Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Elftes Kapitel

(Schluß)

Der Prozeß wurde kassiert, und Pyrot durfte aus dem Käfig klettern. Die Anti-Pyrotiner gaben ihre Sache noch nicht verloren. Wieder urteilten die militärischen Richter über Pyrot. In diesem zweiten Prozeß übertraf Greatauk sich selbst. Er setzte eine zweite Verurteilung durch, und zwar durch die Erklärung, die mitgeteilten Beweisstücke seien nichts wert; man habe sich wohl gehütet, die guten herzugeben, die aber müßten geheim bleiben. Nach der Ansicht von Kennern hatte er nie so großes Geschick entfaltet. Als er beim Verlassen des Sitzungssaals ruhigen Schritts, mitten durch die Gaffer, die Hände auf dem Rücken, über den Flur ging, warf sich ein rotgekleidetes Weib auf ihn, dessen Züge ein schwarzer Schleier deckte, und rief, ein Küchenmesser schwingend:

»Stirb, Verbrecher!«

Es war Maniflore. Ehe noch die Umstehenden begriffen hatten, was los war, packte der General die Frau am Handgelenk und preßte es sanft zum Schein, doch so kräftig, daß das Messer der schmerzenden Hand entfiel.

Dann hob er es auf und hielt es ihr hin.

»Gnädige Frau,« sagte er mit einer Verbeugung, »Ihnen ist ein Hausgerät entfallen.«

Daß die Heldin auf die Polizeiwache mußte, konnte er nicht verhindern. Aber er sorgte, daß sie gleich wieder frei kam, und später verwandte er seinen ganzen Einfluß dafür, daß die Verfolgung eingestellt wurde.

Die zweite Verurteilung Pyrots war Greatauks letzter Sieg.

Der Staatsrat Chaussepied, der früher die Soldaten so sehr geliebt und ihre Gerechtigkeit so hoch geschätzt hatte, tobte jetzt gegen die Militärrichter und zerknackte alle ihre Urteilssprüche, wie ein Affe Nüsse zerknackt. Ein zweites Mal gab er Pyrot die Ehre wieder; wäre es nötig gewesen, so hätte er es fünfhundertmal getan.

Aus Wut über ihre Feigheit, aus Wut, daß sie sich hatten täuschen und höhnen lassen, gingen die Republikaner von neuem gegen Mönche und Pfarrer vor. Die Deputierten »machten wider sie Gesetze, die sie verjagten, vom Staate trennten und ihnen ihre Güter nahmen. Es geschah, was der Pater Cornemuse vorhergesehen hatte. Dieser gute Mönch wurde aus dem Kaninchenwald vertrieben. Die Beamten des Fiskus bemächtigten sich seiner Kolben und Retorten, und die Liquidatoren teilten die Flaschen mit dem Likör der heiligen Orberose unter sich. Also verlor der fromme Schnapsbrenner die drei Millionen fünfhunderttausend Franks Jahreseinkünfte, die seine kleinen Erzeugnisse ihm verschafften. Der Pater Agaric entwich ins Exil und überließ seine Schule Laienhänden, in denen sie verkam. Vom nährenden Staate losgelöst, schrumpfte Pinguiniens Kirche wie eine abgeschnittene Blume dahin.

Da sie nun Sieger waren, zerrissen die Verteidiger des Unschuldigen einander und überhäuften sich mit Schimpf und Verleumdungen. Der leidenschaftliche Kerdanic stürzte sich auf Phönix, bereit ihn zu verschlingen. Die Großjuden und die siebenhundert Pyrots kehrten sich verächtlich von den sozialistischen Genossen ab, die sie kurz zuvor demutsvoll um Hilfe gefleht hatten.

»Wir kennen euch nicht mehr,« sagten sie. »Laßt uns mit eurer sozialen Gerechtigkeit in Frieden. Die soziale Gerechtigkeit ist der Schutz des Reichtums.«

Als der Genosse Larrivée zum Deputierten gewählt und Führer der neuen Mehrheit geworden war, trugen die Kammer und die öffentliche Meinung ihn hinauf zum Sessel des Ministerpräsidenten. Er erwies sich als mutiger Verteidiger der Militärgerichte, die Pyrot verurteilt hatten. Als feine ehemaligen sozialistischen Genossen für die Staatsangestellten so gut wie für die Handarbeiter etwas mehr Gerechtigkeit und Freiheit wünschten, bekämpfte er ihre Anträge in einer herrlichen Rede.

»Freiheit,« sagte er, »ist nicht Willkür. Ich weiß, wie ich zwischen Ordnung und Unordnung mich zu entscheiden habe. Revolution ist Ohnmacht. Der Fortschritt hat keinen fürchterlicheren Feind als die Gewalt. Mit Gewalt erreicht man nichts. Wer, meine Herren, Reformen will, muß vor allem bestrebt sein, das Land von der Erregung zu heilen, die die Regierungen schwächt, wie Fieber die Kranken erschöpft. Zeit ist es, die anständigen Bürger zu beruhigen.«

Diese Rede weckte einen Beifallssturm. Die republikanische Regierung blieb der Kontrolle der großen Finanzgesellschaften Untertan, das Heer ausschließlich zum Schutze des Kapitals, die Flotte nur zu Bestellungen für die Metallindustrie bestimmt. Die Reichen weigerten sich, den gebührenden Steueranteil zu bezahlen, und wie ehedem bezahlten die Armen für sie.

Indessen saß Bidault-Coquille oben in seiner Baracke unter der Versammlung der Nachtgestirne, und traurig überblickte er die schlummernde Stadt. Maniflore hatte ihn verlassen. Vom Drang nach neuer Hingabe und neuen Opfern verzehrt, war sie mit einem jungen Bulgaren nach Sofia gereist, um dorthin Gerechtigkeit und Rache zu bringen. Er sehnte sich nicht nach ihr, da er nach dem Fall Pyrot inne wurde, daß sie an Gestalt und in Gedanken weniger schön war als in seinem ersten Traum. Auch andere Gedanken betrachtete er jetzt minder schwärmerisch. Und am meisten quälte ihn, daß er selbst sich weniger groß und schön erschien als damals.

Er sann:

Du wähntest, erhaben zu sein, und hattest doch nur Einfalt und guten Willen. Worauf warst du denn stolz, Bidault-Coquille? Darauf, daß du gleich zu Anfang erfuhrst, Pyrot sei unschuldig und Greatauk ein Verbrecher. Aber drei Viertel von denen, die Greatauk wider die Angriffe der siebenhundert Pyrots verteidigten, wußten es besser als du. Nicht dies war die Frage. Womit denn sonst hast du dich gebrüstet? Damit, daß du dich unterfingst, deine Meinung zu sagen? Das ist Bürgermut, und Bürgermut ist, wie soldatischer Mut, aus reiner Unvorsichtigkeit geboren. Du bist unvorsichtig gewesen. Gut, aber deshalb brauchst du dich nicht unmäßig zu spreizen. Deine Unvorsichtigkeit war klein; sie riß dich nie in große Gefahr; nie war dein Kopf der Preis. Die Pinguine haben jene stolze, blutdürstige Grausamkeit nicht mehr, die einst ihren Revolutionen tragische Größe lieh. Das ist die verhängnisvolle Wirkung der Schwächung von Glaubensvorstellungen und Charakteren. Muß man dich, weil du in einem besonderen Fall etwas klüger warst als die andern, für einen höheren Geist ansehn? Ich fürchte, du hast im Gegenteil, Bidault-Coquille, eine große Unkenntnis der Bedingungen für geistige und sittliche Entwicklung der Völker bewiesen. Du redetest dir ein, die sozialen Frevel seien wie Perlen nebeneinander gereiht, und es genüge, eine herauszuziehen, um das ganze Kränzlein zu lockern. Das ist eine sehr naive Anschauung. Du schmeicheltest dir, auf einen Schlag in deiner Heimat und im Weltall das Reich der Gerechtigkeit zu errichten. Du warst ein braver Mann und ein ehrbarer Spiritualist, doch ohne viel experimentelle Philosophie. Halte in dir selbst Einkehr, dann wirst du sehen, daß doch Bosheit in dir war und deine Einfalt nicht frei von List. Du glaubtest, in der Moral ein gutes Geschäft zu machen. Du sagtest dir: »Hier kann ich ein für alle Male gerecht und tapfer werden. Dann kann ich mich in der öffentlichen Wertschätzung und im Lob der Geschichtsschreiber ausruhen.« Jetzt, wo du deine Illusionen verloren hast, wo du weißt, daß es hart ist, Unbill gut zu machen, und daß man immer von neuem beginnen muß, kehrst du zu deinen Asteroiden zurück. Recht so! Aber tue es in Bescheidenheit, Bidault-Coquille!


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