Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Sechstes Kapitel

Der Drache von Alka

»Dann besuchten wir das naturgeschichtliche Kabinett ... Der Verwalter zeigte uns ein in Stroh gewickeltes Bündel, in dem, wie er sagte, das Skelett eines Drachen stak. Dies sei ein Beweis, daß der Drache kein Fabeltier sei.«

Memoiren des Jakob Casanova, Paris 1843, Band IV, SS. 404, 405

Indessen übten die Bewohner von Alka die Werke des Friedens. Die Leute an der Nordküste fuhren in Barken aus und heimsten Fische und Muscheln ein mit ihren Netzen. Die Ackerer des Tals der Domben bauten Hafer, Roggen und Weizen. Die reichen Pinguine im Tal der Steinfliesen züchteten Haustiere, und die an der Bucht der Meertaucher pflegten ihre Obstgärten. Händler von Port-Alka verkauften gesalzene Fische an Armorika. Und das Gold beider Britannien, das nach der Insel zu fließen begann, erleichterte den Austausch. In tiefer Ruhe genoß das Pinguinenvolk den Lohn seiner Arbeit, als plötzlich ein Unheilsgerücht von Dorf zu Dorf lief. Überall vernahm man zur selben Zeit, daß ein furchtbarer Drache zwei Meiereien an der Bucht der Meertaucher geplündert hatte.

Einige Tage vorher war die Jungfrau Orberose verschwunden. Man hatte sich über ihre Abwesenheit nicht sofort geängstigt, weil sie mehrfach schon durch starke, liebestolle Männer entführt worden war. Und die Weisen verwunderten sich darob nicht, denn sie erwogen, daß diese Jungfrau das schönste Pinguinenweib sei. Man bemerkte sogar, daß sie ihrem Räuber mitunter entgegenkam, denn niemand kann, was ihm bestimmt ist, vermeiden. Diesmal jedoch befürchtete man, als man sie nicht wiederkehren sah, der Drache habe sie verschlungen.

Bald wurden auch die Bewohner des Tals der Steinfliesen inne, daß der Drache kein von den am Brunnenrand klatschenden Frauen erdichtetes Märchen war. Denn eines Nachts fraß das Ungeheuer im Dorfe Anis sechs Hennen, einen Hammel und ein kleines Waisenkind, namens Elo. Von den Tieren und von dem Kindlein fand man am nächsten Tage nichts mehr.

Nun versammelten sich die Dorfältesten an öffentlichem Platz und setzten sich auf die Steinbank, um zu beraten, was unter diesen schrecklichen Umständen zu tun von Nutzen sei.

Und beriefen alle Pinguine, die den Drachen in der Unheilsnacht gesehen hatten, und fragten sie:

»Habt ihr seine Gestalt und seine Gewohnheiten nicht wahrgenommen?«

Und nacheinander antworteten sie:

»Er hat Löwenpranken, Adlerflügel und einen Schlangenschwanz.«

»Sein Rücken hat rauhe Stachelkämme.«

»Sein ganzer Leib ist mit gelblichen Schuppen besetzt.«

»Sein Blick ist brennend und trifft wie der Blitz. Er speit Feuer.«

»Mit seinem Odem verpestet er die Luft.«

»Er hat einen Drachenkopf, Löwenpranken und einen Fischschwanz.«

Und ein Weib aus Anis, das für vernünftig galt und urteilsfähig, und dem der Drache drei Hennen gestohlen hatte, sagte folgendermaßen aus:

»Er ist gebaut wie ein Mensch. Ich dachte sogar, es war mein Mann, und habe ihn angefahren: ›Geh doch zu Bett, du dummes Tier‹.«

Andere sagten:

»Er ist wie eine Wolke beschaffen.«

»Er gleicht einem Berg.«

Und ein Kindlein kam und sagte:

»Ich habe gesehen, wie der Drache in unserer Scheuer seinen Kopf abnahm und meine Schwester Minnie küßte.«

Und die Ältesten fragten die Einwohner weiter:

»Wie groß ist der Drache?«

Und es ward ihm erwidert:

»So groß wie ein Ochse.«

»So groß wie die großen Handelsschiffe der Bretonen.«

»Er hat eines Mannes Wuchs.«

»Er ist höher als der Feigenbaum, unter dem ihr sitzt.«

»Er ist so groß wie ein Hund.«

Über die Farbe endlich befragt, erwiderten die Einwohner:

»Rot.«

»Grün.«

»Blau.«

»Gelb.«

»Sein Kopf hat ein schönes Grün. Seine Flügel sind hellorange, rosig verwaschen, mit silbergrauem Rand. Über Kreuz und Schwanz ziehen sich braune, rosige Streifen, der Bauch ist hochgelb, mit schwarzen Tupfen.«

»Seine Farbe? Er hat gar keine.«

»Er hat eben Drachenfarbe.«

Nachdem die Ältesten diese Zeugnisse gehört hatten, blieben sie in Ungewißheit, was sie machen sollten. Die einen schlugen vor, den Drachen zu belauern, zu überraschen und mit einem Pfeilhagel niederzuschießen. Andere bedachten, daß es vergebens sei, wider ein so mächtiges Tier Gewalt aufzubieten, und empfahlen, durch Opfergaben es zu beschwichtigen.

»Zahlen wir ihm doch Tribut,« sagte einer, der im Ruf der Weisheit stand. »Wir können es für uns gewinnen, wenn wir ihm angenehme Dinge schenken, Früchte, Wein, Lämmer und eine Jungfrau.«

Andere endlich waren dafür, die Brunnen zu vergiften, daraus er zu trinken pflegte, oder in seiner Höhle ihn mit Rauch zu ersticken.

Doch keine dieser Meinungen drang durch. Man stritt lange, und die Ältesten trennten sich, ohne einen Beschluß zu fassen.


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