Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Staatsrat Chaussepied

Die bisher durch Furcht geblendeten, törichten, stupiden Republikaner machten vor den Banden des Kapuziners Douillard und der Parteigänger des Prinzen Crucho endlich die Augen auf und begriffen den wahren Sinn des Falles Pyrot. Die Deputierten, die seit zwei Jahren vor dem Geheul der patriotischen Menge erblaßten, wurden nicht tapferer, aber sie wählten eine neue Methode der Feigheit und schrieben dem Ministerium Robin Mielleux die Schuld an den Wirren zu, die sie selbst durch Nachgiebigkeit gemehrt und deren Urhebern sie des öfteren zitternd Erfolg gewünscht hatten. Sie warfen dem Ministerium vor, es habe durch seine Schwäche, die doch ihre eigene war, und durch Zugeständnisse, die sie ihm abgezwungen hatten, die Republik gefährdet. Einige begannen zu zweifeln, ob es nicht weit mehr ihrem Interesse entspreche, an Pyrots Unschuld als an seine Schuld zu glauben, und auf einmal folterte sie der Gedanke, der Unglückliche könne widerrechtlich verurteilt sein und büße in seinem Luftkäfig für die Verbrechen eines andern. »Mir raubt es den Schlaf!« sagte der Minister Guillaumette, der gern seinen Chef verdrängt hätte, im Vertrauen zu etlichen Angehörigen der Majorität.

Diese großgesinnten Gesetzgeber stürzten das Kabinett, und der Präsident der Republik berief statt des Robin Mielleux einen ewigen Republikaner mit schönem Bart, des Namens La Trinité, der, wie die meisten Pinguine, von jenem Fall kein Wort verstand, aber der Ansicht war, es seien in der Tat zuviel Pfaffen dazwischen.

Bevor General Greatauk das Ministerium verließ, erteilte er dem Generalstabschef Panther noch letzte Ratschläge.

»Ich gehe, Sie bleiben,« sprach er und drückte ihm die Hand. »Der Fall Pyrot ist mein Kind. Ich vertraue es Ihnen an. Es ist Ihrer Liebe und Ihrer Sorge wert; es ist schön. Vergessen Sie nicht, daß seine Schönheit das Dunkel sucht, daß es geheim und verhüllt bleiben will. Schonen Sie seine Scham. Zu viele neugierige Blicke bereits haben seine Reize entweiht ... Panther, Sie wollten Beweisstücke und haben welche bekommen. Sie haben viele, zu viele sogar in der Hand. Mir schwant, daß lästige Einmischungen und gefährliche Neugier kommen werden. An Ihrer Stelle würde ich all diese Akten einstampfen lassen. Glauben Sie mir, der beste Beweis ist, keinen zu haben. Dann nur tastet niemand ihn an.«

Doch weh! General Panther begriff nicht, wie klug diese Ratschläge waren. Allzusehr sollte die Zukunft der hellen Einsicht Greatauks recht geben. Sogleich nach seinem Einzug ins Ministerium verlangte La Trinité die Akten des Falles Pyrot. Sein Kriegsminister Péniche verweigerte sie ihm kraft des höheren Interesses der nationalen Verteidigung und erzählte ihm unter Siegel, der Aktenhaufe umfasse, für sich allein, ein von General Panther bewachtes, großes Archiv, das größte der Welt. La Trinité studierte den Prozeß nach Vermögen, und ohne ihn zu ergründen, schöpfte er Verdacht, daß er regelwidrig sei. Alsbald befahl er, seinen Rechten und Befugnissen gemäß, die Einleitung der Revision. Sofort beschuldigte ihn Péniche, sein Kriegsminister, er beschimpfe die Armee, er verrate das Vaterland, und warf ihm sein Portefeuille an den Kopf. Ihn ersetzte ein zweiter, der dasselbe tat, diesen ein dritter, der jenen Beispielen nachahmte, und auch die folgenden bis zur Nummer Siebzig betrugen sich wie ihre Vorgänger. Der ehrwürdige La Trinité stöhnte, unter den Kriegsportefeuilles verschüttet. Der einundsiebzigste Kriegsminister, van Julep, blieb im Amt. Er war nicht etwa mit so vielen, vornehmen Kollegen uneins, sondern er hatte von ihnen den Auftrag, seinen Ministerpräsidenten auf edle Weise zu verraten, ihn mit Schimpf und Schande zu bedecken und das Revisionsverfahren zum Ruhme Greatauks, zur Befriedigung der Anti-Pyrotiner, den Mönchen zum Nutzen und zur Einsetzung des Prinzen Crucho enden zu lassen.

General van Julep war zwar mit hohen soldatischen Tugenden begabt, doch nicht schlau genug, um die feinen Schliche, die ausgeführten Kniffe Greatauks fortführen zu können. Er dachte wie General Panther, man brauche gegen Pyrot greifbare Beweise, und man würde nie zuviel, nie genug haben. Er äußerte sich in diesem Sinne zu seinem Generalstabschef, der nur zu sehr derselben Überzeugung anhing.

»Panther,« sprach er, »der Augenblick ist nahe, wo wir reiche, überreiche Beweisstücke brauchen.«

»Gut, General,« antwortete Panther. »Ich werde meine Akten ergänzen.«

Sechs Monate später füllten die Beweise gegen Pyrot zwei Stockwerke des Kriegsministeriums an. Unter der Aktenlast fiel der Boden ein, und im Niederbrausen zerschmetterte die Papierflut zwei Dienstchefs, vierzehn Bureauchefs und sechzig Expeditionsschreiber, die im Erdgeschoß mit einer Abänderung der Gamaschen für die Jägerregimenter beschäftigt waren. Die Mauern des Riesengebäudes mußten gestützt wer« den. Verblüfft sahen die Passanten ungeheure Balken, mächtige Baumpfähle, die, schräg gegen die stolze, jetzt klaffende und wankende Fassade gelehnt, die Straßen versperrten, die Bewegung von Wagen und Fußgängern ins Stocken brachten und ein Hindernis für die Autoomnibusse waren, die samt Insassen daran zerschellten.

Die Richter, die Pyrot verurteilt hatten, waren keine Richter im engeren Sinn, sondern Militärrichter. Die Richter, die Colomban verurteilten, waren Richter, aber kleine Richter, die einen schwarzen Leinwandkittel anhatten wie Sakristeifeger, arme Teufel und Hungerleider auf dem Richterstuhl, über ihnen thronten hohe Richter, die rote Röcke und hermelinbesetzte Talare trugen. Sie waren ob ihrer Wissenschaft und Lehre berühmt und bildeten einen Hof, in dessen schreckenerregendem Namen seine Macht sich ankündigte. Man nannte ihn Kassationshof, um anzudeuten, daß er der Hammer war, der über Urteilen und Beschlüssen aller sonstigen Rechtsprechung schwebte.

Einer dieser hohen, roten Richter vom obersten Gerichtshof namens Chaussepied führte damals in einer Vorstadt von Alka ein bescheidenes, ruhiges Leben. Seine Seele war rein, sein Herz ehrenhaft, sein Geist gerecht. Wenn er sein Aktenstudium erledigt hatte, spielte er Geige und züchtete er Hyazinthen. Sonntags speiste er bei seinen Nachbarinnen, den Fräulein Helbivore, lächelnd und gesund war sein Greisenalter, und seine Freunde priesen seines Charakters Anmut.

Seit etlichen Monaten jedoch war er reizbar und verdrießlich, und wenn er eine Zeitung aufblätterte, so durchfurchten Schmerzensfalten sein rosiges, volles Gesicht, und es ward finster vom Purpur des Zornes. Die Ursache war Pyrot. Der Staatsrat Chaussepied konnte es nicht begreifen, daß ein Offizier so verrucht gewesen sein sollte, einer benachbarten, feindlichen Nation achtzigtausend Bündel Fourage-Heu auszuliefern. Und noch weniger begriff er, daß der Verbrecher in Pinguinien geschäftige Verteidiger fand. Der Gedanke, in seinem Vaterland gebe es einen Pyrot, einen Obersten Hastaing, einen Colomban, einen Kerdanic, einen Phönix, vergällte ihm seine Hyazinthen, sein Geigenspiel, Himmel und Erde, die ganze Natur und das Essen bei den Fräulein Helbivore.

Nun wurde der Prozeß Pyrot durch den Justizminister vor den obersten Gerichtshof gebracht, und dem Staatsrat Chaussepied fiel es zu, ihn zu prüfen und die Fehler, die darin begangen sein mochten, zu entdecken. Wenngleich er nach menschlichem Maß aufrecht und ehrbar und durch lange Schulung sein Amt ohne Haß und Gunst zu verwalten gewohnt war, erwartete er in den Dokumenten, die man ihm vorlegen würde, die Beweise sicherer Schuld und greifbarer Verruchtheit zu finden. Nach langen Schwierigkeiten und der wiederholten Weigerung des Generals von Julep erreichte der Staatsrat Chaussepied, daß man ihm die Akten aushändigte. Sie waren rubriziert, nach Paragraphen eingeteilt und beliefen sich auf vierzehn Millionen sechshundertundzwanzigtausenddreihundertzwölf Stück. Als er sie studierte, war der Richter zuerst überrascht, dann erstaunt, dann bestürzt, verwundert, gleichsam von einem Mirakel berührt. In den Akten fand er Warenhauskataloge, Zeitungen, Modekupfer, Säcke aus Spezereiläden, alte kaufmännische Briefe, Schülerhefte, Packleinen, Glaspapier zum Parkettreiben, Spielkarten, Löschblätter, sechstausend Exemplare eines Traumbuchs, doch nicht ein einziges Dokument, worin von Pyrot die Rede war.


 << zurück weiter >>