterdessen fand Anton Zeit sich zu sammeln. Er beschloß, sein Verhalten von dem der jungen Dame abhängig zu machen und nur dann ihrer früheren Bekanntschaft zu denken, wenn sie es tue. Aber gleich bei ihrem Eintritt überzeugte er sich von zwei Umständen: erstens, daß sie dem Vater gegenüber die Tanzstunden in E. oder vielmehr den Gehilfen des seligen Mirabel ignorieren wolle; zweitens, daß sie ihn erwartet, ihn gestern schon erkannt, ihn wahrscheinlich schon seit seiner Ankunft bemerkt und vielleicht nur deshalb den Vater veranlaßt hatte, das Puppenspiel zu besuchen, worauf der gute Herr sonst wohl nicht geraten sein würde.

Wäre sie nun dem neuen Sprachlehrer wie einem alten Bekannten entgegengetreten, hätte sie unbefangen ausgerufen: »Ei, Monsieur Antoine, finden wir uns hier wieder?« dann dürfte er des heimlich empfangenen Uhrbandes nur wie einer mädchenhaft kindischen Gabe gedacht und keine ferneren Folgen daran geknüpft haben. Weil sie ihn aber wie einen Fremden empfing, durfte Anton sich zugestehen, daß er ihrem Herzen kein Fremder geblieben sei. Sie berechtigte ihn, ein Geheimnis mit ihr vor ihrem Vater zu hegen; sie liebte ihn!

 

Welch ein reizendes Leben nun für unseren Helden begann, das wage ich nicht beschreiben zu wollen. Man müßte jung sein und all der süßen Torheiten noch fähig, die da getrieben wurden. Der Rittmeister, in seinem Lehnstuhl mehr liegend als sitzend, gab sich beim Beginn jeder Sprechstunde das Ansehen eines aufmerksamen Zuhörers, eines Kritikers nicht allein, auch eines Zensors, der prüfen wollte, was für Gegenstände die jungen Leute miteinander abhandelten. Diese, so lange er die Augen offen hielt, trugen bestens und schlau genug – (denn auch das reinste, sittsamste Mädchen wird in solchen Fällen listig und schlau!) – dafür Sorge, ihn vollkommen sicher zu machen. In solchem Gefühle der Sicherheit, kläglich gelangweilt von ihren faden Diskursen, schlief der tapfere Krieger regelmäßig ein, und wenn sie ihn schnarchen hörten, wenn seinem Halse die unharmonischen Töne entquollen, die ihr Flüstern überboten, – welche Melodie, welcher Nachtigallengesang wäre ihnen dann anmutiger erschienen? Dann tauschten sie Erinnerungen, Gedanken, Gefühle gegenseitig aus. Dann zog Anton zehnmal in einer Minute seine Uhr hervor, ohne sie anzublicken, nur um die schwarze Schnur an seine Lippen zu pressen. Dann erzählte Hedwig unzähligemal, und immer wieder aufs neue von ihm dazu aufgefordert, wie sie ihn gleich am ersten Tage seiner Ankunft durch ihre Gasse schreiten sah, wie sie nicht Ruhe gefunden, bis sie erfahren, wo und warum er hier weile. Ach, sie dachten nicht der Gegenwart, nicht des Betruges, den sie an einem angebeteten Vater übten; sie gedachten nicht der Zukunft, die ihnen, menschlichen Ansichten und Erwartungen gemäß, nur Gram verhieß; sie lebten beide nur in der Vergangenheit, in der unschuldigen Sehnsucht, die sie sich aus der Ferne bewahrt, die aber nichts an ihrer Unschuld eingebüßt, seitdem sie sich täglich gegenüber saßen.

Wenn sodann der Vater aufwachte, zuerst mit fragenden, weit aufgerissenen Augen umherstarrte, als wollte er das Terrain rekognoszieren; wenn er dann fragte: »Habe ich geschlafen?« und die Tochter lächelnd erwiderte: »Ein wenig, lieber Vater!« wenn Anton sich ehrerbietig empfahl, dringend aufgefordert, sich morgen nachmittag wieder einzufinden! ... eine Aufforderung, die wahrlich unnütz war! ... wenn er nun hochbeglückt heimging und, einen Himmel im Herzen, vor das Lager der kranken Frau trat! ... Welch ein Gegensatz!

Und dennoch weilte der in Liebe glühende Anton auch gern bei ihr, wo der Tod aus jedem Zuge des schon entstellten Angesichts redete. Dennoch hörte die Sterbende mit regem Anteil seine Geständnisse, begleitete jedes Wort, das ihr über Hedwig gesagt wurde, mit aufmerksamer Empfänglichkeit. Es war, wie wenn sie, scheidend von dieser Erde, einen Bund segnen wollte, den sie nicht mehr mit leiblichen Augen sehen, dessen sie sich vielleicht in einer anderen Welt geistig erfreuen durfte. Sie war es, die mit fieberheißen Lippen Anton Trost und Hoffnung zusprach, wenn er hoffnungslos andeutete, daß er kein beglückendes Ende für seine Liebe erwarten könne, weil er ein ausgestoßener, ein heimatloser Bastard, ein armer Vagabund sei.

»Geduld, Geduld!« rief sie dann bisweilen, und Anton wußte nicht, ob dieser Zuruf ihm und seiner Liebe, ob er der armen Leidenden gelten solle, die ihn an sich selbst richtete.

Er hielt treulich bei ihr aus, pflegte sie liebevoll und heiter, so daß sie oft mit ihren brennenden Händen die seinigen ergriff, dankbar zum Munde führte und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck zu ihm sagte: »Was du mir getan, hast du dir selbst getan! Diese Nächte, Anton, werden Sie, wenn ich tot bin, um alle Schätze der Welt nicht verkaufen wollen.«

Er dachte bei sich: »Sie phantasiert!«

So geteilt zwischen Krankheit und frischer Jugend, zwischen Tod und Liebe, brachte Anton einige Monate zu. Der arme Dreher, ohne Einnahme von seinem Ersparten zehrend, den Verlust der Frau, die ihm für sein Geschäft, in welches sie sich so rasch eingerichtet, unentbehrlich war, voraussehend, selbst von Alter und Schwäche gebeugt, gab sich der unglücklichen Leidenschaft des Trunkes nun zwiefach hin, um in schwerem Rausche sein Elend minder zu spüren; er lag von früh bis zur späten Nacht in den Schenkstuben. Für ihn zeigte die Kranke wenig Mitleid. »Laßt ihn«, sprach sie, wenn Anton seine Verirrungen bedauerte, »laßt ihn gewähren; auf diese Weise beschleunigt er seinen Tod, und daran tut er wohl: denn ohne mich kann er ja doch nichts mehr anfangen. Laßt ihn trinken und sterben!«

Schon konnte man im Monat März Vorboten des Frühlings wahrnehmen; schon plauderten Hedwig und Anton von Schneeglöckchen, Veilchen und Aurikeln, da fingen die Narben des Rittmeisters auch zu mahnen an, daß der Winter sich zum Abzuge rüste. Das war, wie er versicherte, seit acht Jahren um diese Zeit immer geschehen, doch niemals noch so heftig als Heuer. Gichtische Anfälle gesellten sich den gewöhnlichen Leiden bei. Bald war er nicht mehr fähig, sein Schlafgemach zu verlassen, und die französischen Sprechübungen der jungen Leute gingen von nun an ohne Gegenwart eines Zeugen vor sich. Dieses Alleinsein hätte nichts Gefährliches gehabt, wären beide schon beim Anbeginn ihrer Zusammenkünfte sich selbst überlassen gewesen. In einem unbedingten Vertrauen, das der Vater ihm gegönnt, würde Anton die heilige Verpflichtung gefunden und anerkannt haben, niemals auch nur mit einer Silbe aus den Grenzen verehrender Resignation herauszugehen. Doch weil der Rittmeister sich als Wachtposten aufgestellt hatte, weil Anton sich beargwöhnt sah – was Wunder, daß er wie Hedwig den Schlaf des Wächters benützten und sich Dinge sagten, die beide vielleicht in deutscher Sprache zu sagen nicht Mut gehabt hätten, die aber jetzt, wo sie »als Übung im Reden« galten, immer weiterführten und eine Vertraulichkeit erzeugten, vor der Anton selbst erschrak, da er zum erstenmal ganz allein mit Hedwig war.

Und Hedwig ist auch nicht mehr das reine Kind, wie wir es im einunddreißigsten Kapitel angedeutet. Schon damals, wo sie einen so kühnen Schritt wagte, dem namenlosen Geiger ihres Tanzmeisters heimlich ein Geschenk von eigener Hände Arbeit zuzustecken, hatte sie mit diesem Schritte einen bedenklichen Übergang aus der Unschuld ätherischer Träume in die Gefahr der Wirklichkeit getan. Länger als ein halbes Jahr hatte sie Zeit gehabt, die freudlosen Tage, die ihr an der Seite eines vereinsamten, lebensmüden Vaters dahinschlichen, mit Antons Bilde auszufüllen. Nun war er selbst gekommen, und alles war gekommen, wie wir's gelesen haben; – dürfen wir uns wundern, wenn wir den vierundzwanzigjährigen Lehrer zu den Füßen seiner sechzehnjährigen Schülerin kniend finden, ihr gestehend, daß er durch sie erst wahre Liebe kennen lernte; daß er nur sie im Herzen trage, seitdem er sie gesehen, daß er ohne sie nicht weiterleben wolle; und wie denn alle jene stets wiederkehrenden Versicherungen lauten, die der Dumme dumm, der Kluge manchmal noch dümmer, der Liebenswürdige mit Anmut, der Plumpe tölpelhaft, der Gute ehrlich, der Hinterlistige schlau, jeder auf seine Weise vorbringt, ohne daß ein besonderer Unterschied bei einem oder dem anderen zu bemerken wäre.

Der erste Kniefall wurde mit gebührendem Entsetzen ab- und zurückgewiesen. Eine stumme Gebärde deutete mit beredter Drohung nach des Vaters Krankenzimmer und legte dem Sprachlustigen Schweigen auf. Man trennte sich kalt, verstimmt.

Der zweite Kniefall war von stummen Handküssen begleitet. Er brachte schon nicht mehr die abschreckende Wirkung von gestern hervor.

Der dritte ging in eine Umarmung über, die ursprünglich bestimmt gewesen war, ein trotziges Losreißen, Aufspringen, Entfliehen zu werden, die aber den armen Kindern unter den Händen umschlug.

Nun war es aus! Vorbei mit Antons Bescheidenheit, vorbei mit Hedwigs Zurückhaltung. Sie kam vom Schmerzenslager des Vaters, er vom Sterbebett der kranken Frau; beide gerührt, ergriffen, erregt durch den Anblick des bittersten Leidens, beide aus düsteren Krankengemächern in ein kleines, freundliches Stübchen, wo sie aufatmeten, Herz an Herz.

Ach, sie fragten sich nicht mehr, was aus ihnen und ihrer Liebe werden solle. Sie behielten nur Sinn für das, was sie sich waren. Ihre Liebe blühte aus den traurigen, bedrückenden Umgebungen ihres Daseins empor wie eine weiße, strahlende Wasserlilie auf trübem Sumpfe. Und wenn die französische Zunge dienlich gewesen, ihnen fortzuhelfen über die peinliche Verlegenheit der ersten Geständnisse, so konnte sie doch nicht mehr ausreichen für das Bedürfnis der Seelen, die sich sehnten, ineinander aufzugehen, eine Seele zu werden. Nein, sie sprachen Deutsch miteinander. Die Laute der teuren Muttersprache mußten ihnen verkünden, was eines für das andere fühlte. »Ich liebe dich!« hieß ihr Losungswort. Und an dieses knüpfte sich eine Fülle anderer Worte, reich an Wohllaut und Kraft, wie nur die Liebe sie erfindet, die aber arm und kalt klingen, wenn eine Feder sie nachschreiben will.

»Sie stirbt; weiß Gott, sie stirbt! Sie will ihn noch einmal sehen; ist er hier?« Dieser furchtbare Ausruf schreckte eines Tages die Glücklichen auseinander. Mit wahnsinnigen Blicken eines aus seinem Taumel aufgestörten Trunkenboldes polterte der greise Puppenspieler durch die eine Tür ins Zimmer. Anton, Hedwig in seinen Armen haltend, fuhr auf und sah jetzt erst, daß auch die andere Tür offen stand. In seinen Soldatenmantel gehüllt, einen Säbel in der Rechten, schwankte der Rittmeister herein. Er hatte unbemerkt das Gespräch der Liebenden belauscht.

»Elender«, schrie er, den Säbel zückend, nach Anton gewendet, »Verräter, Verführer! Du verdienst den Tod; doch verdienst du nicht, von der Hand eines Braven zu sterben. Und du, Hedwig, wähle: du ziehst mit ihm und hast keinen Vater mehr! Oder du folgst mir, kehrst ihm den Rücken, und er betritt nimmer diese Schwelle!«

Hedwig wand sich schweigend aus Antons Armen und neigte sich demütig vor ihrem Vater.

Anton folgte dem Puppenspieler.


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