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Dreiunddreißigstes Kapitel

Als Anton am Abend im Zirkus erschien, wurde ihm lauter Beifallsgruß zuteil, in den die Damen freudig einstimmten. Doch sah er sehr leidend aus, was man auf sein gestriges Übelbefinden schob und ihn um so hübscher fand. Er war zerstreut – unachtsam –, versäumte sogar, was er sonst niemals unterließ, seinen Fuchs vorher zu liebkosen, und dieser schien ebenso schlecht disponiert, ebensowenig bei der Sache wie sein Reiter.

Beide hatten dieselbe Unruhe. Der Fuchs war daran gewöhnt, vor dem Eintritt in die Manege durch Laura begrüßt, geschmeichelt, mit Zucker gefüttert zu werden; Anton war daran gewöhnt, sie auf dem Orchester zu erblicken; – und Laura fehlte! Da ging denn nichts zusammen. Dreimal nahm das Tier falsches Tempo; dreimal mußte Anton stillhalten und die Musik von neuem beginnen lassen. Das machte ihn aber immer verdrießlicher. Er fing an, in sein Pferd hineinzuschlagen, wodurch er ihm den Verdruß mitteilte, ohne sich davon zu befreien, und wie ein Unglück niemals allein kommt, mußte gerade an jenem Abend eine sehr alberne Dame, in der ersten Reihe sitzend, sich unendlich viel mit ihrer Schönheit zu tun machen, an ihrer Kleidung rücken, zupfen, putzen, wie schon manche Frauenzimmer nicht anders können, in der Hoffnung, sich bemerkbar zu machen. Zum Überflusse warf sie, weil ihr die unausgesetzten Toilette-Bestrebungen eingeheizt, ihr rotes Umschlagetuch über die Barriere, und zwar in dem Augenblick, wo Anton, sein Geigensolo beginnend, so nahe bei ihrem Sitze war, daß der Kopf des Pferdes fast daran streifte. Der Fuchs, über diesen unerwarteten Anblick erschreckt, prallte wild zurück, Anton stürzte rücklings herab, schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Pfosten und wurde bewußtlos vom Schauplatz getragen, was so viel Anteil und Bedauern erregte, daß die eitle Närrin Zeit gewann, zu entschlüpfen, bevor noch der Unwille der Anwesenden sich gegen sie äußern konnte.

*

Wir finden Anton auf seinem Lager noch immer ohne Bewußtsein, den glatt geschorenen Kopf mit Eisumschlägen bedeckt. Vor ihm stehen sein Direktor, der Furioso, der Arzt von gestern und ein Wundarzt. »Es kann«, äußert der Arzt, »eine allerdings heftige, aber doch möglicherweise vorübergehende Erschütterung sein, die gar keine bedeutenden Folgen haben wird; äußere Verletzungen, welche Besorgnis erregten, sind durchaus nicht vorhanden. Es kann aber ebenso der Tod sein! Darüber ist morgen erst zu sprechen. Blut haben wir ihm gelassen. Jetzt ist nichts notwendig als Ruhe und aufmerksame Pflege, hauptsächlich wegen des Eises, welches unaufhörlich erneuert werden muß. Wenn Sie wollen, werde ich eine zuverlässige Krankenwärterin senden ...«

Da erhob sich eine bleiche Gestalt, das ausdrucksvolle Antlitz durch tief eingefallene, verweinte Augen entstellt, feierlich von dem Koffer, worauf sie in einer dunklen Ecke des Zimmers gesessen.

Die Fremden erschraken vor ihr.

»Es ist nur die Jartour«, sagte der Direktor.

Und Adele, ans Lager tretend, legte die Hand aufs Herz und sprach mit einer Stimme, die dem Arzte durch alle Nerven drang, die sogar den ziemlich gleichgültigen Chirurgen rührte: »Ich, ganz allein! Ich bitte.« –

»Auf sie können Sie sich verlassen«, fügte der Furioso bei, »das ist ein edles Herz.« –

Als die Jartour mit dem Kranken allein blieb, sank sie auf ihre Knie und betete: »Heilige Jungfrau, erbarme dich meiner! Ich bin seine Mörderin, wenn er stirbt! Laß ihn nicht sterben! Meine Zuschrift hat ihn von Laura getrennt. Er liebte sie! Er liebt sie noch; diese Trennung hat ihn krank gemacht; weil er krank war, verlor er die Kraft, deshalb ist er gestürzt. Ohne mich wäre es nicht geschehen. Um meinetwillen, um deines Sohnes willen, erhalte ihn am Leben. Wenn er genest unter meinen Händen, will ich mich gänzlich dem Dienste Gottes und der Kranken weihen. Ich will barmherzige Schwester werden. Das ist mein Gelübde.«

»Wo bin ich?« – mit diesen drei Silben beantwortete aus Antons Munde die heilige Jungfrau das Gebet einer gläubigen Sünderin. Diese wendete sich, auf den Knien liegend, zu ihrem Kranken und, indem sie ausrief: »Ich danke dir, er wird leben: Du erhörst mich!« winkte sie ihm zu, er möge schweigen. Er gehorchte diesem Winke nicht sogleich, sondern fragte erstaunt: »Die Jartour? Was bringen Sie mir? Was ist denn vorgefallen?«

Da legte ihm Adele ihre Hand auf die Lippen, wiederholte den Befehl des Arztes, welcher Ruhe geboten, und erzählte ihm dann so schonend und beschwichtigend als möglich, was mit ihm vorgegangen, wobei sie für sich die Erlaubnis erbat, ihn pflegen zu dürfen.

»Fürchten Sie nicht, Antoine« – mit diesen sanft gesprochenen Worten beschloß sie ihre Meldung –, »fürchten Sie nicht, daß irgend ein eigennütziger Plan, eine zweideutige Absicht, eine versteckte Hoffnung in irgend einer Falte meines Herzens sich verberge. Das Gelübde, welches ich an dieser Stätte soeben ablegte, ist schon in voller Gültigkeit. Ich gehöre nicht mehr der Welt. Wenn Sie genesen sind, mehr davon. Jetzt nichts als Ruhe – Schlaf – und frisches Eis!«

Durch Amelots rasche Abreise wie durch Antons Niederlage verloren die Abende im Zirkus viel von ihrer Anziehungskraft. Da es ohnedies spät im Jahre war, so dachte Herr Guillaume ernstlich daran, nach einer anderen Stadt zu übersiedeln, wo der Reiz der Neuheit die in seiner Truppe entstandene Lücke verdecken könne. Er hatte für Dr. bereits Vorkehrungen getroffen und wurde daselbst erwartet.

Anton befand sich außer Gefahr. Doch behauptete sein Arzt, daß jede zu frühzeitige Anstrengung unzulässig sei; daß sicherer für ihn gebürgt werden könne, wenn er in ungestörter körperlicher wie geistiger Abspannung verbleibe. Ihm also durfte man fürs erste den Aufbruch der Truppe gar nicht bekannt werden lassen. Aber was sollte mit seiner Pflegerin geschehen? Würde er die Wahrheit nicht erraten, wenn sie plötzlich fehlte? Und würde er dann nicht darauf bestehen, ihnen zu folgen, oder, mit Gewalt zurückgehalten, sich in Ungeduld abquälen und dadurch krank machen?

Der wohlmeinende Arzt, an seinem jungen Patienten, den er liebenswürdig fand, aufrichtigen Anteil nehmend, gestand offenherzig, daß er keinen rechten Rat wisse, und überließ es dem Scharfsinne der Jartour, mit welcher verschiedene geheime Beratungen gepflogen wurden, ein Auskunftsmittel zu ersinnen. Besser konnte er's nicht treffen. Wo niemand Hilfe weiß, wird es uneigennütziger, aufopfernder Liebe damit gelingen, – wofern auf Erden noch Hilfe vorhanden. Adele erklärte sich bereit, mit Guillaume zu unterhandeln; schon beim nächsten Besuch des Arztes konnte sie diesem, wie sie ihm auf den Vorflur das Geleit gab, die erfreuliche Nachricht erteilen, der Direktor habe ihr einen Urlaub auf unbestimmte Zeit bis zu Antoines völliger Genesung gestattet; auch füge sich's ebenso glücklich, daß derselbe ein junges Ehepaar, welches bei einer anderen, zugrunde gegangenen Reitergesellschaft außer Engagement kam, einstweilen für Dr. benützen könne, wodurch ihre wie Antons Stelle einigermaßen ausgefüllt sei.

»Desto besser«, erwiderte der freundliche Arzt, »mit einer solchen Wärterin habe ich leichtes Spiel.« – Durch welche Opfer das arme Mädchen diese Vergünstigung hatte erkaufen müssen, danach fragte er freilich nicht, sie aber noch weniger.

Nachdem Anton erst soweit genas, daß er sprechen, lesen, aufstehen durfte, wurde es Adele unmöglich, ihm länger einen Teil der Wahrheit zu verbergen. Stündlich fragte er sie, warum denn gar niemand sich um ihn bekümmere, warum nicht wenigstens der Furioso sich blicken lasse. »Sie sind abgereist, Antoine«, antwortete die Jartour in dem tiefen männlichen Tone, den Tänzerinnen und Reiterinnen häufig haben, der jedoch bei ihr von seltenem Wohllaut war; »sie sind abgereist, und mir hat Guillaume Urlaub gegeben, bis wir beide ihn einholen können. Er hat für diese Zeit Felix und dessen Frau aufgenommen; wissen Sie, die bei Gautier waren. Der Mann springt die Bänder, und sie nimmt in der Karriere vier Schnupftücher mit den Zähnen vom Boden. Wenig Schule, doch viel Bravour; es ist eben nur für unterdes.«

»Aber Ihre Gagen, Adele?« fuhr Anton fort, der sie dabei forschend anblickte. »Zahlt er Ihnen für dieses Interim Ihre vollen Gagen?« und nachdem einmal der Geldpunkt berührt war, schrak er heftig zusammen bei dem Gedanken an seine Kasse. Er war seither daran gewöhnt, aus dem Vollen zu leben. Laura hatte ihm niemals Zeit gelassen, zu überlegen, wer ihre beiderseitigen nicht geringen Ausgaben decke. Er für seine Person empfing ja, so lange er Eleve hieß, nicht das geringste, hatte kontraktmäßig keine Forderung zu machen. Von was lebte er denn jetzt? wer bestritt die Kosten seiner Existenz, seiner Krankheit? Wovon sollte er ferner leben?

Adele las in seinen Gesichtszügen, welche peinigenden Gedanken ihm wie Schlangen die Brust durchwühlten. Sie geriet in furchtbare Angst, daß sein Zustand sich dadurch verschlimmern werde. Aber sie blieb stark, wie in solchen Augenblicken es nur ein Weib, nur ein liebendes Weib vermag; dieselben Muskeln, die ihrer ausdrucksvollen Physiognomie mit krampfhaftem Zucken den Stempel heftigen Schmerzes aufzwingen wollten, mußten, einem stärkeren Willen gehorchend, in lautes Gelächter übergehen. »Ist das ein Kind«, rief sie jubelnd aus, »begreift er nicht, daß wir beide, er und ich, schon gestern ins Hospital hätten wandern müssen ohne Guillaumes Großmut! Nein, lieber Freund, machen Sie sich keine Sorgen, Guillaume hat uns hinreichend versorgt. Es liegt ihm so viel an Ihnen, und er ist so erkenntlich für die Vorteile, die Sie ihm bereits gebracht, daß er sich die künftig noch zu bringenden um jeden Preis sichern will. Er weiß am besten, wer ihm die vornehme Damenwelt in seinen Zirkus zaubert. Einen solchen Magneten läßt man nicht verderben: hier ist Gold vollauf!«

»Das hätte ich nicht erwartet«, sagte Anton tief aufatmend und vollkommen beruhigt, »für so nobel habe ich ›Papa Bonhomme‹ nicht gehalten. Nun, es freut mich, daß ich ihm mein Unrecht abbitten darf, und ich will all meine Kräfte aufbieten, reichlich zu vergelten, was er an mir tut.«

Von dieser Stunde an besserte sich Antons Befinden zusehends. Der Arzt gestattete ihm bald, auszugehen. Doch von der Reise nach Dr. wollte er noch nichts wissen. »Die laß ich nicht eher unternehmen«, äußerte er gebieterisch, »bevor nicht der dumpfe Druck im Kopfe, über den er bisweilen noch klagt, gänzlich vergangen ist. Denn steckt er erst wieder bei den anderen, so will er auch gleich auf die Schindmähre kriechen, das kennt man schon, da ist kein Halten. Und das könnte ihm jetzt noch schlecht bekommen. Wir müssen ihm hier einige Zerstreuungen bereiten, damit er nicht so gewissenhaft an seine verdammten Verpflichtungen gegen die vierbeinige Gesellschaft denkt. Er klagte ja neulich, daß er während eures hiesigen Aufenthaltes nicht ins Theater gehen konnte, weil er täglich in eurer Bude beschäftigt war. Schicken Sie ihn dahin, das wird ihm wohl tun. Besonders wenn man Lustspiele gibt. Er soll lachen. Er ist zu ernsthaft für seine Jahre. Er ist wohl verliebt, und ohne Hoffnung? He? Das müssen Sie wissen.«

Die Antwort der Jartour auf diese Frage des behaglichen Arztes bestand in sanftem Erröten und ernstem Schweigen. Der alte Herr sah ihr ein Weilchen ins Gesicht, schüttelte sodann seinen grauen Kopf und brummte vor sich hin: »In den Augen ist nichts zu lesen, was nach meinem Argwohn schmeckt. Da steht nichts darin, als Ehrlichkeit, Treue und Sittsamkeit. Und doch ... na, die Welt dreht sich um, das muß ich sagen. Solche Edition von einer Kunstreiterin ist unerhört.«

Ihren Rekonvaleszenten zum ersten Ausgange zu bewegen, hatte der Jartour unendlich Mühe gemacht. Denn er fand sich gar häßlich. Die von dem scharfen Messer des Wundarztes glatt abgeschorenen Locken wuchsen nur sehr langsam nach. Seine Haare hatten einen Hauptbestandteil jener Eitelkeit, die ihn sonst bisweilen vor den Spiegel geführt, abgegeben. Jetzt wich er dem eigenen Anblick möglichst aus. »Ich bin ganz unkenntlich«, rief er fast betrübt. »Desto besser«, wendete ihm Adele, gutmütig scherzend, dawider ein; »so wird niemand wissen, daß es der schöne Antoine ist, den er erblickt, und Sie können sich dreist unter die Menge mischen, wie auf einem maskierten Ball.«

Wir erinnern uns aus dem ersten Teile dieses Buches an einen Abend, wo Genoveva in Liebenau dargestellt wurde. Seit jenem Abende hatte Anton unterschiedlichen theatralischen Aufführungen beigewohnt, in P., in D., in K.; – keine jedoch war derart gewesen, großen Eindruck auf ihn hervorzubringen.

Sei es nun, daß ihn damals die Veränderung seiner Lage, die auf ihn eindringenden Umgebungen, die steigende Leidenschaft für Laura minder empfänglich machten; sei es, daß er bedeutungslose Stücke unwirksam dargestellt sah; er hatte nicht erfüllt gefunden, was die erbärmliche Dorfkomödie ihm ahnungslos verheißen. Jetzt hoffte er etwas zu genießen, was ihn neu beleben, erfrischen, was die Leere ausfüllen werde, die seit Lauras Verrat in seiner Seele herrschte.

Das Schauspiel »Der Jude« aus dem Englischen des Cumberland stand angekündigt. Anton hatte, so lange er in Liebenau heranwuchs, nur einmal einen Juden gesehen, einen alten Mann, der auf dem Schlosse ein ihm gehöriges Wundertier, eine Ente mit drei Beinen, produzierte. Die Gespielen der Schloßfräulein durften einige schüchterne Gratisblicke in jenen Kasten werfen, worin die bedauernswerte Mißgeburt schmachtete; einige der Kühnsten wagten sogar, das Supplementbein zu ergreifen, um der Schmachtenden verstohlen die dritte Pfote zu drücken. Anton aber hatte weder Ente noch Pfote eines Blickes gewürdigt; die großen Augen des neunjährigen Knaben waren unausgesetzt auf dem alten, schmutzigen Mann haften geblieben, der, wie er glaubte, den Heiland hatte kreuzigen helfen. Heimgekehrt befragte er dringend seine Großmutter, warum denn auch solche Mörder umherlaufen und sogar dreibeinige Enten besitzen dürften, während doch die rechtschaffenen Christen sich mit zweibeinigen zufriedenstellen müßten, derer nicht zu gedenken, die, gleich ihnen, gar keine besaßen, worauf Mutter Goksch den Fragenden an die unbegreifliche Langmütigkeit Gottes verwiesen, welche ausnahmsweise dergleichen bisweilen dulde. Diese göttliche Langmütigkeit war ihm späterhin, namentlich während des Aufenthaltes im Polnischen, höchst ausgedehnt erschienen, wo es von Juden rings um ihn her wimmelte und mitunter von solchen, die an äußerer Armut noch weit hinter dem ehemaligen Entenbesitzer zurückblieben. In nähere Berührung war er mit keinem derselben geraten. Ein Jude blieb ihm etwas Exotisches. Deshalb kam ihm auch unerklärlich vor, wie man einen solchen zur Hauptperson eines Dramas machen könne. Dies Befremden teilte er seinem Arzte mit, der ihm auf dem Wege nach dem Schauspielhause begegnete, und fragte diesen um Rat, ob er nicht lieber einen anderen Abend zu seinem ersten Theaterbesuche wählen solle.

Der Arzt schlug ein helles Gelächter auf, als er Antons Ansichten von der Stellung gegenwärtiger Judenschaft zu gegenwärtiger Welt vernahm. »Was denken Sie sich denn überhaupt unter einem Juden, Sie närrischer Mensch? Meinen Sie, daß er sich von den Christen unterscheiden soll, wie ihr in euren Stallungen Maulesel von Pferden unterscheidet? Ein Jude, wenn er erzogen, angezogen – oder ungezogen ist, wie euresgleichen, dürfte manchmal schwer für einen Juden zu erkennen sein. Ja, ich wette, es gibt Juden hier in V., mit denen Sie lange umgehen können, ohne zu ahnen, daß es welche sind.«

»Wie wäre denn das möglich?« fragte Anton, ein wenig eingeschüchtert. »Muß ein Jude nicht aussehen wie die Kerls, die in P. auf den Plätzen umherliefen, mit schwarzem Kittel und langem Bart?«

»Nein, zum Teufel, das muß er nicht. Da sehen Sie her: habe ich einen Judenbart? Ist das hier ein Kittel, was ich auf meinem Leibe trage, oder ein Frack, ein höchst christlicher Frack? Wie? Sage ich ›Schachermachai‹? Wie? Und ich bin ein Jude, ein Jude vom Kopf bis zum Fuß, und habe Sie wieder auf Ihre christlichen Füße gebracht, nachdem Sie auf Ihren christlichen Kopf gefallen waren. – Na, erschrecken Sie nicht! wir bleiben gute Freunde. Und jetzt gehen Sie ins Parterre. Sie sollen etwas sehen, was in seiner Art einzig ist, was so noch niemals da war und so niemals wiederkommen wird; Iffland ist vielleicht ein größerer Künstler gewesen, ich weiß nicht, doch für Rollen dieser Art, wie der Jude Schewa, hat es noch niemals einen größeren Schauspieler gegeben, als Sie heute bewundern werden. Ich beneide Sie um das Glück, einen solchen Kunstgenuß zum erstenmal zu erleben.«

Anton fühlte sich noch zu verlegen durch die Entdeckung, daß sein gütiger Arzt auch ein Jude sei, deshalb schwieg er. Sonst würde er wohl Zweifel kundgegeben haben an der Möglichkeit des verheißenen Entzückens. Er empfahl sich errötend, löste sein Billett und mischte sich unter die Menge.

Für diejenigen Leser, die, mit unbefangenem Sinne und empfänglichem Gemüte begabt, noch selbst erlebt haben, was hier der Verfasser andeutet, bedarf es keiner auseinandersetzenden Beschreibung dessen, was unser Held sah und hörte. Denjenigen jedoch, welche solches Eindruckes nicht mehr teilhaftig geworden, müßte meine Schilderung nutzlos bleiben. Und nicht bloß die meinige, weil sie schwach, matt, armselig ausfallen dürfte; nein, jede, auch die beredteste. Denn was ein schöpferischer Genius auf der Bühne ins Leben rief, stirbt mit ihm; – ja leider gar oft noch vor ihm, wenn er seinen Glanzpunkt überlebt. Das beste, was man davon sagen und schreiben könnte, verhält sich zu dem, was beschrieben werden soll, wie ein Buch über die Gartenkunst zum Frühling. Doch gleich dem Frühling, der mit all seiner Herrlichkeit den schlichten Landmann, als gewöhnliche, alljährlich wiederkehrende Erscheinung, eben nur in ruhiges Behagen versetzt, während er die Seele des wissenschaftlich strebenden Naturfreundes mit himmlischer Wonne durchdringt, – gewährt wohl auch dramatische Vollkommenheit, so lange dieselbe in den Formen und Grenzen unseres alltäglichen Daseins nachahmend wirkt, nur dem Kunstkenner höchste Befriedigung, der in ihr den Triumph künstlerisch veredelter Wahrheit und Naturtreue sieht, wo der Uneingeweihte, gerade weil er die reine Natur zu betrachten wähnt, gar keine Kunst ahnt. Nicht anders erging es unserem Anton mit dem Juden Schewa. Er war ergriffen, gerührt, erschüttert, entzückt; er weinte selige Tränen des Mitgefühls, – aber er dachte nicht daran, dieses Opfer dem Künstler zu spenden. Er brachte es dem Menschen, an den er glaubte, der für ihn der wirkliche Jude Schewa wurde, den er aus Herzensgrunde flehentlich um Verzeihung bat, daß er mit kindisch feindlichem Vorurteile in sein Haus getreten sei.

Und wie in Liebenau nach Darstellung der Genoveva, obgleich diesmal mit ganz anderen Empfindungen, blieb er unter dem Gewicht des Miterlebten und Durchlebten sinnend, träumend stehen, wo seine Nachbarn längst, leere Worte wechselnd, verschiedenen Zerstreuungen zueilten. Die Hand seines Arztes, die sich sanft ihm auf die Schulter legte, erweckte ihn. »Ich brauche weiter nicht zu fragen«, sprach dieser, »die Tränen auf Ihren Wangen sagen mir deutlich genug, daß meine Prophezeiung wahr geworden an Ihnen. Desto besser; eine so wohltuende Rührung kann nicht schädlich sein. Das Stück war kurz, es ist noch eine volle Stunde Zeit, bis die Bürgerglocke des Rekonvaleszenten schlägt. Für diese Stunde mögen Sie mein Gast sein. Ich lade Sie ein, mir in eine Weinstube zu folgen. In Unkosten will ich mich Ihrethalben nicht stecken, denn ich setze Ihnen nichts vor, als ein Glas Selterwasser mit Zucker, Wein erlaubt Ihnen Ihr Arzt zur Nacht noch nicht. Dafür sollen Sie eine Überraschung genießen, die ich Ihnen vorbehalte. Nur eines versprechen Sie mir, daß Sie kein deutsches Wort vorbringen und sich anstellen wollen, als wären Sie ein Stockfranzose.«

Sie fanden den Weinschank in der Nähe des Schauspielhauses. Der Arzt begab sich mit seinem Gast in eine Ecke des nicht allzu geräumigen Gemaches, wo sie die Nachbartische am besten übersehen konnten. Es waren um diese Stunde nur wenig Gäste gegenwärtig. Einige stumme alte Herren, auch diese verloren sich bei der Kunde, das Theater sei geschlossen, wie wenn sie einer bald zu erwartenden Schar von späteren Stammgästen Platz machen wollten, mit denen zusammenzutreffen sie nicht viel Lust bezeigten. Solche fanden sich denn auch bald in lauten Gesprächen ein, um sich häuslich niederzulassen. Mehrere grüßten den Arzt, indem sie ihn einluden, in ihre Nähe zu rücken, wobei er entschuldigend auf seinen jungen Gast wies, um welchen sich zu bekümmern keiner Zeit fand. Denn sie waren alle heftig angestrengt durch das Bedürfnis »witzig zu sein«, dem ein jeder sich fügen mußte, wollte er bei ihnen gelten. Wem es damit nicht gelang, sah sich genötigt, zum Stichblatt für die Witze der Glücklicheren zu dienen. Aber auch das strengt an, weshalb denn jeder sein Bündel zu tragen hatte.

Der Arzt sagte leise zu Anton: »Ich habe mit Ihnen abgesondert von jenem Konvivium bleiben wollen, um Ihnen mitunter einige Bemerkungen zuflüstern zu können über die Originale, die sich da gruppieren. Der Große, zum Dickwerden Hinneigende, mit dem ursprünglich edlen, jetzt verschwommenen aschgrauen Schlemmergesicht ist ein ehemaliger Hauptmann, der eine schöne Schauspielerin ehelichte, die er aber natürlich sehr unglücklich macht. Er ist ein unwissender, doch begabter Kopf, imponiert durch Ruchlosigkeit und behauptet sich auch hier durch freche Späße. Der neben ihm sitzende, noch länger als er, aber zaundürre, schwarzbraune Mann, der immer das kleine Brillengläschen vors Auge kneift, ist eine der seltsamsten Persönlichkeiten auf Erden. Von sehr guter Familie, mit welcher ihn sein unordentlicher Lebenswandel bald in Zwiespalt bringt, seine Gutmütigkeit bald wieder versöhnt, zieht er gewöhnlich vor, den Salon seines Schwagers, des Herrn Ministers Exzellenz, gegen Kneipen und Spielspelunken zu vertauschen. Seine Eigenschaft als Spieler von Profession zieht ihn zum Hauptmann, der dies auch ist, den er aber daneben vollständig verachtet und für einen gemeinen Kerl erklärt. Jener bleibt ihm nichts schuldig und nennt ihn einen Säufer, was sich leider auch bestätigt. So leben diese Menschen in stetem Kampfe, ohne sich entbehren zu können, und belustigen ihre Gefährten durch die witzigen Bitterkeiten, die sie sich ins Gesicht werfen. Während der Sommermonate der Badesaison vagabundieren sie auf Raub am grünen Tische im Lande umher. Der freundlich ernste Mann auf der anderen Seite der Tafel, dem Sie leicht abmerken werden, daß er zu jenen nicht paßt, und daß er halb und halb wider seinen Willen in ihrer Gesellschaft weilt, ist ein Rechtsgelehrter, ein würdiger Beamter, bei dem sogar fromme Richtungen vorherrschen, der aber daneben eine so leidenschaftliche Vorliebe für die Poesie und Literatur besitzt, daß er diejenigen, die darin etwas leisten, aufsuchen müßte, wenn sie auch schon in der Hölle schwitzten. In dieser schwitzt nun gewissermaßen der neben ihm aus einem scharfen Vogelgesicht herausglurende kleine Teufelskerl, dem zu Ehren er hier ist, dem zu Ehren und zuliebe er die Gemeinheiten, an denen es oft nicht fehlt, überhören will.«

»Warum schwitzt aber der Kleine gewissermaßen in der Hölle?« fragte Anton mitleidsvoll.

Der Arzt entgegnete: »Erstens und zunächst, weil er, wie ich gründlich weiß, an einer unheilbaren Krankheit leidet, vor der Gott jeden bewahren wolle, indem sie ein recht artiger Vorgeschmack von Hölle und Zubehör sein mag: die Rückenmarkschwindsucht! Zweitens weil er in lauter Höllenspuk, Zaubererwirtschaft und Teufelsphantasien lebt, webt und dichtet. Die modernen Leute und Weisen unserer Zeit finden das hochpoetisch. Ich, der ich noch aus der älteren Zeit und Schule herstamme, verstehe weder das Entzücken der Leser, noch die Absichten des Verfassers, – der mich übrigens nicht leiden kann, weil er mit Judenhaß kokettiert. Aber das macht nichts. Von uns Alten ist keine Rede, und die Gegenwart hat recht. Er, sehen Sie, Antoine, er ist so eigentlich das Zentrum dieses exzentrischen Kreises, den man freilich nicht Kreis nennen sollte, denn die Rundung fehlt ihm, und man stößt sich an seine scharfen Ecken, sobald man zu nahe kommt. Ich besuche ihn dennoch bisweilen und hege trotz meiner Abneigung gegen ihre Formen Respekt vor der Männer Geist und Humor, welcher letztere um so drastischer auf mich wirkt, aus je zerrisseneren Herzen er hervordringt.«

»Ich verstehe Sie nicht recht«, sagte Anton aufrichtig.

»Das schadet gar nichts«, lachte der Arzt, »an meinen Urteilen verlieren Sie nichts. Die übrigen Anwesenden – denn es findet heute, wie ich sehe, keine brillante Sitzung statt – sind ziemlich unbedeutende Gesellen. Junge Herren, die sich der noblen Passion des Kartenspieles widmen, – ein angehender Poet, – einige Theatermitglieder, – das schießt so an wie Schmarotzerpflanzen um Baumstämme.«

»Aber lieber Herr Doktor, einen sehe ich, den Sie mir nicht näher bezeichnen, und der mir der Merkwürdigste scheint. – Dort, am Ende des Tisches, der Schweigende, dem die langen, schwarzen Haare ins bleiche Gesicht hängen, mit der krummgebogenen Nase, mit den Augen wie ich im Leben noch keine sah. – Sagen Sie mir um Gottes willen, wer ist der Mensch?«

»Das wissen Sie nicht?« schrie der Arzt so laut, daß alle sich erstaunt nach ihm umwendeten; »das wissen Sie nicht und kommen aus dem Theater? Teuerster, sind Sie denn noch einmal auf den Kopf gefallen und diesmal gar auf die Stirn? Das ist ja der, um deswillen ich Sie überhaupt hierher führte; um deswillen ich Sie ins Theater schickte. Das ist ja er! Er selbst!«

»Wer, er selbst? Nun, verstehe ich Sie noch weniger, als vorhin.«

»Mensch! Kunstreiter! Violinspieler! Pferd! Pferdekopf, der Sie sind! Haben Sie einen Theaterzettel? – Kellner, den Theaterzettel von heute! – Hier, da legen Sie den Finger hin. Da lesen Sie, was steht hier?«

»Schewa, ein alter Jude.«

»Gut. Und in der gegenüberstehenden Kolonne?«

»Herr Devrient!«

»Nun, also!«

»Wie denn, also? Was hat der alte Jude mit dem schönen, jungen, schwarzhaarigen Manne zu tun?«

»Nichts weiter, als daß er es selbst ist.«

»Sie wollen über mich spotten, über meine Leichtgläubigkeit. Das ist ja rein unmöglich.«

Der Arzt vergaß, daß er seinem Gaste anempfohlen, sich zu stellen, als verstände er nur Französisch – (wahrscheinlich damit seine Gegenwart die Ungezwungenheit der Gesellschaft nicht hindere). – Er sprang auf, näherte sich dem anderen Tische und rief den Herren zu: »Wie finden Sie das? Hier mein jugendlicher Patient, der heute im Schauspiel war, nennt mich einen Lügner, weil ich ihm die Versicherung gebe, der Darsteller des Schewa sitze unter uns.«

»Wer ist der junge Mensch?« fragten mehrere Stimmen. Antoine war wegen des noch nicht hergestellten Haarwuchses, wie bereits erwähnt, sehr verändert.

»Der Kunstreiter Antoine«, antwortete der Arzt, »mein Pflegling, mein lieber junger Freund, ein braver Bursch; aber daß er auch so albern sein könnte, hätte ich ihm nicht zugetraut.«

»Sie haben mir mitgeteilt, Herr Doktor«, begann jetzt Anton, der sich unterdes gesammelt, »daß in diesem Kreise, wo der Witz vorherrscht, manchmal dieser und jener als Stichblatt dafür herhalten müsse. Sie haben auch gewiß recht, wenn Sie mich zu den Ärmeren an Geist zählen, die in solchem ungleichen Kampfe der leidende Teil zu sein pflegen. Ich unterwerfe mich gern. Nur bitte ich doch, daß Sie es für mich etwas feiner einrichten. Die Schlinge, die man mir jetzt legen will, fällt gar zu sehr in die Augen. Der alte Jude von heute abend hat mich tief bewegt und zu inniger Teilnahme und Verehrung aufgefordert. Aber gerade weil sein Alter, seine Gebrechlichkeit, sein schwerer Streit zwischen erhabenen Gesinnungen und niederen Gewohnheiten ganz natürlich, einfach auf sein Gemüt wirkten, soll mich niemand überreden wollen, der Mensch, den ich oben auf der Bühne vor mir leben sah, könne ein anderer gewesen sein, als ein gebeugter, unterdrückter, kleiner Greis. Seine Physiognomie steht noch so deutlich in meiner Erinnerung, daß ich sie unter tausenden wiedererkennen würde. Wie mögen Sie nun verlangen, daß ich diesen Kopf, über dessen wundersame Schönheit ich Ihnen mein Entzücken soeben ins Ohr lispelte, – verzeihen Sie, mein Herr! – für den grauen, kahlen Schädel des Juden halte? Ich bitte Sie alle, stehen Sie mir bei und ersuchen Sie meinen lieben Arzt, mich auf eine schwierigere Probe zu stellen. Diese setzt seine Meinung von meinem Verstande gar zu sehr herab.«

Aller Augen, die mit freundlicher Teilnahme am Sprechenden gehangen, wendeten sich jetzt fragend und erwartend dem berühmten Schauspieler zu. Niemand redete. Anton tat wie jene, auch er betrachtete schweigend des Künstlers Angesicht.

In diesem ging eine unbeschreibliche Veränderung vor. Die großen Augen wurden enger, Kinn und Unterlippe schienen zurückzutreten Es ist bekannt, daß Iffland sowohl, wie Ludwig Devrient in ihren bedeutendsten Rollen sich soviel wie gar nicht schminkten und den mimischen Ausdruck fast immer von geistiger Einwirkung abhängig machten. Bei Devrient fand nur dann eine Ausnahme statt, wenn er sich für gewisse Schwänke eine förmliche Maske erfand, die dann freilich so außerordentlich geriet, daß er mit demjenigen, den er vielleicht kopieren wollte, zu verwechseln war. Als nach dem Abgange des beliebten, aber fratzenhaften Komikers Becker in Breslau z. E. die »Pfarre« von Jul. v. Voß aufgeführt wurde, erschien Devrient als Becker, der im gewöhnlichen Leben soviel Ähnlichkeit mit ihm hatte, wie eine Bulldogge mit einem Löwen, und brachte solch' vollkommene Täuschung hervor, daß im Parterre Wetten gewagt wurden, B. sei wieder zurückgekehrt und wolle das Publikum überraschen. Anmerkung des Verfassers., der Rücken beugte sich krumm, die Brust fiel ein, mit beiden Händen strich der Mann sein rabenschwarzes Haar aus der Stirn und streifte es in gehorsam sich schmiegenden Locken glatt zurück. So, ein ganz anderer Mensch, bevor noch ein menschliches Auge entdecken konnte, wann und wie er dies geworden, richtete er an Anton jene alle Nerven durchdringenden Worte, die kein Fühlender vergessen kann, der sie je aus Devrients Munde vernahm: »Das ist der edler Mann, was mich hat gerettet aus die Hände von die vergrimmten Matrosen!«

Dann rückte er sich wieder zurecht, ließ die Haare wieder ins Gesicht fallen, schlug sein Götterauge zu Anton empor und fragte mit listig lächelnden Lippen: »Nun, Rossebändiger, saitenstreichender Orpheus, bin ich's?«

Anton stand bleich und unbeweglich.

Nach einem Weilchen des Schweigens fühlte er mit der Rechten nach dem Kopfe und sagte zum Arzte: »Ich denke, wir gehen.«

Dann suchte er seinen Hut, trat vor Devrient hin, ergriff dessen Hand, drückte sie an sein Herz und sprach mit bebender Stimme: »Jetzt weiß ich wohl, was ein Schauspieler ist!« – Der Arzt führte ihn nach Hause.


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