Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Siebentes Buch: Die neue Zeit Frau Ceres

Nur die Extreme sind erträglich.
Graf Robert von Montesquieu

Erstes Kapitel

Der Salon der Frau Clarence

Frau Clarence, die Witwe eines hohen Beamten der Republik, hielt viel auf Empfänge. Jeden Donnerstag vereinte sie ein paar Freunde, die in bescheidenen Verhältnissen lebten und gern plauderten. Alle die Damen, die bei ihr verkehrten, hatten, so verschieden sie nach Alter und Stand waren, kein Geld, und alle hatten sie viel erduldet. Eine Herzogin war darunter, die wie eine Kartenlegerin aussah, und eine Kartenlegerin, die einer Herzogin glich. Frau Clarence, die noch schön genug war, um zarte Bande von früher nicht lösen zu müssen, war es nicht mehr in hinreichendem Maß, um neue Fesseln zu schlingen, und erfreute sich friedlicher Wertschätzung. Sie hatte eine sehr hübsche, mitgiftlose Tochter, vor der die Gäste Angst hatten (denn die Pinguine fürchteten arme Mädchen wie das Feuer). Eveline Clarence ward ihrer Zurückhaltung inne, spürte den Grund und reichte ihnen mit verächtlicher Miene den Tee. Übrigens zeigte sie sich bei den Empfängen wenig und plauderte nur mit den Damen oder den sehr jungen Leuten. Ihr abgekürztes, verschwiegenes Erscheinen belästigte die Redenden nicht, die dachten, ein junges Mädchen von fünfundzwanzig Jahren begreife entweder nicht oder es dürfe alles hören.

Eines Donnerstags also sprach man im Salon der Frau Clarence von der Liebe. Die Damen sprachen stolz, zart und geheimnisvoll von ihr, die Männer mit Neugier und in albernem Ton. Jeder interessierte sich für das Gespräch um dessentwillen, was er dabei sagte. Man verschwendete viel Geist; man warf mit glänzenden Apostrophen und lebhaften Entgegnungen um sich. Doch wenn Professor Haddock zu reden begann, langweilte er die ganze Gesellschaft tödlich.

»Mit unseren Gedanken über die Liebe,« sprach er, »verhält es sich wie mit allem sonst. Sie beruhen auf Gewohnheiten der Vergangenheit, an die sogar das Erinnern entschwunden ist. In sittlichen Dingen werden die Vorschriften, die ihren Daseinsgrund verloren haben, die nutzlosesten Pflichten, der schädlichste, grausamste Zwang gerade ihrer tiefen Altertümlichkeit und ihres geheimnisvollen Ursprungs halber am wenigsten bestritten. Sie sind am wenigsten bestreitbar, sie werden am wenigsten geprüft, am meisten verehrt, am meisten geachtet, und man kann sie nicht übertreten, ohne sich den strengsten Tadel zuzuziehen. Die gesamte Geschlechtsmoral ist aus dem Grundsatz herzuleiten, daß das einmal erworbene Weib dem Mann gehört, daß es sein Eigentum ist wie sein Pferd und seine Waffen. Und daraus, daß dies nicht mehr zutrifft, entsteht solcher Widersinn wie die Ehe oder der Kaufkontrakt eines Weibes mit einem Mann, mit Klauseln, die das Eigentumsrecht beschränken und infolge der allmählichen Schwächung des Besitzers eingeführt worden sind.

Die einem Mädchen auferlegte Verpflichtung, dem Gatten ihre Jungfernschaft ins Haus zu bringen, entstammt der Zeit, wo die Töchter, sobald sie mannbar waren, geheiratet wurden. Es ist lächerlich, daß ein Mädchen, das mit fünfundzwanzig bis dreißig Jahren eine Ehe schließt, dieser Verpflichtung unterworfen ist. Sie werden sagen, das sei ein Geschenk, worüber ihr Gatte, wenn ihr endlich einer in den Weg läuft, sich geschmeichelt fühlt. Doch wir sehen beständig, wie die Männer verheiratete Frauen suchen, und wie zufrieden sie offenbar sind, sie in dem Zustand, in dem sie sie finden, zu nehmen.

Noch heute wird die Pflicht der Mädchen in der religiösen Moral durch den alten Glauben bestimmt, daß Gott, der mächtigste Kriegshauptmann, Vielweiberei treibt, daß er alle Jungfernschaften sich vorbehält, und daß man nur nehmen kann, was er belassen hat. Dieser Glaube, dessen Spuren noch in etlichen Metaphern der mystischen Sprache geblieben sind, ist heute bei den meisten zivilisierten Völkern verschollen. Doch herrscht er noch in der Mädchenerziehung, nicht bloß bei unseren Gläubigen, auch bei unseren Freidenkern, die gewöhnlich nicht frei denken, weil es ein Freidenken bei ihnen gar nicht gibt. Vernünftig heißt mit wissender Vernunft ausgestattet. Man sagt, ein Mädchen sei vernünftig, wenn es gar nichts weiß. Man pflegt seine Unwissenheit. Und trotz aller Sorgfalt sind die Vernünftigsten wissend, denn man kann ihnen weder ihre eigene Natur verhehlen, noch ihre eigenen Zustände, noch ihre eigenen Empfindungen. Doch sie haben ein schlechtes, ein verkehrtes Wissen. Das ist alles, was man durch aufmerksame Pflege erreichen kann.«

»Mein Herr,« sprach plötzlich der General-Rentmeister von Alka, Joseph Boutourlé, mit finsterer Miene, »glauben Sie mir: es gibt unschuldige Mädchen, völlig unschuldige Mädchen, und das ist ein großes Elend. Drei habe ich gekannt; sie heirateten; es war schrecklich. Die eine sprang, als ihr Gatte sich ihr näherte, entsetzt aus dem Bett und schrie zum Fenster hinaus: ›Zu Hilfe! der Herr ist verrückt geworden!‹ Eine andere wurde am Tag nach ihrer Hochzeit im Hemd auf dem Spiegelschrank gefunden und wollte nicht herunter. Die dritte erlebte dieselbe Überraschung, doch sie duldete alles ohne zu klagen. Nur einige Wochen nach ihrer Heirat flüsterte sie ihrer Mutter ins Ohr: ›Zwischen meinem Mann und mir gehen unerhörte Sachen vor, Sachen, die niemand ahnen kann, die ich nicht einmal dir erzählen darf‹ Um ihre Seele zu retten, enthüllte sie ihr Geheimnis ihrem Beichtvater, und von ihm erfuhr sie, vielleicht mit einer gewissen Enttäuschung, daß jene Sachen gar nichts Außerordentliches wären.«

»Ich habe bemerkt,« fuhr Professor Haddock fort, »daß die Europäer im allgemeinen und die Pinguine im besonderen vor der Zeit des Sports und der Automobile sich mit nichts so sehr beschäftigten als mit der Liebe. Das hieß einem gleichgültigen Gegenstand sehr große Bedeutung beimessen.«

»Also, mein Herr,« rief Frau Crémeur atemlos, »wenn eine Frau sich völlig hingibt, das finden Sie bedeutungslos?«

»Nein, gnädige Frau, es kann schon von Bedeutung sein,« entgegnete Professor Haddock. »Nur müßte man wissen, ob sie, wenn sie sich hingibt, einen köstlichen Garten schenkt oder einen Ort voller Disteln und Löwenzahn. Wird nicht das Wort ›geben‹ auch ein wenig mißbraucht? In der Liebe gibt eine Frau sich eher als Darlehen denn als Geschenk. Die schöne Frau Pensée zum Beispiel ...«

»Sie ist meine Mutter!« sprach ein großer blonder junger Mann.

»Ich schätze sie unendlich hoch, mein Herr,« erwiderte Professor Haddock. »Fürchten Sie nicht, daß ich ein einziges Wort über sie rede, das sie irgendwie kränken könnte. Doch gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen: Die Ansicht der Söhne über ihre Mütter ist unhaltbar. Sie bedenken zu wenig, daß eine Mutter nur deshalb Mutter ist, weil sie geliebt hat und noch zu lieben vermag. Und doch ist dem so, und es wäre ein Jammer, wenn es anders wäre. Hingegen habe ich bemerkt, daß die Töchter sich über die Liebesfähigkeit der Mütter und die Art, wie sie sie verwerten, nicht täuschen. Sie sind Nebenbuhlerinnen; sie haben den Blick für so etwas.«

Der gräßliche Professor sprach noch lange. Er fügte unpassende Sätze zu ungeschickten, Dreistigkeit zu Unhöflichkeit, er häufte die ungereimten Behauptungen, indem er verachtete, was man schätzen, schätzte, was man verachten soll. Aber niemand hörte ihm zu.

Indessen saß Eveline Clarence in ihrer einfachen, der Anmut baren Stube, die traurig und liebeleer war und, gleich allen Stuben junger Mädchen, kalt wie ein Wartezimmer. Sie schlug Jahresberichte von Klubs und Kataloge von geistlichen Stiftungen nach, um dort Kenntnis vom Leben der höheren Stände zu erwerben. Sie war sicher, daß ihre Mutter auf eine nur im Geist bestehende, arme Gesellschaft eingeengt war, daß sie nie durch jene zur Geltung kommen und hervortreten könnte. So beschloß sie, sich den für ihre Pläne nötigen Umkreis selbst zu suchen, hartnäckig und ruhig, ohne Träume und Trugbilder. In der Ehe sah sie nur den Einsatz zum Spiel, die Paßkarte, und sie wahrte sich das klarste Bewußtsein der Zufälle, der Schwierigkeiten und der Aussichten, die ihr beschieden sein würden. Sie besaß die Mittel, zu gefallen, und eine Kälte, vermöge deren sie sie niemals preisgab. Ihre einzige Schwäche war, daß sie, was aristokratisch schien, nur mit geblendeten Augen schauen konnte. Als sie endlich mit ihrer Mutter allein blieb, sagte sie: »Mama, morgen gehn wir zum stillen Gottesdienst des Paters Douillard.«


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