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Siebenunddreißigstes Kapitel

Dir, mein teuerer Leser, der du dich deiner Schnellpostfahrten von B. nach Br. wie saumseliger Schneckenreisen erinnerst im Vergleiche mit der jetzt herrschenden Dampfexpedition, dir werde ich Mühe haben, klarzumachen, daß unser Anton, als vierter Teilnehmer einer sogenannten »Reisegelegenheit«, die Räder derselben in tiefem Sande sich langsam winden sah und deshalb vorzog, manche Meile gehend zu besiegen. Spät abends am vierten Tage oder am Vormittag des fünften, früher gab es keine Aussicht auf Erlösung.

Antons erste Reisegesellschaft bestand aus stillen, gleichgültigen Leuten, die ihn für einen Franzosen hielten, mit dem sie nicht plaudern könnten, weshalb sie ihn seinen Gedanken an Adele ungestört überließen. Der Lohnkutscher war sehr ärgerlich. Die drei stummen Gefährten unseres Helden hatten sich dem Zauderer und dessen Marteranstalt nur bis W. verschrieben; dort, wo sie Handelspläne in der Umgegend verfolgen wollten, fielen sie ihm ab, und er sah sich gezwungen, mit einem miserablen, lausigen Passagier (wie er sich ausdrückte) weiterzutrödeln. Doch dein Kutscher lenkt – und das gute Glück denkt für ihn.

Im zweiten Nachtquartier, das trotz der kürzesten Tageszeit noch bei hellem Sonnenschein bezogen wurde, fand Anton das Städtlein voll freudiger Aufregung.

Der berühmte Taschenspieler und Bauchredner Charles aus Paris wollte die Herablassung haben, auf seiner großen Kunstreise eine Darstellung zu geben. Programme, die im Gastzimmer des Wirtshauses hingen, klebten, flatterten, auf Tischen und Stühlen umherlagen, verhießen das Unglaubliche und zum totalen Beschlusse sogar ein Feuerwerk ohne Pulver.

Wahrscheinlich hatte der Kutscher dem Gastwirt und dieser dem bei ihm verkehrenden Tausendkünstler angedeutet, daß Anton ein Antoine und – laut Paß – gleichfalls ein Franzose sei, denn Herr Charles suchte den Landsmann gleich auf, offerierte ihm eine Einlaßkarte und mit derselben das Gesuch, ihn als »compère« ein weniges zu unterstützen. Vergeblich stellte Anton seine Unerfahrenheit in derlei Dingen dagegen, berief sich auf ein ihm eigenes Ungeschick, andere zu mystifizieren, und versicherte, daß er durch sichtbare Verlegenheit sein Einverständnis zu verraten fürchte. Herr Charles ließ nicht mehr los. Er unterwies den Zögernden auf's Umständlichste, wie man sich benehmen solle, jeden Argwohn zu entfernen, und schärfte ihm hauptsächlich ein, so weit als möglich vom eigentlichen Schauplatz, in einer Ecke des Saales, mitten unter uneingeweihten Zuschauern, Platz zu nehmen. Nachdem Anton endlich zugesagt und gelobt hatte, nach besten Kräften die ihm zugeteilte Rolle des Verwunderten zu spielen, brachte Herr Charles zwei lebensfrische, gelb-schwarz-weißgefleckte Meerschweinchen von verhältnismäßig nicht unbeträchtlicher Größe aus seinem Busen hervor, die er dem neuangeworbenen Helfershelfer als Teilnehmer des bevorstehenden unschuldigen Betruges präsentierte. Die Sau schien duldsam und sanften Temperaments. In den Augen des Ebers aber lag ein Ausdruck von Tücke – auch verhehlte Charles nicht, daß selbiger vor wenigen Tagen seine eigene (des Ebers) Kinder ihrer sie tränkenden Mutter vom Herzen gerissen, und die Kleinen, kannibalengleich, gefressen habe. Solches Ehepaar schob er unserem Freunde in die linke Rocktasche, wobei er ihn bat, sich seinerseits ruhig zu verhalten, die Insassen weiter nicht zu beachten, für deren zweckmäßiges Verhalten gebürgt werde, da dies ihr Beruf, ihre fixe Anstellung und ihnen durchaus geläufig sei. Nur sei zu vermeiden, daß man sich aus Vergeßlichkeit und in Zerstreuung nicht etwa auf die Tiere setze, weil sie doch zarter Konstruktion seien und das Wiedererscheinen von Leichnamen nicht nur die Damen erschrecken, sondern auch dem Stücke die lebendige Wirkung rauben dürfe. Übrigens habe die Stunde geschlagen und das Publikum solle nicht länger schmachten.

Anton, wie langsam auch er die Beine setzte, wie vorsichtig er Schritt um Schritt abzirkelte, konnte doch nicht verhindern, daß treppauf, treppab der beschwerte Taschensack ihn, einem Glockenklöppel ähnlich, mit sanften Schwenkungen begrüßte. Jeder Schlag entlockte den eingesackten Geschöpfen ein dumpfes Grunzen, wie es in verkleinertem Maßstabe schlichte, gewöhnliche Ferkel etwa ausstoßen würden. Dieser höchst verdächtigen Töne Klang überzog seine Wangen mit immer wiederkehrender Schamröte, und er pries sich glücklich, als er im schon gefüllten Saale einen Winkel eroberte, wo zwei Mauern ihm den Rücken deckten, und wo er bewegungslos wie ein Laternenpfahl stehen blieb, um nur den abscheulichen Ton aus dem Hintergrunde nicht hervorzurufen. Es war für ihn ein schlimmer Abend. Seine Gutmütigkeit hielt ihn ab, des gewandten Franzosen Zutraulichkeit zu täuschen, und doch litt er unaussprechlich durch die Befürchtung, der Verrat könne von den Meerschweinchen ausgehen; denn im äußersten Falle, wenn seine Nachbarn dem Geräusch im Winkel ihr Ohr geliehen, die Spur desselben verfolgt hätten, ... was wäre ihm übrig geblieben, als den Schuldigen zu nennen? Während die entzückten Kleinstädter allen Schwänken und Spielereien des Herrn Charles ein an Begeisterung grenzendes Erstaunen darbrachten, froh in die Hände klatschend, sobald er ihnen wieder eine Nase gedreht und sie durch seinen Hokuspokus betrogen, vermochte Anton gar nichts zu denken, als nur: Ihr habt gut lachen und applaudieren, euch regen und bewegen, ihr Menschen! Ihr habt keine Meerschweinchen im Sack!

Die erste Abteilung ging vorüber mit verwechselten Uhren, in die Luft geschossenen Ringen, erratenen und tanzenden Karten, erblühenden Blumen, gerupften Sperlingen und sämtlichem Zubehör jener herzlich langweiligen Unterhaltungen, durch die man ehrliche Leute zu amüsieren pflegt.

In der zweiten entwickelte Herr Charles – (Eskamoteurs, Taschenspieler und dergl. wagten damals noch nicht, sich Professoren zu nennen!) – seine unaussprechlichen inwendigen Fähigkeiten als Bauchredner in allerlei geistvollen Dialogen, deren besonders einer, zwischen ihm und einem aus dem Schornstein antwortenden Kaminfeger, den höchsten Grad der Täuschung erreichte, so daß Antons Nachbar, ein scharf kritischer Kopf, darauf schwur, es stecke keine Phantasiegebilde des Herrn Charles, sondern ein wirklicher, reeller Lehrling des Meister Schwarz im Gemäuer, gegen welche lästernde Anklage sich jedoch der zufällig anwesende Schornsteinfegermeister mit seinem Bürgerwort verbürgte und dadurch den Beifall noch stürmischer machte.

Die dritte Abteilung brachte wieder einige unendliche Kartenkünste und endlich das Stück mit den Meerschweinchen, deren Erscheinen Anton mit Gefühlen der Wonne begrüßte, weil es ihm und den in seiner Tasche verborgenen Doppelgängern Erlösung verkündigte. Er erblickte in beiden nun den Schauplatz betretenden Quadrupeden die täuschend ähnlichen Abbilder seiner Hintersassen, so daß er in der ersten Überraschung unwillkürlich einen heimlichen Griff nach seiner Tasche wagte, um sich erst zu überzeugen, ob etwas an Schweinen entkommen sei. Doch nein, kein Unterschied fühlbar, weder im Volumen, noch im Gewicht.

Herr Charles bat sich von einem der ihm zunächst stehenden Herren ein seidenes Taschentuch aus – nur ein solches Exemplar befand sich im Saale, worüber der glückliche Inhaber nicht wenig Stolz verriet –, wickelte beide Meerschweinchen, die, auf dem Zaubertische harrend, sich der Prozedur bereitwilligst fügten, in das Tuch, verflocht die Zipfel in kunstvolle Knoten und steckte sodann das Häufchen Unglück in einen zierlichen Mahagonikasten, den er fest verschloß und dann den Schlüssel einer jungen Dame überreichte, damit sie ihn festhalten möge. Die Schöne, die sich in diesem Augenblicke die wichtigste Person der Stadt dünkte, gab dem Herrn Kommandanten durch geringschätzende Mienen zu verstehen, die seiner Obhut anvertrauten Torschlüssel wären gar nichts im Vergleich zu diesem, den man ihr übergeben, und klemmte sodann ihre Fingerchen zusammen, daß ihr die Nägel ins zarte Fleisch drangen. Nun brachte Herr Charles einen großen Laib Brot, den er auf einem anderen Tische der Versammlung prüfenden Blicken zur Schau legte. Und als dies geschehen, auch mit unerläßlichen Phrasen begleitet war, ließ er den Zauberstab walten. Die junge Dame mußte mit eigener, blutrünstiger Hand das Kästchen öffnen und fand es natürlich leer. Der Tuchlieferant wurde gebeten, das Brot zu zerschneiden, was einige Mühe machte, diese jedoch durch sich selbst, das heißt durch den in einen Klumpen zusammengebackenen, im Zentrum des Laibes versteckten, jetzt wieder errungenen Foulard belohnte. – Allgemeine Bewunderung. – »Aber wo sind die Meerschweinchen geblieben?« so fragte Herr Charles in schwer verständlichem Deutsch. »Sie würden argwöhnen, ich praktiziere sie Ihnen in die Taschen, wenn sie sich bei einem der Umstehenden vorfänden. Deshalb soll ein Herr sie haben – der ganz entfernt von mir – dort, in jenem Winkel – ja, ja, Sie, mein Herr – o, leugnen Sie nicht!«

Er zeigte mit dem Finger nach Anton, alle Köpfe folgten der Richtung des Fingers, sämtliche Augen in sämtlichen Köpfen sämtlicher Damen blieben wohlgefällig auf Anton haften, der verlegen diesem Kreuzfeuer bloßstand.

»Kommen Sie, mein Herr«, rief Charles, »kommen Sie zu mir, wir wollen nachsuchen.« Der scharfe Kritikus in Antons Nähe äußerte dagegen: »Durchaus nicht; wenn wir ihn zu ihm schicken, geschieht dort oben in aller Eile, was wir nicht mehr überwachen können. Soll das Kunststück wirklich Wert haben, so müssen die Tiere jetzt schon verzaubert sein.«

Charles benützte diese Interpellation, stellte sich so ängstlich wie möglich an und schien verweigern zu wollen, daß man ihn untersuche.

Ein Gemurmel des Zweifels schlich durch die Gesellschaft.

»Darauf war ich nicht vorbereitet«, sprach nach kurzem Zögern Herr Charles, »jedoch wenn man es durchaus so verlangt – meinem Zauberstab ist nichts unmöglich. ›Changez vite!‹ Nun untersuchen Sie, mein Herr!«

Anton machte eine Wendung halb links, wodurch er sich der kritischen Forschung darbot wie ein redlich gesinnter Dieb, den die Häscher eingefangen. Der scharfe Kritikus griff ihm in die Rocktasche; – man hörte ein gellendes: »Au weh!«

»Haben Sie den Schwein?« fragte Charles.

»Nein, er hat mich«, erwiderte jener, zog seine Rechte heraus, und am zweiten Finger derselben, in welchen er sich verbissen, baumelte der Kindermörder. Die Gattin folgte duldend, ohne Gegenwehr.

In den Ausbruch völliger Zufriedenheit von seiten eines kunstsinnigen Publici mischte sich Schadenfreude über die Verwundung des kritischen Kenners, und als nun zum Schlusse der Tausendkünstler mit einigen Schläuchen unter den Armen hervortrat, alle Lampen und Kerzen löschen ließ, um dann urplötzlich die Finsternis durch Sonnen, Sterne, Räder, die im buntesten Feuer ihn verklärend umspielten, zu erhellen, da riefen viele Stimmen: »Er ist wirklich ein Hexenmeister!«

So ändert sich die Welt. Heute bleibt kein Gassenjunge vor einer Gasflamme stehen, mag sie noch so hoch emporflackern! – und nichts anderes waren es als brennende Gase, die Herr Charles aus jenen Schläuchen in metallene Röhren strömen und durch diese, zu mannigfachen Formen und Figuren sich gestaltend, verbrennen ließ. Wer den geblendeten Kleinstädtern damals gesagt hätte, daß in ähnlichem Zauberlichte gar bald ihre Nachkommen, vielleicht sie selbst die Straßen durchwandern sollten, wenn sie die Reise nach irgend einer größeren Stadt unternähmen! Ja, wer weiß, ob nicht, während diese Zeilen aufs Papier fließen, derselbe Saal, dessen Schilderung wir beabsichtigen, auch schon mit Gas beleuchtet wird?

Armer Charles, deine Zeit wäre vorbei, sogar dort, wo man dich vergötterte.

Anton wollte sich gerade zur Ruhe begeben, als er die Einladung des Herrn Charles erhielt, bei ihm ein Glas Wein zu trinken. Um nicht unfreundlich zu erscheinen, nahm er es an unter dem Vorbedacht, daß er sich zeitig entfernen dürfe. Er fand noch drei andere Gäste und erkannte zwei derselben; den Herrn vom seidenen Taschentuch wie auch den scharfen Kritiker, deren Gegenwart ihn argwöhnen ließ, Herr Charles brauche mancherlei Gevattersleute. Der dritte Gast machte ihm den Eindruck eines Menschen von ganz besonderem Schlage: ein ähnliches Gewächs irgendwo gesehen zu haben, konnte er sich weder erinnern, noch wußte er im geringsten, was er von dem baumlangen, engbrüstigen, schmal aufgeschossenen Kerl mit grauen Locken und zitronengelbem Gesicht halten solle. Dieser redete mit Charles ein leidliches Französisch, mit den anderen Herren ein leidliches Deutsch, besaß dabei aber eine dünne, schneidende Fistelstimme, die zu der Kirchturmfigur gar nicht paßte. Wie er sich, gleich den übrigen, bei Antons Eintritt auf einen Augenblick von der Tafel erhob, stieß er beinahe an die Decke des Gasthauszimmers an. Charles verkündete sogleich, daß dieser »Artiste« morgen in derselben Kutsche reisen werde, die so glücklich sei, seinen scharmanten jungen Landsmann nach Dr. zu bringen, und war auch bemüht, den Namen des Fremden zu verkünden, der nicht anders lautete als »Schkramprl«. Es läßt sich erklären, wie und warum der Pariser Eskamoteur dieser über französische Sprechwerkzeuge weit hinausgehenden Bemühung unterlag. Der Besitzer, wollte er richtig zur Welt gefördert werden, sah sich genötigt, sich selbst buchstabierend nachzuhelfen. Charles sagte nur: ein niedlicher Name, aber ein bißchen deutsch.

Anton maß forschenden Blickes den geringen Zwischenraum, der Schkramprls hochgetürmten grauen Lockenbau von der Zimmerdecke abtrennte – ein Mücke würde Mühe gehabt haben, sich nur einigermaßen in demselben umherzuschwenken – und sagte sodann zu sich selbst: mein Kutscher muß ein Loch in das Verdeck seines Wagens schneiden; unfehlbar muß er das, wenn Schkramprl darin sitzen soll, oder Schkramprl muß etwas von der Einschlagfähigkeit eines Taschenmessers in seinen Hüftgelenken haben. Sonst sehe ich nicht ab, wie die Dinge gehen werden.

Anfänglich stockte die Unterhaltung, so lange man versuchte, eine Sprache zu erfinden, die von allen fünf Teilnehmern der Gesellschaft zugleich verstanden würde. Nachdem aber erst Anton sich als Kunstreiter zu erkennen gegeben und dadurch vor Charles sowohl als vor Schkramprl sich jenem freimaurerartig verbundenen Vagabundentums angehörig erklärt hatte, wendeten sich beide, nur noch Französisch redend, zu ihm und ließen den scharfen Kritikus mit dem Manne vom seidenen Taschentuche Deutsch reden und deutsch trinken, ohne sich weiter viel um ihre Gespräche zu bekümmern. Damit Herr Charles jedoch seinen Verpflichtungen als Gastgeber doch einigermaßen entspreche, munterte er genannte Herren, deren Namen wir nicht wissen, bisweilen durch scherzhafte Intermezzos auf, indem er kleine Kunststücke zum besten gab, Gabeln verschluckte, Taler durch die Tischplatte zauberte und endlich dem Manne mit dem Foulard eine Unzahl roter und weißer Kugeln aus der Nase strich, worüber dieser bis zur Ohnmacht erschrak und sich eine Stunde nachher noch immer ängstlich an die Nase griff, ob vielleicht, ihm unbewußt, noch einiges an Kugeln in selbiger stecke. Die vier Meerschweinchen schweiften re bene gasta im Hochgefühl ihrer Freiheit am Fußboden umher. Der Kindermörder ging in seiner fröhlichen Laune so weit, dem scharfen Kritikus ein Stück aus den neuen silbergrauen Pantalons zu knabbern, worüber Charles außer sich geriet und dem Eber die Zähne samt Kopf ausreißen wollte; der Beschädigte jedoch erklärte sich dagegen, gab vielmehr den hochherzigen Entschluß kund, die Lücke unausgebessert zu lassen als Angedenken für den Meister der natürlichen Magie.

Anton vernahm im Laufe der Gespräche verwunderliche Sachen, wie er solche weder bei der Simonelli hören konnte, noch bei Guillaumes gehört, wo er ja auch fast mit der Amelot allein in näherem Verkehr gestanden. Er wurde wider seinen Willen eingeweiht in Privatverhältnisse unzähliger Familien, Truppen, Gesellschaften, Banden, Unternehmungen, die, auf Neugier, Torheit, Leichtgläubigkeit oder Vergnügungssucht der Menschen spekulierend, seit Menschengedenken vom Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter forterbend, die Welt durchstreifen, und allüberall, wo sie sich begegnen, neben dem giftigsten Brotneid doch stets einige gegenseitige Rücksichten, Gefälligkeiten, Aushilfen und sogar Freundschaft für einander haben und üben. Charles kannte viele, Schkramprl, der seinen eigenen Versicherungen zufolge von Kindheit an reiste und jetzt »sein sechzigstes« zurückgelegt hatte, so ziemlich alle. Wenn Charles einen neuen Namen über die Lippen brachte, nannte Schkramprl deren zwanzig, die zu jenem in irgend einer Beziehung standen, irgend etwas produzierten und gegenwärtig in irgend einem Lande umherzogen. Ohne bösartig sein zu wollen, verstand er doch jedem wie jeder, die erwähnt wurden, etwas anzuhängen; niemand entschlüpfte seinem unerbittlichen Gedächtnis ohne schwarzen Strich. Anton wußte die Simonelli aufs Tapet zu bringen. Schkramprl schenkte dieser nichts und nahm, da er einmal die Mutter schonungslos richtete, auch deren Tochter ins Gebet. Laura empfing ihr rechtschaffen Teil, wobei Herr Schkramprl mit Gewißheit anzugeben wußte, daß sie mit Herrn Amelot bereits wieder auf dem Prügelfuß stehe, der vor der Trennung schon beliebt gewesen. Von »Antoine« schienen seine Nachrichten unklar. Er wußte von seinem Attachement an Laura nichts und verwechselte ihn überhaupt mit einem anderen Reiter der Truppe, den er noch immer an seinen Verwundungen daniederliegen ließ, wogegen Anton nichts einwendete. Dabei zeigte sich Schkramprl höchst unzufrieden, daß seine Notizen über diesen Punkt dunkel wären, und entschuldigte sich mit längerem Aufenthalt in kleinen Städten.

Nun lenkte Anton, der kurzweg für einen eben aus Paris verschriebenen Reiter zu gelten suchte, das Gespräch auf Adele Jartour. – Merkwürdig genug: von dieser wußte und hatte das lange Riesenlästermaul nichts zu sagen, als: »Bonne camarade; écuyère excellente; coeur d'ange!« Als er dies ausgesprochen, leerte er ein Glas auf ihr Wohl. Anton stieß mit ihm an. Dann aber wollte er sich den erfreulichen Eindruck durch fernere Klatschereien nicht verderben lassen. Er empfahl sich Herrn Charles und zog sich auf sein Zimmer zurück, indem er dem unermüdlichen Schkramprl ein »Auf Wiedersehen für morgen!« zurückließ. Adeles Bild im dankbaren Herzen, ihren Namen auf den Lippen, schlief er zufrieden ein, träumte sich durch allerlei sittsame, sentimentale Stimmungen immer tiefer in eine neu entstehende Liebe für sie und fand sich gar häßlich enttäuscht, als ein derber Hausknecht, das triefende Talglicht in schmutziger Faust, ihm scheltend des Landkutschers Mandat in die Ohren schrie: daß es die höchste Zeit sei!

Die Physiognomie der Stadt schien durch wenige Stunden völlig verändert, ihr düsteres Grau war mit dem reinen Kleide der Unschuld bedeckt. Der erste Schnee säuselte hernieder.

Wie Anton sich seinem Wagen näherte, erkannte er ihn kaum wieder. Gestern hatte sich nichts darauf befunden als sein eigenes Gepäck, und dessen war gar nicht viel, weil die meisten Effekten bereits mit Guillaumes Bagagetrain vorangegangen; heute waren Hinterteil, Verdeck, Kutschersitz so vollgeladen, und die Besitztümer des Herrn Schkramprl steigerten sich so mächtig empor, daß man ein wandelndes Haus zu erblicken vermeinte.

»Nun«, murmelte Anton, »diese Pferde, diese Last, frischer Schnee und dazu der gute Wille unseres Kutschers, – das wird eine flotte Fahrt! Aber wo bleibt mein Reisegefährte?«

»Sie sind vorangegangen«, meinte der Kutscher lächelnd. »Sie wollten sich nicht in den Wagen setzen, weil sie sagten, es wäre so scheniert für Sie, wegen der Längde von die Perschon. Die Kleinen sind schon drein, alle drei. Steigen Sie nur auch ein, Herr ›Anthahn‹, den Langen kriegen wir bald samt seinen hochen Spazierhölzern.«

Also, es gab junge Schkramprls. »Ihrer drei«, sagte der Kutscher. »Wäre auch schade um Namen und Rasse, wenn beide ausstürben.«

Der Hauptsitz des Wagens wurde durch »die Kleinen« eingenommen. Sie lagen in Pelze und Decken verhüllt, eine bei der Finsternis des Wintermorgens unerkennbare Masse. Der Schnee warf nur so viel Schein auf sie zurück, daß Anton drei Köpfe aus den Umhüllungen herauszählen konnte.

»Ich möchte schlafen wie die glücklichen Kinder«, dachte er und rückte sich in seine Ecke. Aber es gelang ihm nicht. Die Langsamkeit der dahinschleichenden Kutsche, statt ihn in Schlaf zu wiegen, regte ihn ungeduldig auf.

»Dort watet der große Herr im Schnee«, rief der Kutscher draußen.

»Hol's der Teufel, ich will mit ihm waten«, entgegnete Anton. »Besser das, als im Wagen hocken, wenn es nicht vom Flecke geht.«

Er hatte den Fußgänger augenblicklich erreicht, der sich der Gesellschaft ausnehmend freute.

»Nun, wie geht's, wie steht's? Wie sieht's in der Kutsche aus? Was treiben die Kleinen?«

»O, sie schlafen, Herr Schkramprl.«

»Unglaublich, wie gut Sie meinen Namen artikulieren! Wie deutlich! Für einen Franzosen ungeheuer viel!«

»Allerdings, Ihr Name ist schwierig.«

»Furchtbar schwierig. Aber was wollen Sie? Ich hätte ihn gern umgeändert, mindestens für die Affichen; doch als ich zum Bewußtsein seiner Schwierigkeit gelangte, war es zu spät, ihn zu wechseln: ein Wechsel hätte mein Renommee in seiner Entfaltung gestört. Ich war berühmt als Schkramprl, – ich mußte Schkramprl bleiben.«

»Gestern vergaß ich, Erkundigungen einzuziehen, – darf ich es heute nachholen? Als was erwarben Sie Ihre Reputation?«

»Ich? Ganz einfach als Riese. Zunächst als Riese. Mit fünfzehn Jahren war ich so groß, wie Sie mich hier neben sich sehen, nicht einen Strich kleiner. Mein Vater führte mich umher. Mein Vater war der weltberühmte Gesichterschneider dieses Namens und hatte ursprünglich gewünscht, mich für seine Kunst zu erziehen. Auch machte ich schon bedeutende Progressen. Mit zwölf Jahren konnte ich schon meine Nase in den Mund nehmen, so daß die Unterlippe deren Spitze bedeckte, was allerdings bedeutende Naturanlagen verriet, weil meine Nase ungleich kürzer ist wie jene meines unvergeßlichen Vaters gewesen. Die Zunge brachte ich schon so weit hervor wie er in seinen besten Stunden. Aber es sollte nicht sein. Bevor ich noch so weit ausgebildet, daß ich mich an des Lehrers Seite mit Ehren öffentlich produzieren konnte, kam ich ins Wachsen. Es ging so schnell, daß ich aus einem untersetzten, dicken, derben Kerl binnen zwei Jahren zur Hopfenstange emporschoß. Die Eltern besorgten zuerst, ich könnte dabei draufgehen; doch zu ihrem Troste besann sich meine gute Mutter, – meine Mutter war auch Künstlerin, sie hob Mühlsteine mit den Haarzöpfen auf und ließ glühendes Eisen auf einem Amboß schmieden, während sie mit dem Kopfe auf einem, mit den Füßen auf einem anderen Stuhle lag, der übrige Körper in freier Luft schwebte, und ihr Unterleib den Amboß trug; – diese meine Mutter also besann sich zu rechter Zeit, daß einer ihrer Vatersbrüder ein Riese gewesen sei. Dergleichen Glücksfälle wiederholen sich bisweilen in der Verwandtschaft. Von dieser Stunde wurde ich zum Riesen erzogen. Man reichte mir kräftigere Kost, die mimischen Studien wurde beiseite gesetzt und dafür der Körper im ganzen und großen ausgearbeitet. Na, Sie sehen, wohin es geführt hat. Mit sechzehn Jahren war ich, der ich bin. Ich war hübsch von Gesicht; ich machte Fortune. In London, in Paris, in Brüssel, – mein Himmel, wo denn nicht? Als meine Eltern tot waren ...«

»Beide?«

»Beide. Ja, beide in einem Jahre, in einem Monat. Die Mutter starb in ihrem Beruf. Der Stuhl, den sie bei ihrer Arbeit unter dem Kopf gehabt, ist zusammengebrochen, der Amboß ihr auf die Brust gestürzt ...«

»Arme Frau!«

»Es war ein leichter Tod: sie litt nicht lange. Aber der Vater! Dieser konnte sich über den Verlust nicht trösten. Er wurde schwächlich. Sein Nervensystem war völlig zerrüttet. Und sonderbar: er, dieser famose Gesichterschneider, blieb in den letzten Tagen seines Lebens und Wirkens – denn er studierte und arbeitete bis zum letzten Hauche – nicht mehr Herr über die Muskeln, die ihm stets gehorsam gewesen. Sobald er ein bedeutendes Gesicht geschnitten, – das brachte er noch zustande, Gott sei Dank; so weit konnte sein Talent ihn nicht verlassen, dazu war seine Künstlerschaft zu vollendet; – sobald er, wollte ich sagen, ein bedeutendes Gesicht fertig hatte, blieb es stehen. Denken Sie, Herr Antoine, es blieb stehen; welch ein eigentümliches Phänomen! Manchmal um eine Minute länger als in seiner Absicht lag. Wie sich dies einigemal wiederholt, wußte ich, daß sein Stündchen geschlagen. Durch vieles Zureden gelang es mir, ihn ins Bett zu bringen. Großer Geist! Er konnte nicht untätig bleiben, ihm war es unmöglich, die edle Zeit, die er stets würdig benutzt, unausgefüllt zu lassen. Fortwährend schnitt er Gesichter, studierte auf neue Erfindungen, übte sich bei Tag und Nacht, wie wenn er ein Anfänger wäre. Endlich, in der letzten Nacht, leistete er etwas Grandioses: beide Augen preßte er weit aus dem Kopfe, den Mund riß er mit seinen schwachen Händen auseinander bis an die Ohren, die lange, schön gebaute Zunge streckte er heraus und legte sie an die Nase wie ein Mensch, der über etwas Wichtiges nachzusinnen hat, den Zeigefinger nur immer an die Nase legen mag, so lang, so rund, so dünn ... »Vater«, rief ich, »Sie übertreffen sich selbst, aber schonen Sie sich.« Ich nahm ihm die Hände vom Munde – der Mund blieb, wie er war, die Winkel bei den Ohren – die Augen blieben hängen – die Zunge blieb liegen. »Bravo«, rief ich, »bravissimo!« Er hörte mein Lob nicht mehr. Er war tot. Wir haben ihn beerdigt samt seiner letzten Kunstleistung, und bleibt nur zu bedauern, daß diese von Würmern zerstört werden sollte. So war ich denn, obgleich ein Riese, dennoch eine elternlose Waise und zog allein weiter. Aber es haftete kein rechter Segen mehr am Riese sein. Weiß der Henker, woher sie kamen, überall standen Riesen auf. Einmal trafen wir in einem kleinen erbärmlichen Neste von englischer Stadt unserer drei zusammen. Die Konkurrenz wurde zu stark, die Einnahmen immer schwächer, ich mußte mich nach etwas anderem umtun. Ein Mann ward ich auch, des Schwärmens und Liebelns längst überdrüssig, mein Herz sehnte sich nach häuslichem Glück, ich beschloß zu heiraten. Und ich fand bald eine brave, solide Frau, mit mir in gleichem Alter, auch Künstlerin ...«

»Die Ihnen ihre Hand reichte?«

»Nein, den Fuß.«

»Verstehe ich recht? Sie gab Ihnen einen Fußtritt?«

»Gewissermaßen. Doch nur aus Liebe. Sie war ohne Arme geboren, folglich fehlten ihr die Hände, folglich vermochte sie nicht, mir ihre Hand zu reichen, auch beim besten Willen nicht. Es folgt eines aus dem anderen.«

»Und sie war Künstlerin? Ohne Arme?«

»Daß sie keine Arme besaß, darin eben bestand ihre Kunst, denn sie schrieb mit den Füßen. Mit beiden Füßen, mein Herr. Die Feder hielt sie zwischen den Zehen und schrieb eine Hand – einen Fuß vielmehr – zum Küssen. Echte Kalligraphie! Und in drei Sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch! Sie machte großes Glück. Ich sah mich durch sie verdunkelt. Ich, als Riese, war nur eine kleine Beigabe zu dem, was man an ihr bewunderte.«

»Lebten Sie glücklich mit ihr?«

»Wie die Engel. Jeden Abend nahm ich die Kasse in Empfang. Wir lebten sehr glücklich. Doch auch dieses Glück sollte nicht dauernd sein. Sie fühlte sich Mutter. – O, Freund, niemals werde ich die süßen Stunden vergessen, wo wir die Feierabende plaudernd mit kühnen Hoffnungen schmückten. Diese galten unserem jungen, sehnlich erwarteten Weltbürger. Unsere Einbildungskraft erging sich in weiten Räumen: wird es ein Knabe sein oder ein Mädchen? Oder keins von beiden? Wird es nach dem Vater, wird es nach der Mutter schlagen? Wird es vielleicht eine Riesin, doch von unbeschreiblicher Größe, wie noch nie ein männlicher Riese gezeigt wurde, wo man ohne Bedenken zwiefache Eintrittspreise stellen dürfte? Wird es – o du liebes Kind! – vielleicht nur einen Arm haben, aber an diesem zwei Hände? Oder auch gar keinen, wie seine gute Mutter, um deren Geschäft fortzusetzen? Oder werden ihm vielleicht beide Beine fehlen? Das wäre minder vorteilhaft. Ach! riefen wir dann beide zugleich, während Pamela mich umarmte ...«

»Sie umarmte?«

»Das heißt, während ich sie umarmte, – erscheine bald, wachse bald an, holde, glückverheißende Mißgeburt; lächle bald deinen Eltern entgegen. Sei endlich, wie du willst, wenn du nur etwas mitbringst, was noch niemals für Geld zu sehen war! Eines Morgens überraschte mich Pamela mit der Erzählung eines Traumes. Sie hatte sich Mutter gesehen; sie hatte im Traume – nein, nein, es ist zu viel! Wenn ich daran denke, möchte ich vergehen! Sie hatte ein Kind mit zwei Köpfen geboren!«

»Im Traum?«

»Das wäre Nichts, junger Mensch. Im Traume bleibt das bedeutungslos, und streng genommen kann jeder träumen, was ihm gut dünkt. Im Traume mach' ich mich anheischig, Drillinge zu gebären, die aneinander gewachsen sind, wie Doppelkirschen oder Mandeln in einer Schale. Das will nicht viel sagen! Aber wenn ich erwäge, daß diesem Traume eine Wahrheit folgte, daß sie an dem nämlichen Tage Mutter wurde, daß sie wirklich und wahrhaftig von einem Kinde Mutter wurde, welches wirklich und wahrhaftig zwei Köpfe hatte, aus zwei Kehlen schrie! ... Herr, begreifen Sie, was das heißt? O, im Schnee möchte ich mich wälzen wie ein nackender Russe, – einen solchen Schatz läßt mich das Schicksal sehen! Hält ihn mir neckend vor! Ich greife ihn mit diesen meinen Händen! – und eine Viertelstunde später – sagen Sie, wer hätte solch kleinem unerfahrenen Wesen derlei Bosheit zugetraut? – ist es tot; mausetot! Wie nur jemals ein verächtliches gewöhnliches Kind mit einem einzigen Kopfe tot gewesen ist! Unkindliches Kind! Deinen Vater so zu täuschen!

Die Mutter starb auch. Sie konnte den Jammer nicht überleben. Der dumme Akkoucheur behauptete, an den Folgen einer zu schweren Entbindung. Keine Spur! An den Folgen des Grames starb sie, desselben Grames, der an mir nagte, ohne mich zu töten. O, daß ich keine Riesennatur gewesen wäre! daß ich meinem Grame hätte unterliegen müssen, wie Pamela dem ihrigen! Vielleicht wäre mir besser. Ich sage: vielleicht!«

»Es ging Ihnen nicht gut, seitdem Sie Witwer sind?«

»Abwechselnd, junger Mann! Es könnte mir glänzend gehen, hätte ich nicht leichtsinnig gehandelt; leichtsinnig wie ein Kadett in Ferien! Das anatomische Museum – es war in den Niederlanden, wo ich Weib und Kind verlor, – sandte mir einen Unterhändler, den Ankauf der Leichen zu betreiben. Ich schlug meine Selige zu billig los. Keine Frage, um hundert Prozent zu wohlfeil. Eine so tugendhafte Gattin, keinen Arm am Leibe und tausend Gulden! Verschleudert; offenbar verschleudert! Doch darüber darf ich nachträglich nicht jammern, denn, frei zu reden, unter uns: was hätte sie mir genützt? Als Leiche? Ich hätte sie begraben müssen; darin lag kein Reiz, weder für sie, noch für mich. Also, das wäre zu verschmerzen. Aber unseren Sohn! Unseren lieben, kleinen, hoffnungsvollen, eigensinnigen Sohn; ein Kind von solch enormen Anlagen! Ich bitte Sie, sagen nicht eitle Väter, die ihre Alltagsbälge von Kindern preisen wollen: mein Kind hat Kopf? Nun frage ich, wie viel Kopf hat denn euer Wurm, wenn es hoch kommt? Einen! Einen einzigen! Mein Kind hatte deren zwei! Und ich gab es – Räuber an mir selbst, der ich war! – gab es für fünfhundert Dukaten fort. War ich ein Räuber an mir selbst? Sagen Sie!«

Anton hatte die größte Mühe, ernsthaft zu bleiben, würde aber trotz aller Mühe in lautes Lachen ausgebrochen sein, hätte nicht ein gewisser Widerwille, den die Brutalität seines neuen Freundes in ihm erzeugte, ihm Kraft zum Ernste verliehen. Er entgegnete, ohne nur mit den Lippen zu zucken: »Ich dächte doch, fünfhundert Dukaten wären ein schönes Stück Geld? Noch dazu holländische, was hätten Sie denn überhaupt mit der toten Mißgeburt beginnen wollen?«

»Was ich damit ... o junger Mann, Sie schmecken noch gar sehr nach Ihrer Jugend. Was ich mit meinem Sohne hätte beginnen sollen? Ja, was begann denn das Museum mit ihm? Hm? Es verwahrte ihn in einer großen Flasche voll Spiritus. Da schwebt der junge Schkramprl und zeigt zum Erstaunen bewundernder Gaffer auch denen ein freundliches Gesicht, die hinter ihm stehen. Konnt' ich nicht, ich frage Sie, konnt' ich nicht mein eigenes Museum werden? Konnt' ich nicht meinen Sohn in Spiritus bei mir behalten und durch ihn, den Geistreichen, einen Grundstein legen zu einem künftigen Kabinett von anderweitigen Mißgeburten, unterschiedlichen Raritäten, Menschenhäuten, Vogelnestern, kleinen Schlangen, Negerschädeln, Mammutsknochen, Baschkirenpfeilen, Walfischrippen, Ammonshörnern, versteinerten Hölzern, Seemuscheln und unanständigen Bildern? Solche Sammlung wälzt sich auf Reisen umher wie ein Schneeball, indem sie durch die Bewegung größer wird. Eine solche besäße ich jetzt durch meinen Sohn. Und das habe ich versäumt, ich leichtsinniger, gefühlloser Vater. Schkramprl Vater und Schkramprl Sohn sind für immer getrennt. So oft ich daran denke, lebhaft daran denke, möchte ich mir den Kopf abreißen, was auch in Stunden der Wut unfehlbar schon geschehen wäre, wenn ...«

»Wenn Sie deren zwei besäßen, wie der Verblichene?«

»Vollkommen richtig; Sie erraten meine Gedanken. – Die Strafe meiner Dummheit ließ nicht auf sich warten. Mit den fünfhundert Dukaten kaufte ich mir drei Stück Kaffern, braune Kerls, die unbekleidete Naturballette ausführten, kriegerisch heulten, lebendige Hühner zerrissen, diese roh verschlangen und allerlei hübsche Sächelchen machten. Der Amerikaner, von dem ich sie kaufte, bewies mir schwarz auf weiß, daß sie seine Sklaven waren, die er fast ebenso teuer gekauft und wenig abgenützt hatte. Er stellte mir eine Quittung aus, strich die Dukaten ein, und ich war im Besitz. Anfänglich ging die Geschichte ganz gut, außer daß sie mich wenig verstanden, und ich sie gar nicht. Die Hälfte der Einnahme verfraßen sie mir freilich in Hühnern, – doch als ich auf den Anzeigen bemerkte, diejenigen Zuschauer, welche das interessante Naturspiel des blutig rohen Verschlingens zu beobachten wünschten, werden ersucht, das dazu notwendige Geflügel selbst mitzubringen, – da fanden bedeutende Lieferungen statt, von denen manches auch für mich abfiel. Das Gleichgewicht stellte sich wieder her, und ich war zufrieden mit meiner Entreprise. Nach und nach aber schnappten meine Sklaven deutsche Wörter und Begriffe auf, suchten Umgang mit Kellnern und Dienstmädchen in den Gasthäusern, wo wir einkehrten, und gelangten so nach Ablauf eines Jahres zur Erkenntnis, daß es bei uns zu Lande keine Sklaverei gebe, daß jeder Mensch frei sei. Unsinn! Erstens sind wir alle Sklaven, wenn auch ein Jeder in einer anderen Art; zweitens waren sie Wilde und keine Menschen. Der erste beste Pavian ist mehr Mensch, als sie es waren. Aber was half's? Die Rebellion brach aus. Eines schönen Morgens umringten sie mein Bett, tanzten den Kriegstanz, schwangen die Keulen, setzten mir die Füße auf die Brust und proklamierten ihre Unabhängigkeit. Ich ergab mich nicht sogleich, suchte meinen Riesen hervor, es entstand ein furchtbarer Lärm, das ganze Haus lief zusammen, die halbe Stadt, man holte Gerichtsdiener, und das Ende vom Liede war eine Vorladung der Behörde, die mir eröffnete, daß die Herren so und so – die Kanaillen führten gar keine Namen – ihre eigenen Herren seien und das Recht besäßen, sich für eigene Rechnung zur Schau zu stellen. Nach meinen fünfhundert Dukaten fragte niemand. Die drei Schurken trennten sich von mir und nahmen obenein eine dicke Küchenmagd aus dem Gasthause mit, die sie späterhin schwarz anstrichen und als äthiopische Negerin figurieren ließen. Ich war sehr herunter. In der Not wurde ich wiederum Riese, streckte mich, soviel mein Gram mir gestatten wollte, und verband mich mit einem Kakerlaken, einem faden Patron, der sich ›Albinos Dundos‹ nannte, mir zuerst imponierte, auf die Länge jedoch unter anderen ehrlichen Menschen nichts weiter war, als was eine rotäugige, weiße, matte Maus unter den grauen Mäusen ist. Unser Kompagniegeschäft ging schlecht. Nachdem ich wieder ein paar Goldstücke auf die Seite gelegt, machte ich mich los von ihm und führte ein Quartett steirischer Alpensänger nach London. Die guten Leute – bei Lichte besehen, Choristen von einem Wiener Vorstadttheater – hatten nicht einmal ordentliche Kröpfe und verstanden keine Silbe englisch. Deshalb brauchten sie einen Begleiter, der für sie sprach, während sie sangen. Das währte denn doch einige Jahre und half mir etwas auf. Kaum aber wußten sie sich verständlich zu machen, als sie nach Amerika zogen und mich zurückließen. Dumme Kretins! Sie sagten mir ins Gesicht, ich hätte sie übervorteilt. Was wäre denn aus mir geworden, wenn ich's nicht getan?«

»Sie haben viel durchgemacht, Herr Schkramprl!«

»Das will ich glauben. In einem halben Jahrhundert braucht man viel, – und wenn man durstig ist, besonders. Wir befanden uns in einer Seestadt. Ich sah mich nach einer anderen Stellung um und brauchte nicht lange zu warten. Es hatte daselbst ein Schiff gelandet, welches nebst vielen Fässern Tran, die furchtbar stanken, einen Eskimo nebst Gemahlin mitbrachte, die auch nicht nach Rosenöl dufteten. Dieses zarte Pärchen war von einem Spekulanten nach der kultivierten Welt gelockt worden, um sich zeigen zu lassen. Kaum angelangt starb dieser unternehmende Mensch. Ich bemächtigte mich seiner lebendigen Hinterlassenschaft, schloß eine Art von Vertrag mit den Leuten, die sich ebensowenig Rat wußten wie ein Fisch auf trockenem Boden, und zog mit ihnen in die Welt. Das wäre ein Goldzug geworden, wenn diese Wesen für ihre Produktion nicht immer große Gewässer gebraucht hätten, – und die finden sich weder überall vor, noch kann man sie mit sich führen. Zwar zeigte ich meine Püppchen auch in Sälen gegen mäßiges Legegeld, aber das lohnte nicht, warf keine Resultate ab, sie leisteten zwischen vier Wänden nichts Besonderes, außer daß sie lebhaft nach Tran stanken, was nicht jedes Publikums Leidenschaft ist. Ihr Element ist das Wasser. Wo sich ein Teich, ein kleiner See in der Nähe befand, veranstalteten wir große Vorstellungen, sie saßen in ihren kleinen Kähnen aus Seehundsfell, die sie sich wie einen Fußsack über die Hüften zogen und darin umherschwammen, als ob sie selbst Seehunde wären; eine Ansicht, zu der ich mich bisweilen geneigt fühlte. Mit ihren Pfeilen schossen sie nach Gänsen, wovon sie oftmals mehrere verwundeten, die ich sodann verzehren mußte, wollte ich die Auslagen dafür nicht verlieren. Ich habe einmal vier Wochen lang buchstäblich von Gänsefleisch gelebt, wobei ich völlig verdummte. Städte mit Wasser übertrugen Städte ohne Wasser; im ganzen machte sich's, hätte noch ein Weilchen vorgehalten, – da setzt sich das abgeschmackte Weibsbild in den Kopf, Todes zu sterben. Sie unterlag dem Heimweh; das heißt in unserer Sprache: der Sehnsucht nach frischem Tran! Was ich ihr von dieser Gattung kredenzte, schien ihr nicht mollig, nicht glatt genug. Einen Tag vor ihrem Tode soff sie mir meine Nachtlampe aus, schüttelte sich und stöhnte: »Aih, wahi, puhi, hui, pui, waih!« was in ihrer Zunge etwa sagen wollte: »viel zu matt, kein Aroma!« Der Witwer hielt's nicht aus ohne sie allein. Er kündigte mir den Kontrakt und begab sich nach Hause. Wahrscheinlich hat er eine Seekuh geheiratet.«

Herrn Schkramprls lebhafter Vortrag, den ich hier nur höchst unvollkommen nachzubilden vermochte, weil ich nicht imstande bin, sein geläufiges, doch seltsam komponiertes Französisch wiederzugeben, hatte wenigstens dazu gedient, unserem Anton über seine trübe Stimmung und die Beschwerlichkeiten des Schneemarsches fortzuhelfen.

Der Kutscher hielt an, die Pferde zu tränken, und der Riese warf einen Blick in die Kutsche nach »seinen Kleinen«.

»Sie waren also nach Pamelas Tode noch einmal verheiratet?« fragte Anton.

»Wieso, noch einmal?« fragte Schkramprl erstaunt zurück.

»Das müssen Sie besser wissen, als ich. Ich meinte nur, da Sie doch drei Kinder besitzen ...«

»Kinder? Ich? Könnte mir nicht einfallen.«

»So sind das Ihre Pflegekinder, die hier im Wagen schlummern?«

»Schöne Kinder! der Husar hat seine achtundzwanzig; die beiden Dirnen zusammen wenigstens fünfzig Jahre.«

»Zwerge also?«

»Natürlich, was denn sonst? Die beiden Schwestern habe ich in der Schweiz von ihren Eltern gekauft, mit denen reise ich jetzt schon seit länger als zehn Jahren. Den Kerl habe ich erst vor drei Jahren in Turin gefunden und habe ihn mitgenommen. Der insolente Schlingel bezieht förmlich Gage, hat sein eigenes Zimmer in meinem Hause – ...«

»In Ihrem Hause?«

»Welches oben auf den Wagen gepackt ist. – Ich füttere ihn mit den besten Bissen, mache ihm alle Avancen, hoffte, das kleine Gesindel sollte hecken. Kinder von Zwergen, von so kleinen gutgewachsenen Zwergen! Wie? Müßte das nicht eine Liliputanische Rasse geben? Wie gesagt, habe ihnen jeden Vorschub geleistet; keine Spur. Die Natur zeigt sich auch hier grausam gegen mich. Jetzt habe ich den dickköpfigen Husaren auf dem Halse, der nichts weiß und nichts kann, als sein »Ich bin der Doktor Eisenbart« grölen, und mir obenein durch seine Eifersucht alle Naturforscher und Amateurs verschüchtert, die sonst nicht abgeneigt sein würden, mit Ninon oder mit Nanette nähere Bekanntschaft zu machen und die Naturgeschichte der Zwerge im stillen zu kultivieren! – Heda, Pygmäen, auf, ermuntert euch! Könnt ihr nichts wie schlafen? Herr Antoine will euch sehen; ein liebenswürdiger Kollege will euch guten Morgen sagen.«

Anton war durchaus nicht lüstern nach dieser Ehre; doch ehe er sie noch ablehnen konnte, hatte Schkramprl schon die Hüllen von seinem dreiblättrigen Klee gerissen, und der kleine Menschenknäuel entwirrte sich gähnend. Es gab einen widrigen Anblick; um so widriger, weil Ninon und Nanette nicht ermangelten, mit der jenen unterdrückten Geschöpfen eigenen Zudringlichkeit allerlei Koketterien gegen den Fremden zu richten, wozu der Husar mit neidischem Grinsen die Zähne fletschte. Anton zog sich zurück. Ein Gespräch mit den kleinen, dickköpfigen Personen wäre ihm unmöglich gewesen. Schkramprl verließ im nächsten Städtchen die Kutsche, um seine Hütte aufzuschlagen. Sie trennten sich schon gegen Mittag, ohne daß Anton in Augenschein nahm, »welch erhabene Wirkung es mache, wenn der Riese ellenhoch über ein vollständiges Schweizerhaus voll Zwerge zum Himmel rage!« Schkramprl entließ seinen jungen Freund Antoine mit dem Versprechen baldigen Wiedersehens: und Anton, wieder alleiniger Inhaber und Einwohner des Lohnwagens, ließ sich Schritt für Schritt weiterziehen, um endlich doch einmal – seine Seele voll Sehnsucht nach Adele – die schöne Stadt Dr. zu erreichen.


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