Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Drittes Kapitel

Hippolyt Ceres

Im Salon der Frau Clarence sprach man von der Liebe. Und man sagte köstliche Sätze über sie.

»Liebe ist Opfer,« seufzte Frau Crémeur.

»Das glaube ich Ihnen,« erwiderte lebhaft Herr Boutourlé. Bald jedoch packte Professor Haddock seine lästige Dreistigkeit aus.

»Mir scheint,« sprach er, »daß die pinguinischen Frauen sich sehr wichtig gebärden, seit sie durch die Operation des heiligen Maël Säugetiere sind, die lebendige Junge zur Welt bringen. Stolz aber brauchen sie darauf nicht zu sein. Diese Eigenheit teilen sie mit Kühen und Muttersäuen, und sogar mit Orange- und Zitronenbäumen, denn die Körner dieser Pflanzen keimen in der Fruchthülle.

Die Anmaßung der pinguinischen Frauen ist nicht so alten Datums. Sie entstand mit dem Tage, wo der heilige Apostel ihnen Kleider gab. Und ganz offenkundig wurde diese lange verhaltene Ziererei erst, als der Toilettenluxus aufkam, und zwar in einem kleinen Winkel der Gesellschaft. Denn fahren Sie nur zwei Meilen von Alka aufs Land, während der Erntezeit. Sie werden sehen, ob die Frauen dort sich zieren und wichtig tun.«

An jenem Tage ließ Herr Hippolyt Ceres sich vorstellen. Er war Deputierter von Alka und eins der jüngsten Kammermitglieder. Es hieß, er sei der Sohn eines Kneipwirts. Er selbst war Advokat, sprach gut, war stark, massig, wuchtig und galt für geschickt.

»Herr Ceres,« sagte die Dame des Hauses zu ihm, »Sie vertreten den schönsten Bezirk von Alka.«

»Und er wird jeden Tag schöner, gnädige Frau.«

»Leider kann man drin nicht über die Straße gehn,« rief Herr Boutourlé.

»Warum?« fragte Herr Ceres.

»Na, wegen der Autos!«

»Reden Sie von denen nicht schlecht,« erwiderte der Deputierte, »das ist unsre große Nationalindustrie.«

»Ich weiß, mein Herr, die Pinguine von heute gemahnen mich an die einstigen Ägypter. Wie Taine nach Klemens von Alexandrien sagt, dessen Text er übrigens abgeändert hat, beteten die Ägypter Krokodile an, die sie fraßen; die Pinguine beten die Autos an, die sie zerquetschen. Unweigerlich gehört die Zukunft dem Metalltier. Auf den Fiaker kommt man so wenig zurück, wie man auf die Postkutsche zurückgekommen ist. Und das lange Duldertum des Pferdes nimmt ein Ende. Das Auto, das die hitzige Begier der Industriellen wie den Wagen des Juggurnath über die erschreckten Völker dahinbrausen ließ, und das Müßiggänger und Snobs zu schwachsinniger, unheilvoller Eleganz gestaltete, wird bald seine notwendige Verrichtung erfüllen. Es wird seine Kraft in den Dienst des ganzen Volkes stellen und sich wie ein gelehriges, fleißiges Ungeheuer benehmen. Doch damit es aufhört zu schaden und wohltätig wird, wird man ihm Straßen bauen müssen, die seinem Wesen entsprechen, Heerstraßen, die es nicht mehr mit seinen wilden Pneumatiks aufreißen kann, und deren vergifteten Staub es nicht mehr in die Brust der Menschen schleudert. Diese neuen Straßen wird man den Fuhrwerken von geringerer Schnelligkeit so gut wie allen einfachen Tieren verbieten müssen. Schuppen und Viadukte sind anzulegen, damit auf der Zukunftsstraße Ordnung und Harmonie geschaffen wird. Das ist der Wunsch eines guten Bürgers.«

Frau Clarence brachte das Gespräch wieder auf die Verschönerung des Bezirks, der Herrn Ceres gewählt hatte. Und dieser gab seine Begeisterung für den Abbruch von Häusern kund, für Straßendurchbrüche, für Bauten, für Umbauten und jederlei geldbringende Arbeit.

»Man baut heute wunderbar,« sagte er. »Überall erheben sich Prachtstraßen. Hat man je so etwas Schönes gesehen wie unsre Brücken mit Pylonen und unsre Hotels mit Kuppeln?«

»Sie vergessen jenen großen, mit einer riesigen Melonenglocke bedeckten Palast,« brummelte Herr Daniset, ein alter Kunstliebhaber, in unterdrücktem Zorn. »Ich bewundere den Grad von Häßlichkeit, den eine moderne Stadt erreichen kann. Alka wird amerikanisiert. Überall zerstört man die Reste des Freien, der Willkür, die Reste von Maß, Menschlichkeit, Vergangenheitszauber. Überall zerstört man den beglückenden Anblick einer verwitterten Mauer, über die Zweige herabhängen. Überall beseitigt man ein wenig Luft und Tageslicht, ein wenig Natur, ein paar Erinnerungen, die noch blieben, ein Stück von unsren Vätern, ein Stück von uns selbst, und man türmt furchtbare, riesige, scheußliche Häuser mit lächerlichen Kuppeln im Wiener Stil oder mit dem Aufputz der neuen Kunst, ohne Gesims und Profil, mit düsterem Vorsprung und burleskem Giebel, und diese Ungetüme klettern schamlos über die Nachbardächer hinweg. Wulstige, widerlich schlaffe Höcker ziehen sich die Fassaden entlang; das nennt man die Motive des neuen Stils. Ich habe den neuen Stil in anderen Ländern gesehen. Da ist er nicht so ekelhaft, sondern launisch, phantastisch. Wir haben das traurige Vorrecht, bei uns die häßlichsten Architekturen schauen zu dürfen, Architekturen von neuester, verschiedenster Häßlichkeit. O neidenswertes Vorrecht!«

»Fürchten Sie,« fragte Herr Ceres mit Strenge, »fürchten Sie nicht, daß eine so herbe Kritik unsrer Hauptstadt die Fremden fernhalten kann, die aus allen Weltgegenden unablässig hierher strömen und Milliarden hier zurücklassen?«

»Seien Sie ruhig,« erwiderte Herr Daniset. »Die Fremden kommen nicht, unsre Gebäude zu bewundern. Sie kommen, unsre Kokotten zu sehn, unsre Schneider, unsre Tanzlokale.«

»Wir haben die üble Gewohnheit,« seufzte Herr Ceres, »uns selbst zu verleumden.«

Als gewandte Hausfrau war Frau Clarence der Ansicht, jetzt sei es Zeit, wieder von der Liebe zu reden, und fragte Herrn Jumel, was er von dem neuen Buch denke, worin Herr Léon Blum darüber klage ...

»Daß ein unvernünftiger Brauch,« ergänzte Professor Haddock, »die besseren jungen Damen hindert, sich der Liebe zu befleißigen, was sie mit Wonne täten, während die Freudenmädchen es zu heftig und geschmacklos tun. Das ist in der Tat höchst bedauerlich. Doch Herr Léon Blum soll nicht zu schwarz sehn. Wenn in unserem Kleinbürgertum der Mißstand so ist, wie er ihn schildert, so kann ich ihm bezeugen, daß er allenthalben sonst ein tröstlicheres Schauspiel erblicken würde. Im Volk, in den großen Volksmassen von Stadt und Land berauben sich die Mädchen des Liebesgenusses durchaus nicht.«

»Das ist Sittenlosigkeit, mein Herr,« sagte Frau Crémeur.

Und sie pries die Unschuld der jungen Mädchen in schamhaften, anmutigen Worten. Es war entzückend!

Hingegen war es sehr peinlich, die Reden des Professors Haddock über dasselbe Thema zu hören.

»Die besseren jungen Damen,« sprach er, »werden behütet und bewacht. Auch wollen die Männer nichts von ihnen wissen, aus Ehrbarkeit, aus Angst vor furchtbarer Verantwortung, und weil man mit der Verführung eines jungen Mädchens gar keine Ehre einlegt. Zudem würde ein solcher Hergang unsichtbar sein, denn unsichtbar ist, was insgeheim geschieht. Das ist eine für den Bestand jeder Gesellschaft notwendige Bedingung. Die jungen Damen wären noch leichter zu erobern als die Frauen, wenn sie ebenso umworben würden, und zwar aus zwei Gründen: sie hegen noch mehr Träume, und ihre Neugier ist nicht gestillt. Die Frauen sind meist durch ihre Männer so schlecht eingeführt worden, daß sie nicht den Mut haben, es sofort mit einem andern zu versuchen. Ich selbst bin bei meinen Verführungsplänen öfters auf dieses Hindernis gestoßen.«

Als Professor Haddock gerade mit seinen bösen Äußerungen fertig war, trat Eveline Clarence in den Salon und servierte gleichgültig den Tee mit jener Trägheit, die ihren schönen Zügen köstlichen Reiz verlieh.

»Ich,« sagte Hippolyt Ceres und blickte zu ihr hin, »ich breche für die jungen Damen eine Lanze.«

»So ein Tropf,« dachte das junge Mädchen.

Hippolyt Ceres, der nur in seinen politischen Kreisen, unter Wählern und Gewählten, verkehrt hatte, fand den Salon der Frau Clarence sehr fein, die Dame des Hauses tadellos, ihre Tochter berückend schön. Er wurde ihr ständiger Gast und machte beiden den Hof. Frau Clarence, die jetzt für Aufmerksamkeiten empfänglich war, sah ihn nicht ungern. Eveline zeigte ihm keinerlei Wohlwollen und behandelte ihn mit verächtlichem Hochmut. Er hielt das für aristokratisches Gebaren, für vornehme Sitten, und bewunderte sie desto heißer.

Dieser Mann hatte viele Beziehungen, war erpicht, den Damen Zerstreuung zu verschaffen, und hatte zuweilen damit Glück. Er besorgte ihnen Billetts zu den großen Sitzungen und Logen in der Oper. Er vermittelte Fräulein Clarence mehrere Gelegenheiten, vorteilhaft aufzufallen, besonders aber bei einem ländlichen Fest, das, obwohl ein Minister es gab, als sehr nobel betrachtet wurde und der Republik ein erstes Mal die Gunst der eleganten Leute beschied.

Bei diesem Fest spielte Eveline eine große Rolle. Vor allem war ein junger Diplomat namens Roger Lambilly hinter ihr her, der in ihr ein leichtes Persönchen vermutete, und sie in seine Junggesellenwohnung bestellte. Sie fand ihn schön und glaubte, er sei reich; sie ging zu ihm. Etwas erregt, fast verstört, wäre sie um ein Haar ihrem Mut zum Opfer gefallen, und sie vermied ihre Niederlage nur durch ein keck ausgeführtes Angriffsmanöver. Das war in ihrem Mädchenleben der dümmste Streich.

Sie wurde mit den Ministern, dem Präsidenten intim und bewegte sich dort, indem sie eine Vornehmheit und Frömmigkeit zur Schau trug, die ihr die Sympathie der höchsten Beamtenschaft der antiklerikalen, demokratischen Republik gewannen. Herr Hippolyt Ceres sah, daß sie Erfolg hatte und ihm Ehre machte, und seine Liebe zu ihr wuchs. Er verliebte sich rettungslos in sie.

Nun begann sie trotz allem, ihn mit Interesse zu beobachten. Sie wollte wissen, ob das noch zunähme. Er schien ihr unfein, ohne Zartgefühl, schlecht erzogen, doch willensstark, schlau, gerissen und nicht allzu langweilig. Sie spottete seiner noch immer, aber sie beschäftigte sich mit ihm.

Eines Tags gedachte sie zu prüfen, was er für sie empfände.

Es war inmitten des Wahlfeldzugs, während er, wie man zu sagen pflegt, sich um die Erneuerung seines Mandats bewarb. Sein Konkurrent war anfangs ungefährlich und entbehrte der oratorischen Gabe. Doch er war reich, und täglich, so glaubte man, schwoll seine Stimmenzahl. Hippolyt Ceres bannte aus seinem Geist die schwerfällige Ruhe und den wilden Alarm und verdoppelte seine Wachsamkeit. Das Hauptfeld seiner Tätigkeit waren seine Volksversammlungen, in denen er die Kandidatur seines Nebenbuhlers mit Lungengewalt niederschrie. Sonnabend abend und Sonntag nachmittag Punkt drei Uhr veranstaltete der Wahlausschuß seiner Freunde große Meetings mit freier Diskussion. Eines Sonntags nun machte er den Damen Clarence einen Besuch und fand Eveline allein im Salon. Er plauderte mit ihr schon zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten, da zog er seine Uhr heraus und gewahrte, daß es dreiviertel drei war. Das junge Mädchen stellte sich liebenswürdig, neckisch, anmutig, beunruhigend, verheißungsvoll. Erregt stand Ceres auf.

»Noch ein kleines Weilchen!« sprach sie zu ihm mit dringlicher, süßer Stimme, die ihn bewog, sich wieder zu setzen.

Sie bezeigte Interesse für ihn, Hingabe, Neugier, Schwäche. Er wurde rot und blaß. Dann stand er nochmals auf.

Da sah sie, um ihn zurückzuhalten, ihn mit ihren grauen Augen an, die plötzlich trüb waren und schwärmten, und mit keuchender Brust verstummte sie. Überwunden, sinnlos, vernichtet fiel er ihr zu Füßen. Hiernach zog er nochmals seine Uhr heraus, sprang in die Höhe und fluchte gräßlich:

»Zum Deibel! Fünf Minuten vor vier! Jetzt muß ich aber weg!«

Und schnell stürzte er zur Treppe.

Seitdem schätzte sie ihn gewissermaßen.


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