Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Viertes Kapitel

Colomban

Einige Wochen nach der Verurteilung der siebenhundert Pyrots verließ in der Morgenstunde ein kurzsichtiges, muffiges, haariges Männchen mit einem Leimtopf, einer Leiter und einem Pack Anschlagszettel seine Wohnung. Es ging durch die Straßen und klebte an die Mauern Plakate, worauf in dicken Buchstaben zu lesen stand: Pyrot unschuldig, Maubec schuldig. Eigentlich war der Mann nicht von Beruf Zettelkleber. Er hieß Colomban, war Verfasser von hundertundzwanzig Bänden pinguinischer Soziologie und zählte zu den fleißigsten, geachtetsten Schriftstellern von Alka. Da er nach gründlicher Erwägung an Pyrots Unschuld nicht mehr zweifelte, veröffentlichte er diese Tatsache so, wie sie am deutlichsten in die Augen springen mußte. Unbelästigt klebte er ein paar Zettel in wenig besuchten Straßen an. Doch wie er in die volksreichen Quartiere kam, umdrängten ihn, jedesmal wenn er seine Leiter erkletterte, die Gaffer. Stumm vor Staunen und Entrüstung, schleuderten sie drohende Blicke, die er mit jener Ruhe ertrug, welche Mut und Kurzsichtigkeit verleihen. Während Portiers und Krämer ihm auf den Fersen folgten und seine Zettel abrissen, schleppte er sich mit seinem Gerät weiter. Die kleinen Jungen liefen ihm nach, die, ihren Korb unter dem Arm, ihren Ranzen auf dem Rücken, durchaus keine Eile hatten, zur Schule zu kommen; emsig klebte er. Nun mischten sich Protestrufe und Gemurmel in die wortlose Entrüstung. Aber Colomban verschmähte es irgend etwas zu hören und zu sehen. Als er vorn an der Straße der heiligen Orberose eines seiner Papierstücke anheftete, worauf gedruckt stand: Pyrot unschuldig, Maubec schuldig, verriet die aufgehetzte Menge gewalttätige Wut. Man schrie ihm zu: »Verräter, Dieb, Verbrecher, Hundsfott.« Eine Hausfrau machte ihr Fenster auf und schüttete ihm einen Mülleimer über den Kopf. Ein Droschkenkutscher hieb mit der Peitsche nach seinem Hut, daß er auf die andere Straßenseite sprang, unter dem Beifallsgebrüll der gerächten Menge. Ein Fleischergehilfe warf ihn mit Leim, Pinseln und Zetteln von seiner Leiter herab in den Rinnstein, und stolz empfanden die Pinguine die Größe ihres Vaterlandes. Von nassem Schmutz blinkend, mit ausgerenktem Ellbogen und Bein, erhob sich Colomban in Ruhe und Entschlossenheit.

»Blödes Gesindel,« murmelte er und zuckte mit den Achseln.

Dann kroch er auf allen vieren durch den Rinnstein, um seinen Kneifer zu suchen, den er im Fallen verloren hatte. Da zeigte sich's, daß sein Rock vom Hals bis zu den Schößen auseinandergerissen war und seine Hose ganz zerlumpt. Der Grimm der Menge gegen ihn wurde darob noch größer.

Jenseits der Straße lag die große Spezereiwarenhandlung zur heiligen Orberose. Patrioten griffen in die Auslage und warfen auf Colomban, was ihnen zwischen die Finger kam, Orangen, Zitronen, Töpfe mit Eingemachtem, Schokoladentäfelchen, Likörflaschen, Sardinenbüchsen, Schüsselchen mit Gänseleber, Schinken, Geflügel, Fläschchen voll Öl und Säcke voll Bohnen. Von zerstückelten Nahrungsmitteln bedeckt, geschunden und zerrissen, lahm und blind entfloh er, hinter ihm Ladendiener, Bäckerjungen, Tagediebe, Bürger, Spaßvögel, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, und die heulten: »Ins Wasser! Tod dem Verräter! Ins Wasser!« Dieser Gießbach menschlicher Gemeinheit wälzte sich die Boulevards entlang und stürzte sich in die Straße des heiligen Maël. Die Polizei tat ihre Pflicht. Aus allen Nebenstraßen liefen Polizisten herzu, die, mit der linken Hand auf der Säbelscheide, im Laufschritt an die Spitze der Verfolger trabten. Schon wollten sie ihre riesigen Hände auf Colomban legen, da entschlüpfte er ihnen plötzlich, indem er durch eine offene Luke in eine Kloake hinabfiel.

Dort verbrachte er die Nacht, in der Finsternis sitzend, am Rand des Schlammwassers zwischen den feuchten, dicken Ratten. Er beschäftigte sich mit seiner Aufgabe; sein Herz ward größer, Mut und Mitleid füllten es. Und als das Frühlicht in bleichem Strahl den Rand des Kellerlochs erhellte, stand er auf und sprach zu sich selbst: »Ich sehe schon, das wird ein böser Kampf.«

Sofort verfaßte er eine Denkschrift, worin er klar auseinandersetzte, daß Pyrot achtzigtausend Heubündel, die nie ins Kriegsministerium gekommen waren, dort nicht hatte stehlen können, insofern auch Maubec sie nie geliefert hatte, obwohl er den Preis dafür eingestrichen habe. Diese Schrift ließ Colomban in Alkas Straßen verbreiten. Das Volk weigerte sich, seine Darlegungen zu lesen, und zerriß sie voll Zorn. Die Krämer ballten die Faust, die Kolporteure flohen vor den haushälterischen Furien, die ihnen mit dem Besen den Rücken bläuten. Die Köpfe erhitzten sich, den ganzen Tag hielt die Erregung an. Abends liefen Rotten grober Lumpenkerle durch die Gassen und heulten: »Tod dem Colomban!« Patrioten rissen den Straßenschreiern ganze Packen der Schrift weg, verbrannten sie auf den Marktplätzen und tanzten um diese Freudenfeuer mit Dirnen, die bis zum Bauch aufgeschürzt waren, wilde Reigentänze.

Die Hitzigsten schlugen in dem Haus, wo Colomban seit vierzig Jahren in tiefem Frieden von seiner Arbeit lebte, die Scheiben ein.

Die Kammer geriet in Bewegung und fragte den Regierungschef, welche Maßnahmen er treffen wolle, um das von Colomban begangene hassenswerte Attentat gegen die Ehre der nationalen Armee und die Sicherheit Pinguiniens niederzuschlagen. Robin Mielleux geißelte Colombans ruchlose Frechheit und kündigte unter dem Beifall der Gesetzgeber an, der Mann würde vor Gericht gestellt werden, um sich für seine infame Schmähschrift zu verantworten.

Als der Kriegsminister auf die Rednertribüne gerufen wurde, erschien er dort ganz verwandelt. Er sah nicht, wie ehedem, einer heiligen Gans der pinguinischen Zitadellen gleich. Jetzt schien er mit seinem gesträubten Haar, seinem gespannten Hals, seinem gebogenen Schnabel der symbolische Geier zu sein, der den Vaterlandsfeinden die Leber zerhackt.

Unter dem erhabenen Schweigen der Versammlung sprach er nur die Worte:

»Ich schwöre, daß Pyrot ein Verbrecher ist.«

Dieses Wort Greatauks wurde in ganz Pinguinien verbreitet und nahm vom öffentlichen Gewissen eine Last.


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