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Fünfunddreißigstes Kapitel

Erst nachdem Anton einige Stunden allein geblieben, wurde es ihm weh ums Herz, daß die Jartour ihn verlassen. Er rief sich das Benehmen dieses eigentümlichen Mädchens vom ersten Tage seines Antrittes bei Guillaume bis heute ins Gedächtnis und fand durch aufmerksames Vergleichen und Erwägen aller einzelnen Umstände die auffallendste Bestätigung ihrer zuletzt an ihn gerichteten Bekenntnisse. Nur zwischen dieser unerwartet hastigen Abreise und jener Bereitwilligkeit, womit sie, sorglos und gleichgültig gegen ihre Engagementsverpflichtungen, als seine Pflegerin zurückgeblieben war, schien ihm ein Widerspruch zu liegen, dessen Lösung er vergebens aufsuchte, und der ihn, je länger er sich abmühte ihn aufzuklären, desto heftiger beunruhigte. Es mischten sich allerlei wechselnde Gefühle in diese Unruhe. Zärtlichkeit war auch dabei. Zärtliche, wehmutige Sehnsucht nach einer so edelgesinnten, uneigennützigen, seltenen Freundin. Einigemal schon stand er im Begriff nach ihrer Wohnung zu eilen, sie vor der Abreise noch zu sehen, ihr die Zusicherung aufrichtigster Freundschaft nachzurufen; dann wieder hielt ihn die Überlegung zurück, daß er Gelegenheit finden werde, sie von seiner anhänglichen, dankbaren Treue zu überzeugen. Und wenn dieser Gedanke ihn tröstend anlächelte, wenn die Aussicht, neben ihr wieder den erwählten Beruf anzutreten, ihn der Jartour zuliebe beruhigte, – konnte er sich dabei doch nicht verhehlen, daß für ihn selbst eine mehr bange Vorahnung damit verbunden sei, um so bänger, je vager und unbestimmter dieselbe in seinem Innern waltete.

»Meinen Beruf wieder antreten?« Und worin bestand denn sein Beruf? Darin, jeden Morgen zu üben, was er am Abend vor hundert oder tausend neugierigen, gedankenlosen Gaffern gedankenlos wiederholen sollte. Einen Abend wie den anderen; ohne Beschäftigung des Verstandes, ohne Teilnahme des Gemütes. Ohne das Bewußtsein, auch nur in irgend einer Seele bessere, edlere Regungen dadurch hervorzubringen. Freilich, wendete er sich selbst wieder ein, werde ich nicht stehen bleiben bei dem, was ich jetzt leiste! Ich werde weiter streben, größere Fertigkeiten erringen, vielleicht manche neue Sachen erfinden, die noch nicht gesehen wurden; die mich selbst zufrieden stellen auf einige Zeit, weil sie der Menge gefallen! – Aber dann wiederum entsann er sich, daß ihm die Jartour, als eine in ihrem Metier sehr erfahrene und routinierte Kennerin, allerlei Bedenklichkeiten gegen seine Zukunft als Kunstreiter nicht vorenthalten habe. »Sie sind zu spät dazu gekommen«, – hatte sie ihn bei ihren Abendgesprächen als Krankenwärterin gesagt, – »Sie werden immer ein Eleve bleiben, dem die eigentliche Sicherheit, die rücksichtslose Zuversicht mangelt. Daß Sie jetzt Beifall fanden, ist ganz natürlich. Ihre jugendlich schöne Erscheinung, Ihr angeborener Anstand, Ihr musikalisches Talent, Ihr Mut, – dies alles im Verein überrascht und entzückt die Zuschauer. Hat es doch auch uns, die wir vom Handwerk sind, überrascht und entzückt. Aber bei all dem haben Sie – mir wenigstens – niemals den Eindruck eines wirklichen Artisten gemacht. Sie sind mir immer erschienen wie ein junger, vornehmer Herr, der aus Kaprice und mehr zu seinem als zu des Publikums Vergnügen diese Exerzitien mitmachen will. Jeder von den Jungen, die wir als Lehrlinge bei den Truppen haben, wie er Ihnen an Eleganz und Tournüre jetzt noch nachsteht, ist Ihnen an Festigkeit und Schule weit überlegen. Ihm merkt man die Peitsche an, die er von Kindheit auf gefühlt hat, und ohne die es bei uns einmal nicht geht; glauben Sie mir, Antoine, ich spreche aus Erfahrung.«

Die Äußerungen seiner besten Freundin klangen ihm jetzt lebendig und beruhigend im Gedächtnis nach. Sie trugen keineswegs bei, seine Einsamkeit zu erheitern.

»Soll ich mein Leben vergeuden, indem ich es anwende, dies oder jenes Violinsolo zu kratzen, während ich auf mäßig galoppierendem Pferde den Zirkus durchreite? Bin ich zu nichts Besserem geboren? Wäre es nicht klüger, ich säße in Liebenau und machte Körbe? Wäre es nicht nützlicher? Wäre es nicht beglückender? O! mein kleines, stilles Häuschen! O! meine alte, treue Großmutter! Und Ottilie! ...« Hier verstummte er. Sein Häuschen sah er im Geiste vor sich. Die Großmutter sah er, wie sie leibte und lebte. Aber Ottilies Bild vermochte er nicht mehr festzuhalten; ihre Züge standen seiner Einbildungskraft nicht mehr zu Gebote. Wenn er sie zu haben glaubte, war es plötzlich eine schelmisch lächelnde Laura, die er dachte; doch auch diese hielt nicht Stich, und Laura wie Ottilie verschwammen in leere Luft – bis endlich Adele ihn ernst und traurig ansah.

»Sie ist dieses Treibens auch überdrüssig«, fuhr er in seinen Betrachtungen fort; »sie erkennt auch die Nichtigkeit ihrer Bestrebungen. Und doch ist sie nur ein Frauenzimmer, bei der es ziemlich auf eins herauskommt, ob sie Strümpfe strickt und Kinder wiegt, oder ob sie auf munterem Pferde ihr Amazonendasein fristet. Aber ich bin ein Mann; ich trage Fähigkeiten in mir, hege das Bedürfnis, mich weiter fortzubilden, zu lernen. – Und bei alledem werde ich es in dieser brotlosen Kunst niemals soweit bringen, ihr nur die Schuhriemen aufzulösen; ihr, die an sich selbst verachtet, was anderen ihr ›schönes Talent‹ nennen! Überhaupt, ist es nicht unwürdig, den müßigen Leuten, die uns wie ihren Narren betrachten, Künste vorzumachen, um ihren Beifall zu buhlen und seine Knochen für sie zu Markte zu tragen? Sie nehmen nicht einmal Anteil an uns. Wenn einer von uns den Hals bräche vor ihren Augen, sie würden obendrein noch sagen: es geschieht ihm recht, wer heißt ihn solche unnütze Torheiten treiben? – Ja, wenn man dagegen die Schauspieler und ihre Kunst betrachtet, das ist ein ander Ding! Ein solches Theater, gegen unseren Zirkus gehalten, macht mir den Eindruck eines Heiligtums. Mit welcher Andacht lauschen da gebildete Zuhörer den schönen Worten und Handlungen, die bestimmt sind, sie zu erheben, zu belehren. Und wie erhaben ist die Bestimmung eines solchen Menschen, der auf der Bühne steht, um der Welt darzutun, daß jede Tugend ihren Lohn durch sich selbst empfängt, daß kein Frevel seiner Strafe entgeht. Hat es nicht auf mich gewirkt wie Gottesdienst, als der geringgeschätzte, mit Füßen getretene Jude zuletzt so groß und herrlich neben den stolzen Christen stand, daß sogar der aufgeblasene Kommerzienrat sich vor ihm und seinem Edelmut beugen mußte? Ach, wie mag einem Menschen zumute sein, einem Künstler, jenem liebenswürdigen großen Meister gleich, dessen Hand ich gestern an mein Herz drückte, wenn er zu sich selbst sagen darf: ›Du bist es, durch den erhabene Beispiele gegeben, solche eindringliche Lehren verkündet werden!‹ Ha, wie beneidenswert ist doch ein Schauspieler gegen nutzlose Burschen meiner Art ...«

Nun entstand eine lange Pause in Antons Monologe.

Wenn du auf einer Fußreise niedergedrückt und freudenleer unter einem grauen Tage dahinwanderst, ohne Hoffnung, daß der Himmel sich heute noch aufklären könne; wenn du, ich weiß nicht was, geben möchtest für ein Stückchen reines Blau über dir; wenn dein Herz mehr als je Wärme braucht und Licht, aber du siehst nur Nebel und empfindest nur, wie er dir naßkalt entgegenweht, – du entrollst deinen Mantel, damit du dich still ergeben, entsagend hineinhüllen dürfest, – und in demselben Augenblicke teilt sich die schwere Decke, – die Sonne gewinnt Kraft, – sie dringt durch, – der Morgenwind macht ihr Bahn, – frische Hoffnung auf einen schönen Tag durchströmt deine Brust! Weißt du, mein Leser, wie das tut?

Nun denn, so und nicht anders geschah unserem hypochondrischen jungen Freunde, da mitten in seine selbstquälerischen Klagen hinein der Sonnenblick eines neuen Lebens glänzte. Dieser Sonnenblick leuchtete ihn an aus den Augen des Schauspielers, der ihn gestern abend in der Weinstube freundlich lächelnd betrachtet hatte; jenes Blickes nur gedachte Anton, und ohne lange zu überlegen oder zu zögern, raffte er sich zusammen, machte sich auf den Weg zum Kastellan des Theaters, bei dem er sich nach der Wohnung des Mannes erkundigte, welcher ihm und seiner Zukunft ein Orakel werden sollte.

»Er muß das wissen!« rief er aus.

Binnen einer halben Stunde stand Anton, der Korbmacher aus Liebenau, vor Ludwig Devrient.

Dieser war, ihn zu empfangen, aus der Nachmittagsruhe aufgeschreckt worden, nahm ihn zwar freundlich und gütig, aber doch mit jener nur erzwungenen Herzlichkeit auf, die man erheucheln muß, wenn man sie momentan nicht empfindet.

»Was wünschen Sie von mir?« – Eine sehr einfache, naheliegende Frage, die aber den Aspiranten entsetzte; sie klang ihm lieblos, kalt im Vergleich zu seines eigenen Herzens Wärme.

»Vielleicht kennen Sie mich nicht mehr? Ich war nur eine Viertelstunde so glücklich ...«

»O, gewiß, ich kenne Sie. Wir sahen uns gestern abend in der Nähe. Früher schon habe ich einigemal Ihre Reitbahn besucht. Ich liebe diese kühnen Künste. Noch einmal: was führt Sie zu mir? Womit kann ich dienen?«

»Sie würden mir also nicht das Recht zugestehen, mich hier eingedrängt zu haben, nur um Sie zu sehen, zu hören, Ihnen wiederholt zu sagen ...«

»Sie sind kein Franzose?«

»Ich bin ein geborener Deutscher.«

»Und führen nur eine französische Etikette, wie leider unser Champagner bisweilen tut. Ja, ja, ich besinne mich, davon gehört zu haben; romantische Geschichte mit Intrige, Entführung und dergleichen. Sie sind noch sehr jung! – Aber nehmen Sie Platz. Ich freue mich, Sie bei mir zu sehen. Ihr Violinspiel zu Pferde hat eigentümliche Empfindungen in mir hervorgebracht, es liegt Seele in Ihrem Ton. – Sie sind nun wieder ganz hergestellt?«

»Körperlich wohl. Aber ...«

»Aha, es steckt was im Herzen? Ihr Herren von der Kunstreiterei sollt sehr empfänglich sein für Leiden und Freuden dieser Gattung.«

»Mein Leid ist anderer Art. Es erfüllt den ganzen Menschen. Es ist Herzeleid und ein Seelenleiden, gegen welche ich Rat und Hilfe bei Ihnen holen will.«

»Bei mir?«

»Sie sind der einzige, der mir beides geben kann; der einzige, zu dem ich unbedingtes Vertrauen hege.«

»Rat und Hilfe gegen Seelenleiden bei mir? Bei mir, dem größten Hypochonder im ganzen Königreich? Bei mir, der sich selbst nicht zu raten und zu helfen weiß? Ah, das ist nicht übel; das wäre ein Stoff für die feingespitzte Feder unseres Kammergerichtsrates: ein junger Kunstreiter, welcher sich Heilmittel wider Hypochondrie, Melancholie, und wie das Teufelszeug heißt, bei mir zu holen kommt! Wissen Sie, daß mich die Ärzte zu Ihnen schicken, das heißt, mir anraten, ein Pferd zu besteigen und mir reitend Bewegung zu machen, indem ich mich tüchtig rütteln und schütteln ließe? Das soll ein trefflich Mittel sein, und dieses, dächte ich, hätten Sie aus erster Hand. Wie können Sie bei Ihrer Lebensweise auf hypochondrische Grillen geraten?«

»Wenn Sie mir erlauben wollten ...«

»Sie haben recht. Ich ließ Sie nicht zu Worte kommen. Ich bitte um Verzeihung – und ich höre.«

»Fürs erste ersuche ich Sie um Geduld, sich meine Lebensgeschichte mitteilen zu lassen, die Sie romantisch wähnen, Sie ist sehr einfach und – zu Ihrem Troste sei's gesagt – sehr kurz.«

Anton drängte von dem, was der Leser bereits über ihn weiß, das Wichtigste, hierher Gehörige in einen schlichten Bericht zusammen. Ohne einen Namen zu nennen, ohne Orte zu bezeichnen, gab er seinem aufmerksamen Zuhörer im kürzesten Zeitraum das klarste Bild von sich selbst, mit so festen Zügen entworfen und mit so psychologischer Wahrheit ausgemalt, daß der Schauspieler vollkommen befriedigt schien und ihm mehrfach beistimmend und lobend zunickte. Als der Erzähler bis auf den gegenwärtigen Zeitpunkt gediehen war, fuhr er fort: »Gestern sah ich Sie auf der Bühne. Seit gestern abend fühlte ich das Drückende meiner Lage mehr als sonst, ohne doch zu wissen, was mir eigentlich fehle, ohne mir über meine wachsende Mißstimmung deutliche Rechenschaft ablegen zu können. Die Abreise meiner Freundin hat mein Unbehagen noch gesteigert. Und aus der trostlosen Niedergeschlagenheit, in die ich mich versenkt sah, ist nun plötzlich, wie ein Lichtstrahl von oben, die Hoffnung über mich gekommen, ich könnte Hilfe finden in Ausübung der herrlichen Kunst, deren Meister Sie sind.«

»Also mit einem Wort: Schauspieler wollen Sie werden? Ob ich mir's nicht gedacht habe! Mensch, Sie sind verrückt. Nachdem Sie es durch ungeheuere Anstrengung so weit brachten, sich in Ihrem Gewerbe Bahn zu machen, wo Sie einer einträglichen Stellung entgegengehen, wollen Sie umsatteln, ein anderes Ziel verfolgen, wollen recht eigentlich vom Pferd auf den Esel steigen? Aber das ist ja reiner Wahnsinn! Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie zum Schauspieler berufen sind? Ihr Spiegel vielleicht? Sie wissen, Sie sind ein schöner junger Mann, gut gebaut, die albernen Weiber mögen Ihnen das oft genug vorgewinselt haben. Doch machen schlanke Taille und glatte Wangen den Schauspieler nicht. Mit solchen Requisiten und mit dem besten Willen obenein können und werden Sie ein höchst mittelmäßiger Darsteller bleiben. Wissen Sie, was das ist, ein mittelmäßiger Akteur, um nicht zu sagen: ein schlechter? Unter gewissen Umständen, ich meine bei geringen Ansprüchen, wie manche bescheiden eingerichtete Menschennaturen sie nicht anders mitbringen, kann ein solcher subordinierter Handlanger auch ein erträgliches Dasein fortschleppen; das gebe ich zu. Doch für Sie gilt dies nicht. Sie suchen etwas anderes. Sie werden es nicht finden, und dann erst werden Sie ganz elend sein.«

»Das ist möglich. Nach Ihrer Meinung sogar höchstwahrscheinlich. Gut! So ist es doch keineswegs gewiß. Daß ich es aber jetzt wirklich und wahrhaftig bin, daß ich mich so fühle, daß ich die Überzeugung habe, in der Kunstreiterei niemals ein Höchstes zu erreichen, das ist bereits sehr gewiß. Und ein mittelmäßiger Kunstreiter ist doch wahrlich noch elender als ein mittelmäßiger Schauspieler?«

»Wer sagt Ihnen das? Ich behaupte das Gegenteil. Ein Mensch, der sein Stück Arbeit auf dem Pferde macht, ohne Ideen, ohne Ansprüche auf Geist und Gemüt, jedem höheren Streben entsagend, will eben nichts anderes sein, als was er ist. In seiner Beschäftigung liegt sein Leben, und wenn er nicht vermag, als Kunstreiter zu glänzen, so bleibt ihm gestattet, sich als tüchtiger Reiter und Pferdekenner auszubilden; er gibt Unterricht, er nimmt zuletzt den Rang eines Stallmeisters ein, der mit Pferden, auf Pferden lebt und webt und wirkt, in seiner Art ein ganz tüchtiger Kerl sein kann. Jener Schauspieler jedoch, dessen Mittel und Fähigkeiten hinter seinen Ansprüchen, dessen Darstellungsgabe hinter seinen Intentionen zurückbleiben, der fortdauernd, auch bei der geringsten Rolle, die man ihm anvertraut, aufgefordert wird, zu denken, zu empfinden, in die Motive der bedeutenderen Schauspieler mit einzugehen, ihnen untergeordnet, doch aufmerksam zur Seite stehen, ... duldet ein solcher, wenn Ehrgeiz ihn anspornt, nicht fortwährende Folterqualen? Kann es für ihn auch nur eine ruhige Stunde geben? Muß nicht jeder Lobspruch, der ihm für Aufmerksamkeit und Fleiß zuteil wird, einen Stich ins Herz tun, weil er ihm mit anderen Worten andeutet: nur auf dieser Stufe bist du brauchbar, auf dieser harre aus? Wehe ihm nun gar, wenn er, empfänglich für Poesie, um sich geistig weiter zu fördern, mit Ernst und Einsicht die Werke der Meister studiert. Dann wird er sich nicht verschweigen können, daß er würdiger sei, ihre Herrlichkeit von der Bühne zu verkünden, als viele, die neben ihm stehen, die er ebenso weit übersieht, wie sie ihn als Schauspieler übertreffen. Denn, mein Lieber, nicht jeder, der es versteht, vermag es auszudrücken; nicht jeder, der es fühlt, kann es wiedergeben; sonst müßten ja alle klugen, gefühlvollen Menschen, die eine gute Aussprache, ein ausdrucksvolles Gesicht, eine starke Brust und gesunde Gliedmaßen besitzen, imstande sein, vortreffliche Schauspieler zu werden. Sie sind es aber nicht imstande! Nein, Sie sind es nicht! Die Darstellungsgabe ist ein sechster Sinn, ein unerforschliches Etwas, dessen Entstehen und Walten noch kein Physiologe auseinandergesetzt hat und ebensowenig jemals einer belauschen wird wie die Mysterien der Zeugung. Und woher mutmaßen Sie, daß dieser sechste Sinn Ihnen mitgegeben sei? Mitgegeben muß er sein, verstehen Sie mich, junger Mensch? Mitgegeben von Geburt aus! Gott – oder der Teufel, ich weiß nicht wer – muß ihn dem Kinde eingehaucht haben, als es dieses Erdentages Licht erblickte. Empfanden Sie bisher davon eine Spur? Hat ein unbekannter, unbewußter, dennoch unbesieglicher Trieb Sie angeregt, kundzugeben, was in Ihnen kocht und gärt und um jeden Preis zur Anschauung gebracht sein möchte? – Keineswegs! Sonst ja wären Sie, nachdem Sie jene Dorfkomödie mit angesehen, ohne weiteres den Zigeunern nach in alle Welt gelaufen, hätten Ihre Körbe Körbe sein lassen. Das Bedürfnis: darzustellen! hätte jeden anderen Gedanken bei Ihnen getötet; davon aber war keine Rede. Sie liefen in die Welt, lediglich, weil es Ihnen daheim nicht mehr gefiel, weil Ihre jugendliche Kraft und Lebenslust zu leben sich sehnten. Die Bühne suchten Sie nicht. Liebe und Liebesglück suchten Sie, Pferde, bunte Kleider, Gefahr! – Was ich Ihnen sage, soll kein Vorwurf sein, ich finde dies alles ganz natürlich. Darum mögen Sie es auch natürlich finden, wenn ich Sie nicht von innen berufen halte, Schauspieler zu werden. Weil Sie mich gestern spielen sahen, weil ich Sie rührte, weil wir uns im Weinhause fanden, weil ich Sie durch einen Spaß à la Garrik überraschte; deshalb wollen Sie in aller Eile auch ein Schauspieler sein? Wie die Kinder, wenn sie von der Parade kommen, General spielen, oder Priester, weil sie in einer Kirche waren. Es schauspielert sich nicht so leicht! O, wie vielen habe ich das schon zurufen müssen! Ich bin müde davon!«

»Sie schweigen; – haben Sie geendet? Unterbrechen wollte ich Sie nicht; darf ich jetzt noch ein Wort an Sie richten? Ihre scheinbare Härte hat mich weder verletzt noch gekränkt; ich hörte nur den Ehrenmann reden. Doch nun erlauben Sie mir meine Einwendungen vorzubringen, die, wenn auch nicht alles, doch einiges widerlegen dürften, was Sie mir entgegengestellt. Ich begreife vollkommen, daß viele junge Männer sich an Sie drängen, um Ihnen, gleich mir, Wünsche zu eröffnen, die den meinigen ähnlich sind. Sie haben gewiß recht, bei solchen Eröffnungen der Kinder zu gedenken, welche im Spiele nachäffen möchten, was ihnen eben in Wirklichkeit erschien und ihre Einbildungskraft erregte. Auch will ich gern glauben, daß bei vielen Jünglingen der Drang nach ungebundenem Leben, die tadelnswerte Sehnsucht, ihren häuslichen Verhältnissen zu entfliehen, heftiger sein mag, als der eigentlich innere Beruf zur Kunst, daß folglich auf diese Weise viele die Bretter besteigen ohne edleren Antrieb – ja ohne wahre Neigung und Lust zur Sache. Desto schlimmer für jene! Aber paßt denn das auf mich? Ich bin ja frei, ungebunden; treibe ja schon ein Handwerk, welches gleichsam außer allen Schranken des bürgerlichen Lebens liegt. Ich, wenn ich mich dem Theater widme, trete sozusagen ins geregelte Dasein zurück. Ich beschränke mich selbst, indem ich darauf hinarbeiten will, aus einem Länder durchstreifenden Vagabunden ein solider Künstler zu werden. Was ihren Beamten und ernsten Geschäftsmännern ein Tummelplatz ungebundener Willkür erscheint, die Bühne – mir, dem Aufwärter einer Menagerie, dem Eleven einer Reiterbande – mir wird sie zum Tempel, zum Heiligtume, wo ich die Gottheit und deren Nähe ahnen darf! Von dieser Seite kann mich also der Vorwurf des Leichtsinns gewiß nicht treffen. Von der anderen Seite aber, was Ihren Zweifel an meinem Talente gilt – reden Sie aufrichtig: ist Ihre Berechtigung, mir dieses abzusprechen, größer, sicherer begründet als meine Berechtigung, daran zu glauben? Wissen Sie, was in mir vorgeht, seit ich Sie spielen sah? Wollen Sie darauf schwören, daß ich nicht jenen Hauch empfangen habe, den der Himmel – oder, wie Sie scherzhaft äußerten, die Hölle – dem Schauspieler bei seiner Geburt einblasen mußte? Wollen Sie's verantworten vor mir und vor sich selbst, wenn Sie mir mit unumstößlicher Gewißheit auf den Kopf zusagen, daß ich durchaus nicht befähigt sein könne, dereinst ein großer Schauspieler zu werden, ein Schauspieler – wie Ludwig Devrient?«

»Nein, das könnte ich nicht verantworten; denn Sie sprechen wahr. Ich weiß es nicht, wie man weiß, daß zwei mal zwei vier macht. Doch was ich weiß, was ich verantworten will vor mir, vor Ihnen und vor Gott, das ist mein wiederholter Zuruf: Versuch' es nicht! ›Ein großer Schauspieler! Ein Schauspieler wie ich?‹ Nun meint er wunder, welchen Trumpf er ausgespielt. Und was würdest du denn sein, Knäbchen, wenn du's erreicht hättest; wenn du ein großer Schauspieler wärest, ein Schauspieler wie – ich? Ein armer, erbarmungswürdiger Mensch wirst du sein, ein Mensch, den seine Kunst aufgerieben, der, in jungen Jahren ein Greis, dahinwelkt, ein Mensch, der, ein Spielball seiner eigenen Nerven, keine Gewalt mehr hat über sich selbst, keine moralische Kraft, sich zu beherrschen, der sich mit Beifall überschüttet hört, wenn er an sich zweifelt, den sie kalt vorübergehen lassen, wenn er den Gott in sich fühlt, der um Beifall buhlen muß, den er verachtet – und ohne den er doch nicht leben könnte, weil er nur aus ihm Lebensluft atmet, der das Publikum gering schätzt, weil es kein Urteil hat, weil es niemals weiß, was es will, weil es dumm ist – und der diesem dummen Publikum dient wie der Negersklave seinem Pflanzer, der keuchend bis zur Zerstörung aller Organe, matt bis zum Tode, sich hinschleppt vor die Lampen, die ihn abscheiden von der bewegten, törichten, unbeständigen, undankbaren Masse. – Undankbar, ja undankbar sind sie. O, Schande und Schmach! Wenn ich halb sterbend in einem Winkel lag; wenn kein Fünkchen mehr glimmen wollte aus dem zerrütteten Leibe; wenn ich, unfähig beinahe, mich zu regen, flüssiges Feuer hinabstürzte, daß es mich brennend durchdringe, daß ich auf eine Stunde nur emporleuchten könne, sie zu entflammen mit meiner Glut – für wen tat ich es denn? Für wen goß ich Gift in diese kranke Brust? Für sie! Für ihr Entzücken! Und wie lohnen sie mir's? Säufer nennen sie mich! Wohin du kommst, wirst du vernehmen, daß sie mich tadeln, daß sie mich anklagen, daß sie mich Trunkenbold schelten, Verschwender, Wüstling. O, die Undankbaren! Die Dummen! Weil eine Stunde schlägt, welche zum Beginn des Schauspiels angesagt ist; weil sie versammelt sind auf ihren Sitzen, die langweiligen, gelangweilten Gesichter! weil sie ihr lumpiges Eintrittsgeld gezahlt haben; weil ich ihr Knecht bin, soll ich, sobald der Souffleur das Zeichen gibt, ihr – Gott weiß was – werden; ihr König Lear, ihr Schneider Fips, ihr Mephistopheles Es ist hier vom Teufel in Klingemanns Faust die Rede. Der Goethesche war zu Ludwig Devrients Zeiten noch nicht auf der Bühne., ihr Gottlieb Koke, ihr armer Poet, je nachdem die Anschlagzettel es künden und sie ihre Karten gelöst. Und die Bestien begreifen nicht, daß eine Seele, die solchem gewaltsamen Rufe zu gehorchen fähig ist, eine Seele, die sich so tief in den Zustand fremder Seelen zu versetzen vermag, daß diese Seele eine kranke werden oder schon sein muß; begreifen nicht, daß eine solche Seele den Körper, der sie umgibt, der für sie und mit ihr leidet, aufreiben muß! Die Bestien! Große Leidenschaften soll ich ihnen vorführen; ungeheuere Persönlichkeiten soll ich ihnen zeigen, soll diese vor ihnen schaffen, entfalten, zerstören; soll vor ihnen grollen, rasen, sterben; soll alles mit empfinden, mit durchleben – bloß, weil sie ihr Legegeld an der Kasse entrichtet? – und ich soll keiner großen Leidenschaften in mir selbst fähig, soll derselben nicht bedürftig, soll ein Spießbürger sein, wie sie? Soll fein säuberlich heimgehen, unter meine Decke kriechen und Fliedertee saufen, wenn meine Pulse noch glühen, mein Herz noch tobt, meine Nerven zu zerreißen drohen? Die großen Leidenschaften sind es ja, ihr ewigen Philister, sie allein, die den großen Schauspieler geben! – Ein großer Schauspieler! Ha, ich muß lachen. Was ist er ihnen? Der Affe, der für sie springt. Ihr Applaus ist die Peitsche, die ihn springen macht. Und dieser Applaus, nach dem ich trachte, dessen ich bedarf, wenn ich gut spielen soll, wie des geistigen Getränkes, wenn ich nicht zusammensinken will! – Wie verteilen sie ihn? Wem spenden sie ihn am lautesten, am häufigsten? – Laß mich's nicht denken, du gutes, unerfahrenes, leichtgläubiges Kind! Laß mich schweigen!«

Bleich und stumm stand Anton vor dem zürnenden Künstler, der nur nach und nach wieder einige Fassung gewann und endlich, scheinbar beruhigt, mit seinem spöttischen Lächeln fragte: »Nun, wie steht's, wollen Sie noch ein großer Schauspieler werden?«

Anton erwiderte: »Von mir ist jetzt nicht mehr die Rede. Ich habe jetzt nur Gedanken für Sie, für Ihren Zustand. Das ist die traurigste Enttäuschung, die mir zuteil werden konnte. Ich kam, einen Herrscher zu sehen, der in seinem Reiche angebetet, beglückend und glücklich wäre. Sie zeigen mir einen Unglücklichen, der an sich und seinem Glücke verzweifelt; der seine Kunst gering schätzt ...«

»Halt Er an! Halt Er an, junger Reiter, daß die Mähre nicht mit ihm durchgeht! So ist es nicht gemeint. Wenn ich unglücklich bin, will ich es nicht für den Pöbel sein. Ich bin es für mich, an trüben, grauen Tagen, wie heute; bin es für die Vertrautesten; bin es jetzt gewesen für einen biederen Jungen, dem ich gestern abend ins Herz geblickt, und den ich lieb gewonnen. Also, mein Söhnchen, das bleibt unter uns. Aber die Kunst, die Schauspielkunst, die wahren Künstler schätze ich nicht gering; das haben wir falsch verstanden, junges Kamel mit geschorenem Schädel. Denn ich müßte dann auch mich und mein Genie gering schätzen, und das wäre Gotteslästerung. Weiß Er das? Ich bin fromm, auch wenn ich nicht zur Kirche gehe. Ich bin tugendhaft trotz meiner Laster. Ich bin ein reines Kind trotz all dem Schmutz, der an mir klebt. Ich glaube an Gott. Ich bin dankbar gegen ihn, dankbarer, als unser hochpreisliches, höchst verehrungswürdiges Publikum. Und weil ich fromm bin, weil ich an ihn glaube, glaub' ich auch an mich und meine Kunst, für die er mich geschaffen hat. Begreift man diese Konsequenz? Und wenn ich geklagt habe, daß die Seele des Schauspielers sich selbst verleugnen, sich untreu werden, daß sie sich in die Seele, in den Leib anderer versetzen, daß mit einem Worte der Darsteller seine Persönlichkeit aufgeben müsse, so war das eine Klage aus dem beschränkten Gesichtspunkt beschränkter Kleinkrämer, in die unsereiner einstimmt, wenn er schwache Stunden hat. Höheren Ortes erscheint sie albern. Soll etwa der Advokat, der eine schlechte Sache zu verteidigen, der den Prozeß eines Schurken zu führen verpflichtet wird, deshalb ein Schurke heißen, weil er alle Segel aufspannt, demjenigen zwischen Galgen und Rad vorbeizuhelfen, dessen Unrecht er so klar durchschaut wie die Richter? Tut er nicht seine verdammte Schuldigkeit, wenn er sich mit allen Kräften des Geistes, mit allen Mitteln des Wissens in die Lage des Schurken denkt und für ihn arbeitet wie für sich selbst? Und an mir, an meinem besseren Ich sollten die Makel hängen bleiben, in die ich mich sinnend vertiefe, um einen Shylock, einen Franz Moor in ihr hellstes Licht zu setzen? Das träfe ja den Dichter nicht minder als mich. Torheiten das! Wir stehen über diesen Dingen, der schaffende Dichter, der wiederschaffende, belebende Schauspieler. Wir stehen über der Masse, die uns nicht begreift, so wenig wie sie begreift, wie viel dem produzierenden Poeten, wie viel dem reproduzierenden Darsteller gehört von dem, was sie erschüttert, entsetzt, rührt oder wiehern macht.

's allerdings ein elend Leben,
Möcht's doch nicht für ein andres geben!

Nun, lebe wohl, mein Sohn! Folge mir: gib den flüchtigen, eitlen Gedanken auf. Dich rief dein Spiegel zum Theater, nicht der Gott in dir; – obwohl der Teufel noch weniger: aus solchen Zügen redet der nicht. Werde ein tüchtiger écuyer. Wir Franzosen – (denn ich bin auch so ein Stück von Franzosen, weil wir Devrients aus der französischen Kolonie stammen; wenn ich schon sonst durch und durch ein ehrlicher Deutscher und ein treuer Preuße bleibe!) – wir Franzosen sagen: ›Embrasser un métier‹. Das ist ein schöner Ausdruck; man soll, was man einmal zum Berufe erwählt, fest umhalsen, nicht wechseln, nicht von einem aufs andere äugeln. Folglich bleibe im Stalle, in deiner Reitbahn. Dort blühen auch Röschen, wenn keine Rosen – und Dornen stechen überall. Fühlst du dich aber manchmal niedergedrückt von den Mühen deines Handwerks – oder nennen wir's Kunst meinetwegen – bist du recht verdrossen und abgemattet vom Staube des Tages, vom Lärm eurer Abende, dann gedenke dieser Stunde, gedenke meiner, du ehrlicher Bursche, meiner, der dich und deine treuen Augen nie vergessen wird; bedenke, daß der arme Ludwig auch sein Bündel trägt, daß er keucht unter dieser Last, daß er jede frohe oder wilde Stunde der Nacht mit bitteren Qualen bezahlt, daß jeder Abend des sogenannten Triumphes ein Jahr seines zerstörten Lebens kostet, daß er nicht selten den ganzen Plunder von Beifall, Ehrenbezeigungen, Berühmtheit zum Henker wünscht, weil er nichts davon hat als die Schmerzen!«

Bei diesen Worten reichte er Anton die Hand und ging. Doch an der Tür des anderen Zimmers wendete er sich noch einmal um, erhob das herrliche Haupt, ließ sein Auge von geistigem Glanze strahlen, wuchs, möchte man sagen, auf vor des Staunenden Blick, daß er groß, erhaben aussah, und wiederholte mit vollster Kraft der Stimme:

»– – nichts als die Schmerzen,
Und wofür wir uns halten in unserm Herzen.«

Dies war das letztemal, daß Anton Ludwig Devrient gesehen und gehört.


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