Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Zweites Kapitel

Pyrot

Schaudernd vernahm ganz Pinguinien die Missetat des Pyrot. Aber man freute sich doch, daß diese Unterschlagung, die durch Verrat kompliziert wurde und an Schändung grenzte, von einem kleinen Juden begangen worden war. Um eine solche Empfindung zu begreifen, muß man wissen, wie sich die öffentliche Meinung gegen große und gegen kleine Juden verhielt. In dieser Geschichtsdarstellung haben wir schon erwähnt, daß die allgemein verwünschte und allmächtige Finanzkaste aus Christen und Juden bestand. Die Juden, die dazu gehörten, und die des Volkes ganzer Haß traf, waren die Großjuden; sie besaßen unermeßlichen Reichtum und geboten, wie es hieß, über mehr denn ein Fünftel der pinguinischen Vermögen. Außerhalb dieser furchtbaren Kaste gab es eine Menge kleiner Juden in mittelmäßiger Lebenslage, die genau so unbeliebt waren wie die großen und weit weniger gefürchtet wurden. In jedem Polizeistaat ist der Reichtum ein heiliges Gut, in der Demokratie das einzige. Nun war der pinguinische Staat demokratisch. Drei bis vier Finanzgesellschaften übten dort eine breitere, wirksamere und beständigere Macht aus als die Minister der Republik. Das waren kleine Herren, die sie im verborgenen regierten, die sie durch Einschüchterung oder Bestechung zwangen, sie auf Staatskosten zu bevorzugen, und die sie durch Preßverleumdungen stürzten, wenn sie ehrenhaft blieben. Trotz der Heimlichkeit der Kassengeschäfte sickerte genug durch, um das Land zu empören. Jedoch die pinguinischen Bürger, die, ob hoch, ob niedrig, in der Achtung vor dem Geld empfangen und geboren und sämtlich große oder kleine Eigentümer waren, fühlten die Solidarität des Kapitals sehr gut und begriffen, daß nur des großen Reichtums Sicherheit diese dem kleinen gewährleistet. Daher hatten sie vor den israelitischen Milliarden ganz wie vor den christlichen religiöse Ehrfurcht. Und da das Interesse bei ihnen die Abneigung überwog, scheuten sie sich, nicht minder als vor dem Sterben, davor, den Großjuden, die sie verwünschten, ein einziges Haar zu krümmen. Geringer war ihre Bangigkeit vor den kleinen, und wenn sie einen solchen am Boden liegen sahen, trampelten sie auf ihm herum. Deshalb vernahm die ganze Nation mit unbändiger Befriedigung, daß der Verräter ein Jude war, aber ein kleiner. Man konnte ihn benutzen, um sich an ganz Israel zu rächen, ohne daß eine Erschütterung des öffentlichen Kredits drohte.

Fast niemand zögerte einen Moment zu glauben, daß Pyrot die achtzigtausend Heubündel gestohlen hatte. Man zweifelte nicht daran, weil die Unkenntnis des Falles den Zweifel nicht gestattete, der erst begründet sein muß. Grundlos zweifelt man nicht, man glaubt nur grundlos. Man zweifelte nicht daran, weil die Sache überall wiederholt wurde, und weil für die Masse Wiederholung soviel ist wie Beweis. Man zweifelte nicht daran, weil man Pyrots Schuld wünschte, weil man glaubt, was man wünscht, und endlich, weil die Fähigkeit zu zweifeln unter den Menschen selten ist. Eine winzige Schar von Geistern trägt den Keim in sich, aber der gedeiht nicht ohne Pflege. Die Fähigkeit, zu zweifeln, ist etwas Besonderes, sie ist erlesen, philosophisch, unsittlich, übersinnlich, ungeheuerlich, voller Bosheit, Personen und Sachen schädlich, der Staatspolizei und der Wohlfahrt der Reiche zuwider, ein Verhängnis für die Menschheit, eine Macht, die Götter zerstört, im Himmel und auf Erden wird sie verabscheut. Der große Haufe der Pinguine wußte vom Zweifel nichts; er glaubte an Pyrots Schuld, und dieser Glaube wurde alsbald ein Hauptartikel des nationalen Bekenntnisses, eine wesentliche Wahrheit des patriotischen Symbols.

Im verborgenen ward Pyrot gerichtet und abgeurteilt.

Sofort unterrichtete der General Panther den Kriegsminister über den Ausgang des Prozesses.

»Zum Glück,« sagte er, »waren die Richter ihrer Sache gewiß, denn Beweise waren nicht vorhanden.«

»Beweise,« murmelte Greatauk, »Beweise, was sollen die beweisen? Es gibt nur einen sicheren, unverrückbaren Beweis: Das Geständnis des Schuldigen. Hat Pyrot gestanden?«

»Nein, General.«

»Er wird gestehen; er ist dazu verpflichtet. Man muß ihn dazu bringen; sagen Sie ihm, daß er es in seinem Interesse tut. Versprechen Sie ihm, wenn er gesteht, so bekommt er Vergünstigungen, Strafnachlaß, wird er begnadigt. Versprechen Sie ihm, wenn er gesteht, wird man seine Unschuld anerkennen. Er soll dekoriert werden. Appellieren Sie an seine guten Gesinnungen. Aus Patriotismus soll er gestehen, der Fahne wegen, aus Ordnungsliebe, aus Respekt vor der Hierarchie, auf besonderen Befehl des Kriegsministers, aus Disziplin .... Aber sagen Sie mir, Panther, hat er denn nicht schon gestanden? Es gibt doch stillschweigende Geständnisse. Stillschweigen ist ein Geständnis.«

»Aber General, er schweigt ja nicht. Er schreit wie ein Zahnbrecher, daß er unschuldig ist.«

»Panther, das Geständnis eines Schuldigen geht zuweilen aus der Heftigkeit seines Leugnens hervor. Verzweifelt leugnen, heißt gestehen. Pyrot hat gestanden. Wir brauchen Zeugen seines Geständnisses, das fordert die Gerechtigkeit.«

In Westpinguinien gab es einen Seehafen, den man den Schlupfhafen nannte. Gebildet wurde er durch die drei kleinen Buchten, die einst von Schiffen besucht, jetzt versandet und öde waren. Von Fäulnis bedeckte Lagunen dehnten sich neben den Sandbänken und hauchten einen pestilenzialischen Geruch aus. Über das schlafende Wasser zog das Fieber. Dort am Meeresstrand ragte ein hoher viereckiger Turm, dem alten Campanile von Venedig ähnlich. Von seiner Seite, unter dem Giebel hing am Ende einer Kette, die in einen Querbalken geschmiedet war, ein offener Käfig herab, in den zur Drakonidenzeit die Inquisitoren von Alka die ketzerischen Geistlichen setzten. In diesen seit dreihundert Jahren leeren Käfig wurde Pyrot gesperrt. Sechzig Profoßen bewachten ihn, die im Turm wohnten und ihn bei Tag und Nacht nicht aus dem Auge ließen. Sie lauerten auf seine Geständnisse, um sie der Reihe nach dem Kriegsminister zu berichten; denn, gewissenhaft und klug, wollte Greatauk Geständnisse und Zu-Geständnisse. Greatauk, der für einen Esel galt, war in Wirklichkeit voller Weisheit und besaß in seltenem Maße Voraussicht.

Indessen wurde Pyrot von der Sonne verbrannt, von Moskitos zerfressen, von Regen, Hagel und Schnee überschwemmt, von der Kälte zu Eis gemacht, vom rasenden Sturm geschüttelt, vom Unheilskrächzen der Raben, die auf seinem Käfig hockten, gepeinigt. Er schrieb die Beteuerung seiner Unschuld mit einem Zahnstocher, den er in Blut tauchte, auf Fetzen seines Hemdes. Diese Fetzen gingen im Meer verloren oder fielen den Stockmeistern in die Hand. Einige jedoch bekam das Publikum zu Gesicht. Aber Pyrots Verwahrungen rührten niemand. Sein Geständnis war ja bekanntgegeben worden.


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