Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Achtes Kapitel

Der Prozeß Colomban

Bei der Eröffnung des Prozesses Colomban gab es nicht viel mehr als dreißigtausend Pyrotiner. Doch überall gab es welche, sogar unter den Priestern und den Offizieren. Am meisten schadete ihnen die Anhängerschaft der Großjuden. Hingegen verdankten sie ihrer Schwäche an Zahl wertvolle Vorteile, besonders aber dem Umstand, daß sie weniger Dummköpfe unter sich hatten als ihre Widersacher, die überreich damit versorgt waren. Da sie nur eine kleine Minderheit umschlossen, vertrugen sie sich leicht, handelten sie einträchtig, waren sie nicht versucht, sich zu teilen und gegenseitig zu hemmen. Jeder fühlte die Notwendigkeit, sich gut zu halten, und hielt sich desto besser, auf je wichtigerem Posten er stand. Kurz, alles stützte ihren Glauben, daß sie neue Parteigänger gewinnen würden, indes ihre Widersacher auf den ersten Anhieb die Massen gesammelt hatten und nur noch zurückgehen konnten.

Als man in öffentlicher Sitzung ihn vor seine Richter stellte, bemerkte Colomban sofort, daß seine Richter nicht neugierig waren. Sobald er den Mund auftat, befahl ihm der Präsident, in höherem Staatsinteresse zu schweigen. Aus demselben Grund, dem höchsten von allen, wurden die Entlastungszeugen nicht vernommen. Der Generalstabschef, General Panther, erschien an der Schranke in großer Uniform, mit seinen sämtlichen Orden geschmückt. Er sagte in folgenden Sätzen aus:

»Der ruchlose Colomban behauptet, wir hätten gegen Pyrot keine Beweise. Er hat gelogen; wir haben welche. In meinen Archiven bewahre ich siebenhundertundzweiunddreißig Quadratmeter auf, die, das Quadratmeter zu je fünfhundert Kilo, dreihundertsechsundsechzigtausend Kilo wiegen.«

Dann machte dieser höhere Offizier mit Eleganz und in leichtem Ton eine Andeutung über seine Beweise. »Ich habe welche von allen Farben und allen Nuancen,« sagte er im wesentlichen. »Von allen Formaten, in Spielkartengröße, in Kronenpapier, Schildpapier, Traubenpapier, in Taubenschlagformat und Landkartenformat. Das kleinste Beweisstück ist weniger als einen Quadratmillimeter hoch und breit, das größte mißt 7O Meter Länge, 0,90 Meter Breite.«

Diese Enthüllung machte das Auditorium vor Schreck erzittern.

Dann legte Greatauk Zeugnis ab. Schlichter und wohl größer, trug er einen alten grauen Rock und hielt die Hände auf dem Rücken verschlungen.

»Ich überlasse,« sprach er mit Ruhe und kaum erhobener Stimme, »ich überlasse Herrn Colomban die Verantwortung für eine Handlungsweise, die unser Vaterland an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Der Fall Pyrot ist geheim; er muß geheim bleiben. Würde er bekannt, so würde er das grausamste Unheil, Krieg, Plünderung, Verheerung, Brand, Mord, Seuche sofort über Pinguinien heraufbeschwören. Ich müßte mich als des Hochverrats schuldig betrachten, wollte ich ein Wort mehr sprechen.«

Etliche Personen von bewährter politischer Erfahrung, darunter Herr Bigourd, rühmten der Aussage des Kriegsministers mehr Geschick und größere Tragweite nach als der seines Generalstabschefs.

Das Zeugnis des Obersten Boisjoli machte tiefen Eindruck.

»Bei einer Abendgesellschaft im Kriegsministerium,« äußerte dieser Offizier, »hat der Militärattaché einer Nachbarmacht mir anvertraut, daß er beim Besuch der Stallungen seines Herrschers ein geschmeidiges, duftendes Heu von hübscher grüner Farbe, das schönste, das er je gesehen, bewundert habe. Woher es gekommen sei, fragte ich ihn. Er antwortete mir nicht; jedoch der Ursprung schien mir nicht zweifelhaft. Es war das von Pyrot gestohlene Heu. Diese Vorzüge der grünen Färbung, der Geschmeidigkeit und des Duftes sind unsrem nationalen Heu zu eigen. Das Futter der Nachbarschaft ist grau und brüchig. Es kracht unter der Heugabel und riecht nach Staub. Jedermann kann daraus seine Schlüsse ziehen.«

Der Oberstleutnant Hastaing trat an die Schranke und sagte, von Gejohl umringt, er glaube nicht an die Schuld des Pyrot. Im Nu wurde er von den Gendarmen gepackt und in ein Kellerloch geworfen, wo er, mit Vipern, Kröten und zerstoßenem Glas ernährt, für Versprechungen und Drohungen unempfindlich blieb.

Der Gerichtsdiener rief:

»Graf Pierre Maubec von Dentdulynx!«

Es wurde totenstill, und dann sah man einen großartigen, zerzausten Edelmann an die Schranke treten, dessen Schnurrbart gen Himmel drohte, und dessen gelbe Raubtieraugen Blitze sprühten.

Er ging auf Colomban los, schleuderte ihm einen Blick voll unsäglicher Verachtung zu und sprach:

»Ich habe nur eins zu sagen: Sch ... e!«

Bei diesen Worten brach im ganzen Saal ein Getöse der Begeisterung aus, und der Fußboden schwankte unter einem jener Gefühlsstürme, die die Herzen erheben und die Seelen zu ungewöhnlichen Taten fortreißen. Ohne ein Wort hinzuzufügen, trat der Graf Maubec von Dentdulynx wieder ab.

Mit ihm verließ die Schar der Anwesenden den Ratssaal und begleitete ihn in festlichem Zuge. Die Prinzessin Boscénos hielt, vor ihm hingestreckt, seine Schenkel leidenschaftlich umklammert. Er aber schritt unbewegt, finster durch einen Regenschwall von Taschentüchern und Blumen. Die Vikomtesse Olive, die sich in Krämpfen um seinen Hals wand, konnte nicht weggenommen werden, und ruhig entführte der Held die gleich einem luftigen Schleier an seine Brust hingegossene Dame.

Als die Sitzung, die man hatte unterbrechen müssen, weiterging, rief der Präsident die Sachverständigen auf.

Der berühmte Schreibsachverständige Vermillard legte das Ergebnis seiner Untersuchungen dar.

»Ich habe,« sprach er, »die bei Pyrot beschlagnahmten Papiere, vor allem seine Haushaltsbücher und seine Wäschekalender, genau geprüft und erkannt, daß sie unter harmlosem Äußern ein undurchdringliches Kryptogramm darstellen, dessen Schlüssel ich nun doch gefunden habe. Die Ruchlosigkeit des Verräters zeigt sich in jeder Linie. In diesem Schriftsystem haben die Worte: »Drei Glas Bier und zwanzig Francs für Adele« zu bedeuten: »Ich habe einer Nachbarmacht dreißigtausend Heubündel geliefert.« Aus diesen Dokumenten habe ich sogar die Beschaffenheit des von dem Offizier gelieferten Heues ermitteln können. Die Worte Hemd, Weste, Unterhose, Taschentücher, Kragen, Aperitif, bedeuten Klee, Rispengras, Luzerne, Bibernell, Hafer, Sommerlolch, Ruchgras und Lieschgras. Aus eben diesen Würzkräutern bestand das vom Grafen Maubec der pinguinischen Kavallerie gelieferte duftende Heu. So erwähnte Pyrot seine Verbrechen in einer Sprache, die ihm für ewig unentzifferbar schien. Man ist baff über soviel Tücke und soviel Unvernunft zugleich.«

Colomban wurde ohne mildernde Umstände schuldig gesprochen und zum höchsten Strafmaß verurteilt. Die Geschworenen unterzeichneten sogleich eine Berufung, in der sie noch strengere Ahndung begehrten.

Auf dem Platz des Justizpalasts, am Rande des Stromes, dessen Ufer zwölf Jahrhunderte einer großen Geschichte gesehen hatten, erwarteten fünfzigtausend Personen lärmend den Ausgang des Prozesses. Dort tummelten sich die Leuchten des Anti-Pyrotiner-Bundes, unter denen man den Prinzen Boscénos gewahrte, den Grafen Cléna, den Vikomte Olive, Herrn von La Trumelle. Dort drängten sich der ehrwürdige Pater Agaric und die Lehrer der Schule zum heiligen Maël nebst allen ihren Schülern. Dort bildeten der Mönch Douillard und der Generalissimus Caraguel, die sich umarmt hatten, eine erhabene Gruppe, und über die alte Brücke sah man die Damen der Markthallen und der Waschhäuser herbeirennen, mit Pfriemen, Schaufeln, Zangen, Waschbläueln und Weichzubern voll chemischer Wasser. Vor den Bronzetoren, auf den Stufen, waren sämtliche in Alka lebenden Verteidiger Pyrots angesammelt, Professoren, Publizisten, Arbeiter, halb Konservative, halb Radikale, und an ihrer nachlässigen Haltung, ihren wilden Mienen erkannte man die Genossen Phönix, Larrivée, Lapersonne, Dagobert und Varambille.

In seinen Leichenbitterrock gezwängt, mit seinem feierlichen Zylinder auf dem Kopf flehte Bidault-Coquille die gefühlvolle Mathematik an, Colomban und dem Obersten Hastaing beizustehen. Auf der höchsten Stufe erstrahlte, lächelnd und ungestüm, Maniflore, die heroische Buhle, die eifersüchtig entbrannt war, wie Leäna ein Ruhmesdenkmal oder wie Epicharis das Lob der Geschichte zu erringen.

Um das große Gebäude irrten die siebenhundert Pyrots, als Limonadenhändler, Straßenschreier, Stummelsammler und sogar als Antipyrotiner verkleidet.

Als Colomban hervorkam, erhob sich ein so lautes Geschrei, daß, durch die Erregung der Luft und des Wassers betroffen, die Vögel von den Bäumen herabfielen und die Fische im Strom sich umdrehten. Von allen Seiten heulte man:

»Colomban ins Wasser! ins Wasser! ins Wasser!«

Etliche Schreie gellten:

»Gerechtigkeit und Wahrheit!«

Man hörte sogar ein Gebrüll:

»Nieder mit der Armee!«

Das war das Zeichen für den Beginn eines furchtbaren Handgemenges. Die Kämpfer fielen zu Tausenden nieder, und mit ihren gehäuften Leibern bildeten sie heulende, wimmelnde Hügel, darob neue Ringer sich an die Kehle sprangen. Hitzig, mit gelöstem Haar, bleich, mit grimmigen Zähnen und rasenden Nägeln stürzten sich die Weiber auf die Männer. Und im hellen Licht des öffentlichen Platzes war ihr wütendes Antlitz so bezaubernd, wie sonst nur im Schatten der Bettgardinen, in gehöhlten Kopfkissen, in schwachen Stunden. Schon wollen sie Colomban packen, beißen, erwürgen, vierteilen, zerfleischen und sich um die Fetzen balgen, da richtet Maniflore, groß, keusch in ihrem roten Gewand, sich vor den Furien auf, die entsetzt zurückweichen. Colomban schien gerettet. Seine Anhänger hatten ihm mühsam einen Weg über den Platz vor dem Justizpalast gebahnt und ihn in eine Droschke gebracht, die an der Ecke der alten Brücke hielt. Schon trabte das Pferd dahin, doch Prinz Boscénos, Graf Cléna und Herr von La Trumelle schmissen den Kutscher vom Bock. Sie schoben das Tier zurück, daß die großen Räder vor den kleinen liefen, und hängten das Fahrzeug über die Brüstung, von wo sie es unter dröhnendem Beifall der rasenden Menge in den Fluß rutschen ließen. Kühl und hell klatschte das Wasser, wie Garbenbündel schoß es in die Höhe. Dann sah man nur noch ein leichtes Gekräusel an des Stromes funkelnder Oberfläche.

Unverzüglich stießen die Genossen Dagobert und Varambille mit Hilfe der verkleideten siebenhundert Pyrots den Prinzen Boscénos kopfüber in ein schwimmendes Waschhaus, in dem er kläglich Schaden nahm.

Auf den Platz vor dem Justizpalast sank die heitere Nacht und hüllte die grausigen Trümmer, die ihn bedeckten, in Schweigen und Frieden. Indessen sann drei Kilometer stromabwärts, unter einer Brücke zusammengekauert, triefend, neben einem alten, verkrüppelten Pferd, Colomban über Unwissenheit und Ungerechtigkeit der Massen nach.

»Der Kampf,« sprach er bei sich, »ist noch ekliger als ich glaubte. Ich ahne neue Schwierigkeiten.«

Er stand auf, kroch an das Unglückstier heran und raunte ihm zu: »Was hattest denn du ihnen getan, armes Freundchen? Meinetwegen haben sie dir so übel mitgespielt.«

Er faßte das Unglückstier beim Kopfe und drückte auf den weißen Fleck an seiner Stirne einen Kuß. Dann zog er es am Zügel, und hinkend führte er seinen lahmen Gesellen durch die schlummernde Stadt nach Hause, wo sie im Schlaf die Menschen vergessen durften.


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