Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Viertes Buch: Die neue Zeit
Trinko

Erstes Kapitel

Die rote Jule

Aegidius Aucupis, der Erasmus der Pinguine, hatte sich nicht geirrt. Seine Zeit war die Zeit der freien Prüfung. Doch der große Mann faßte die Eleganz der Humanisten als Sanftheit der Sitten auf und ahnte die Wirkungen des geistigen Erwachens bei den Pinguinen nicht. Es rief die religiöse Reform hervor; die Katholiken schlachteten die Reformierten, die Reformierten schlachteten die Katholiken. Das waren die ersten Fortschritte der Gedankenfreiheit. In Pinguinien gewannen die Katholiken die Oberhand. Doch ohne daß sie es wußten, war der Geist des Prüfens in sie gedrungen. Sie vermählten Glauben und Vernunft und behaupteten, die Religion von den abergläubischen Bräuchen zu reinigen, die sie entehrten, wie man später die Kathedralen von den Buden befreite, die Schuhflicker, Kleinkrämer und Strumpfstopfer dort aufgemacht hatten. Das Wort Legende, das zuerst besagte, was der Gläubige lesen soll, hatte bald die Vorstellung frommer Fabeln und kindischer Märchen in sich.

Die heiligen Männer und Frauen litten unter diesem Geisteszustand. Ein kleiner Kanonikus zumal namens Princeteau, ein sehr strenger und hitziger Gelehrter, benannte eine so große Zahl von ihnen als unwert des Feierns, daß man ihn den Ausnehmer der Heiligennester hieß. Er glaubte nicht, daß das Gebet der heiligen Margaretha, als Kataplasma auf den Bauch kreißender Frauen gelegt, die Schmerzen des Gebärens stille.

Die ehrwürdige Schutzheilige Pinguiniens ist seiner herben Kritik nicht entgangen. Folgendes sagt er darüber in seinen »Altertümern von Alka«:

»Nichts ist ungewisser als die Geschichte und sogar die Existenz der heiligen Orberose. Ein alter und anonymer Chronist, der Mönch aus den Domben, berichtet, daß ein Weib namens Orberose vom Teufel in einer Höhle besessen ward, wohin noch zu seiner Zeit die jungen Dorfburschen und Dorfmädchen den Teufel und die schöne Orberose spielen gingen. Er setzt hinzu, daß diese Frau die Beischläferin eines schrecklichen Drachen wurde, der die Gegend verheerte. Das ist unglaublich, doch wie man sie seitdem erzählt hat, scheint die Geschichte der Orberose nicht viel glaubenswerter.

Hinter dem Leben dieser Heiligen vom Abt Simplicissimus liegen die angeblichen Ereignisse, die es berichtet, dreihundert Jahre zurück. Der Verfasser zeigt sich unerhört leichtgläubig und jeder Kritik bar.«

Der Verdacht heftet sich selbst an den übernatürlichen Ursprung der Pinguine. Der Historiker Ovidius Capito wagte es sogar, das Wunder ihrer Verwandlung zu leugnen. Folgendermaßen beginnt er seine »Pinguinischen Annalen«:

»Dichtes Dunkel hüllt diese Geschichte ein, und man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß sie ein Gewebe kindischer Märchen und volkstümlicher Erzählungen ist. Die Pinguine geben vor, sie stammten von den Vögeln, die der heilige Maël taufte, und die Gott durch jenes ruhmvollen Apostels Vermittlung in Menschen umgewandelt habe. Sie lehren, daß ihre Insel zuerst im Eismeer lag und, schwimmend gleich der Insel Delos, in den vom Himmel geliebten Meeren sich verankert habe, deren Königin sie heute ist. Ich mutmaße, daß diese Sage an die vor Alters geschehenen Wanderzüge der Pinguine erinnert.«

Im nächsten Jahrhundert, dem der Philosophen, wurde der Skeptizismus schärfer. Zum Beweis soll mir nur der berühmte Passus des »Moralischen Essays« gelten:

»Von irgendwoher gekommen (denn ihr Ursprung ist eben nicht klar), von nach und nach vier bis fünf Völkern des Südens, des Westens, des Ostens, des Nordens überfallen und unterworfen; gekreuzt, mit Bastarden durchsetzt, amalgamiert, umgeschüttelt, rühmen sie die Reinheit ihrer Rasse, und sie haben recht, denn sie sind eine reine Rasse geworden. Dieses rote, schwarze, gelbe, weiße Gemisch aller Menschheiten, von Rundköpfen und Langköpfen hat im Lauf der Jahrhunderte eine genügend homogene Menschenfamilie gebildet, die an gewissen Charakteren erkenntlich sind, welche der Gemeinschaft des Lebens und der Sitten verdankt werden. Die Vorstellung, daß sie der schönsten Rasse der Welt angehören und deren schönste Familie sind, flößt ihnen hohen Stolz ein, unbezähmbaren Mut und Haß gegen das Menschengeschlecht.

Das Leben eines Volkes ist nur ein Gespinst von Elend, Verbrechen und Wahnwitz. Von der pinguinischen Nation gilt das wie von allen Nationen. Im übrigen ist ihre Geschichte von einem Ende bis zum anderen der Bewunderung wert.«

Die beiden klassischen Jahrhunderte der Pinguine sind zu bekannt, als daß ich bei ihnen verweilen müßte. Doch unzulänglich ist darauf geachtet worden, wie die rationalistischen Theologen nach Art des Kanonikus Princeteau zur Entstehung der Ungläubigen im folgenden Jahrhundert beitrugen. Die ersten benutzten ihre Vernunft, um alles zu zerstören, was ihnen für die Religion unwesentlich schien, nur die Artikel des strikten Glaubens tasteten sie nicht an. Ihre geistigen Nachfolger, die im Gebrauch der Wissenschaft und der Vernunft von ihnen unterwiesen waren, nutzten sie gegen alle Glaubensreste. Die Vernunfttheologie hat die Naturphilosophie erzeugt.

Deshalb kann man (wenn ich von den einstigen Pinguinen zu dem souveränen Pontifex übergehen darf, der heute die allgemeine Kirche beherrscht) nicht genug die Weisheit des Papstes Pius des Zehnten bewundern, der die exegetischen Studien verdammt hat, weil sie der geoffenbarten Wahrheit zuwider, der guten theologischen Doktrin verhängnisvoll und für den Glauben tödlich seien. Wenn sich religiöse Männer finden, die gegen ihn die Rechte der Wissenschaft wahren, so sind sie Doktoren des Verderbens und Lehrmeister der Pestilenz. Und wenn ein Christ ihnen zustimmt, so ist er, falls er nicht ein Strohkopf ist, gewiß ein Ketzer.

Am Ende des Philosophenjahrhunderts wurde die alte Herrschaftsform Pinguiniens von Grund auf zerstört. Der König wurde umgebracht, die Vorrechte des Adels abgeschafft und inmitten der Wirren, unter den Schlägen eines entsetzlichen Krieges, die Republik ausgerufen. Die Versammlung, die Pinguinien damals leitete, befahl, alle in den Kirchen enthaltenen Metallarbeiten sollen eingeschmolzen werden. Die Patrioten schändeten die Königsgräber. Man erzählt, daß in seinem geöffneten Sarg Drako der Große schwarz wie Ebenholz und so majestätisch erschien, daß die Schänder voll Entsetzen flohen. Nach anderen Zeugnissen steckten die groben Menschen ihm eine Pfeife in den Mund und hielten ihm zum Hohn ein Glas Wein hin.

Am siebzehnten Tag des Blumenmonds wurde der Schrein der heiligen Orberose, der seit fünf Jahrhunderten in der Kirche des heiligen Maël der Verehrung des Volkes dargeboten worden war, in das Stadthaus geschafft und den von der Gemeinde bestimmten Sachverständigen unterbreitet. Der Schrein war aus vergoldetem Kupfer, hatte die Gestalt eines Kirchenschiffs und war mit Schmelz bedeckt und mit Edelsteinen geziert, die man als falsch erkannte. In seiner Voraussicht hatte das Kapitel die Rubinen, Saphire, Smaragde und die großen Kugeln von Felskristall beseitigt und Glasstücke dafür eingesetzt. Der Schrein enthielt nur ein wenig Staub und alte Wäschefetzen, die man in ein großes Feuer warf, das man zur Verbrennung der Heiligenreliquien auf der Place de Grève angezündet hatte. Das Volk umtanzte es und sang dabei patriotische Lieder.

Von der Schwelle ihrer am Stadthaus klebenden Bude betrachteten der rote Hans und die rote Jule diesen verrückten Reigen. Der rote Hans schor Hunde und verschnitt Katzen; er suchte die Schenken ab. Die rote Jule war Strohflechterin und Kupplerin; sie war nicht dumm.

»Du siehst, roter Hans,« sprach sie zu ihrem Mann, »sie begehen Heiligtumsschändung. Sie werden das noch bereuen.«

»Davon verstehst du nichts, Weib,« erwiderte der rote Hans. »Sie sind Philosophen geworden, und wenn man Philosoph ist, so ist man's fürs ganze Leben.«

»Ich sage dir, roter Hans, daß sie früher oder später bereuen werden, was sie heute tun. Sie mißhandeln die Heiligen, die ihnen nicht genug geholfen haben. Aber die Tauben fliegen ihnen darum noch nicht gebraten ins Maul. Sie werden ebensolche Bettler sein wie zuvor, und wenn sie die Zunge oft genug herausgesteckt haben, dann werden sie wieder fromm. Ein Tag wird kommen – und er ist näher, als man glaubt – da wird Pinguinien wieder anfangen, seine gebenedeite Schutzheilige zu ehren. Roter Hans, es wäre klug, wollten wir für diesen Tag in unserer Wohnung, auf dem Boden eines alten Topfes eine Handvoll Asche, ein paar Knochen und Fetzen aufbewahren. Wir werden sagen, das seien die Reliquien der heiligen Orberose, die wir mit Lebensgefahr aus den Flammen gerettet haben. Ich müßte mich sehr irren, wenn uns nicht Ehre und Nutzen davon zuteil wird. Diese gute Handlung kann uns im Alter dazu helfen, daß der Herr Pfarrer uns aufträgt, in der Kapelle der heiligen Orberose Kerzen zu verkaufen und Stühle zu vermieten.«

Am selben Tage nahm die rote Jule aus ihrem Herd ein bißchen Asche und ein paar abgenagte Knochen und steckte sie in einen alten Einmachetopf auf dem Schrank.


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