Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Zweites Kapitel

Drako der Große. – Überführung der Reliquien der heiligen Orberose

Die unmittelbare Nachkommenschaft Brians des Frommen erlosch gegen das Jahr 900 in der Person des Collie mit der kurzen Nase. Ein Vetter dieses Fürsten, Bosko der Großmütige, folgte ihm und war, um seinen Thron zu sichern, auf die Tötung aller seiner Verwandten bedacht. Von ihm stammte eine lange Reihe mächtiger Könige.

Einer von ihnen, Drako der Große, errang als Kriegsmann hohen Ruf. Er wurde öfter als die übrigen geschlagen. An dieser Hartnäckigkeit im Unterliegen erkennt man die großen Feldherrn. In zwanzig Jahren zündete er mehr als hunderttausend Weiler, Flecken, Vorstädte, Dörfer, Städte, Bürgerschaften und Universitäten an. Es war ihm gleich, ob er die Feuersbrunst über Feindesland trug oder in sein eigenes Gebiet. Und zur Erklärung seines Gehabens pflegte er zu sagen:

»Krieg ohne Brand, das ist soviel wie Kaldaunen ohne Mostrich; nämlich ein Dreck wert.«

Streng war seine Gerechtigkeit. Wenn die Bauern, die er gefangen nahm, kein Lösegeld zahlen konnten, hängte er sie an einen Baum, und wenn ein elendes Weib Milde für ihren unauslösbaren Mann von ihm erflehen wollte, so schleppte er sie am Haar nach an seines Rosses Schweif. Er lebte als Soldat, Schlaffheit war ihm fremd. Mit Vergnügen stellt man fest, daß seine Sitten rein waren. Er ließ sein Königreich den ererbten Ruhm nicht einbüßen, und noch im Mißgeschick hielt er die Ehre des Pinguinenvolkes mit starker Hand aufrecht.

Drako der Große hat die Reliquien der heiligen Orberose nach Alka übergeführt.

Der Leib der seligen Frau war in einer Grotte am Gestade der Schatten begraben, tief in duftender Heide. Die ersten Pilger, die den Ort besuchten, waren die jungen Burschen und Mädchen aus den Nachbardörfern. Sie gingen mit Vorliebe zur Abendzeit hin, gepaart, als strebten die frommen Gefühle von Natur, um sich zu befriedigen, zum Dunkel und zur Einsamkeit. Sie widmeten der Heiligen einen glühenden, verschwiegenen Kult, dessen Geheimnis sie eifersüchtig zu wahren schienen. Die Empfindungen, die sie dort hatten, sprengten sie ungern aus. Doch man überraschte sie, während sie einander Worte der Liebe, der Wonne, des Entzückens zuraunten, die sie mit dem Namen der heiligen Orberose vermischten. Die einen seufzten, dort vergesse man die Welt. Andere sagten, man verlasse die Grotte ruhigen, gestillten Bluts. Und die jungen Mädchen erinnerten einander an die Wonnen, die sie drinnen durchdrungen hatten.

Solche Wunder vollbrachte die Jungfrau von Alka im Morgenrot ihrer glorreichen Ewigkeit. Sie waren sanft und ungewiß wie der junge Tag. Bald verbreitete sich das Geheimnis der Grotte in der Gegend wie ein leiser Duft. Den reinen Seelen schuf es Heiterkeit und Erbauung, und die verderbten Menschen suchten umsonst durch Lüge und Verleumdung die Gläubigen vom Gnadenquell abzuwenden, der aus dem Grab der Heiligen floß. Die Kirche sorgte dafür, daß die Gnade nicht etlichen Kindern vorbehalten blieb, sondern sich in der ganzen pinguinischen Christenheit verbreitete. Mönche zogen in die Grotte ein, errichteten am Gestade ein Kloster, eine Kapelle, eine Herberge, und die Pilger begannen herbeizuströmen.

Wie durch längeren Himmelsaufenthalt gekräftigt, vollbrachte die selige Orberose jetzt größere Wunder zugunsten derer, die auf ihrem Grab ihre Spende niederlegten. Hoffnungen erweckte sie in bis dahin unfruchtbaren Frauen, Träume schickte sie den eifersüchtigen Greisen, sie über die Treue ihrer zu Unrecht beargwöhnten jungen Gattinnen zu beruhigen, fern hielt sie der Gegend Pest, Viehseuchen, Hungersnot, Stürme und die kappadozischen Drachen.

Doch während der Wirrnisse, die zur Zeit des Königs Collie und seiner Nachfolger das Reich verheerten, wurde das Grab der heiligen Orberose seiner Schätze beraubt, das Kloster eingeäschert, die Möncherei zerstreut. Der Weg, den so viele fromme Pilger niedergetreten hatten, verschwand unter Stechginster, Heidekraut und blauen Sanddisteln. Seit hundert Jahren besuchten nur noch Vipern, Wiesel und Fledermäuse das Grab. Da erschien die Heilige einem Bauern aus der Nachbarschaft mit Namen Momordic.

»Ich bin die Jungfrau Orberose,« sprach sie zu ihm. »Dich habe ich erwählt, mein Heiligtum wiederherzustellen. Gib den Bewohnern dieser Gegend kund, daß, wenn sie mein Andenken verschollen und mein Grab ungeehrt und unbeschenkt lassen, ein neuer Drache kommen wird, Pinguinien zu verheeren.«

Gelehrte Kleriker forschten dieser Erscheinung nach und überzeugten sich, daß sie echt war, nicht teuflisch, sondern rein himmlisch. Und später bemerkte man, daß in Frankreich bei ganz ähnlichen Umständen die heilige Fides und die heilige Katharina ebenso gehandelt und ähnliche Worte geredet hatten.

Bald wurde das Kloster wieder aufgerichtet, und neuerdings strömten die Pilger herzu. Die Jungfrau Orberose wirkte größere und größere Wunder. Sie heilte etliche sehr verderbliche Krankheiten, zumal den Klumpfuß, die Wassersucht, die Lähmung und den Veitstanz. Die Mönche, des Grabes Hüter, erfreuten sich eines neidenswerten Wohlstandes. Da erschien die Heilige König Drako dem Großen und befahl ihm, sie als Schutzheilige des Reiches anzuerkennen und ihre kostbaren Reste in die Kathedrale von Alka zu bringen.

Demgemäß wurden die wohlriechenden Reliquien der Jungfrau in großem Pomp zur hauptstädtischen Kirche gebracht und inmitten des Chores beigesetzt, in einem Schrein aus Gold und Schmelz, den kostbare Steine zierten.

Das Domkapitel verzeichnete die durch der seligen Orberose Hilfe gewirkten Wunder.

Drako der Große, der nie aufgehört hatte, den christlichen Glauben zu verteidigen und zu erhöhen, starb in den Empfindungen der lebhaftesten Frömmigkeit und vermachte der Kirche große Güter.


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