Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Fünftes Kapitel

Die ehrwürdigen Patres Agaric und Cornemuse

Überrascht und ergeben trug Colomban die Wucht der allgemeinen Mißbilligung. Er konnte nicht aus dem Haus, ohne daß man ihn steinigte; drum ging er gar nicht mehr aus. Er schrieb in seinem Arbeitszimmer mit großartigem Starrsinn eine neue Denkschrift zugunsten des Unschuldigen, der im Käfig saß. Doch von den wenigen Lesern, die er fand, prägten doch etlichen, einem Dutzend, seine Gründe sich lebhaft ein, und sie begannen, an Pyrots Schuld zu zweifeln. Sie teilten sich ihrer Umgebung mit und bemühten sich, das Licht, das in ihnen geboren ward, zu vergrößern. Einer von ihnen war ein Freund des Robin Mielleux, dem er seine Bestürzung anvertraute, und der ihn hinfort nicht mehr empfing. Ein anderer bat in offenem Brief den Kriegsminister um Aufklärung. Ein dritter veröffentlichte ein schreckliches Pamphlet; dieser, Kerdanic, war der gefürchtetste Polemiker. Dem Publikum ward ganz dumm davon. Man sagte, diese Verteidiger des Verräters ständen im Solde der Großjuden. Man brandmarkte sie mit dem Namen Pyrotiner, und die Patrioten leisteten den Schwur, sie zu vertilgen. In der weiten Republik gab es nur tausend bis zwölfhundert Pyrotiner. Überall glaubte man welche zu erblicken. Man hatte Furcht, auf den Promenaden welche zu treffen, in den Versammlungen, in den Vereinen, in den gesellschaftlichen Salone, am Familientisch, im Ehebett. Die Hälfte der Bevölkerung war für die andere Hälfte verdächtig. Zwietracht setzte Alka in Brand.

Nun beobachtete der Pater Agaric, der eine große Schule für junge Adlige leitete, die Geschehnisse mit ängstlicher Spannung. Das Unglück der pinguinischen Kirche hatte ihn nicht gebeugt; er blieb dem Prinzen Crucho treu und der Hoffnung, den Erben der Drakoniden wieder auf Pinguiniens Thron zu setzen. Die Ereignisse, die sich im Lande vollzogen oder vorbereiteten, der Geisteszustand, deren Folge und Ursache sie zugleich waren, die Wirren, ihr notwendiges Resultat, könnten – so schien es ihm – mit der tiefen Weisheit eines Mönches gelenkt, geführt, auf Wege und Umwege gebracht, die Republik erschüttern und die Pinguine für die Wiedereinsetzung des Prinzen Crucho gewinnen, dessen Frömmigkeit den Gläubigen Trost versprach. Er stülpte sich seinen großen, schwarzen Hut auf, dessen Rand den Flügeln der Nacht glich, und ging durch den Kaninchenwald zu der Fabrik, worin sein ehrwürdiger Freund, der Pater Cornemuse, den hygienischen Likör der heiligen Orberose brannte. Der Erwerb des guten Mönches, der zur Zeit des Emirals Chatillon so grausam heimgesucht worden war, blühte aus den Ruinen neu empor. Man hörte die Warenzüge durch den Wald rollen und sah unter den Schuppen Hunderte von blauen Waisenkindern Flaschen einwickeln und Kisten vernageln.

Agaric fand den ehrwürdigen Cornemuse vor seinem Ofen, inmitten der Retorten. Die gleitenden Augäpfel des Greises hatten ihren alten Rubinglanz. Sein blanker Schädel war wieder lieblich und köstlich.

Zuerst beglückwünschte Agaric den frommen Schnapsbrenner ob der Tätigkeit, die in seinen Laboratorien und Werkstätten neu erstand.

»Das Geschäft geht allmählich wieder, Gott sei Dank,« entgegnete der Greis aus dem Kaninchenwald. »Ach, es war schon sehr gesunken, Bruder Agaric. Sie haben gesehen, wie trostlos es hier in der Anstalt war. Ich will nicht mehr davon reden.«

Agaric drehte den Kopf weg.

»Der Likör der heiligen Orberose,« fuhr Cornemuse fort, »erlebt neue Triumphe. Und doch bleibt mein Erwerb ungewiß und fragwürdig. Die Gesetze der Zerstörung und der Trostlosigkeit, die ihn heimgesucht haben, sind nicht abgeschafft, sie sind nur vorläufig aufgehoben.«

Und der Mönch vom Kaninchenwald blickte mit seinen rubinroten Augäpfeln gen Himmel.

Agaric legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Welches Schauspiel, Cornemuse, bietet uns das arme Pinguinien! Überall Ungehorsam, Unabhängigkeit, Freiheit! Wir sehen die Stolzen, die Hochmütigen, die Rebellen sich erheben. Nachdem sie Gottes Gesetzen trotzten, lehnen sie sich gegen die menschlichen Gesetze auf. So wahr ist es, daß man ein guter Christ sein muß, um ein guter Bürger zu sein. Colomban will dem Satan nachtun. Viele Verbrecher folgen seinem ruchlosen Beispiel. In ihrer Wut möchten sie alle Schranken zerbrechen, jede Fessel abschütteln, sich von den heiligsten Banden befreien, sich dem heilsamsten Zwang entziehen. Sie mißhandeln ihr Vaterland, damit es ihnen zu Willen ist. Doch sie werden der öffentlichen Abneigung, Brandmarkung, Entrüstung, Empörung, Verfluchung und Verdammnis ausgeliefert werden. In diesen Abgrund hat sie die Gottlosigkeit gestürzt, der freie Gedanke, die freie Prüfung, die ungeheuerliche Anmaßung, selbst zu urteilen, eine eigene Meinung zu haben.«

»Sehr richtig, sehr richtig,« entgegnete der Pater Cornemuse und schüttelte den Kopf. »Doch ich muß Ihnen gestehen, das Geschäft, Heilkräuter zu destillieren, hat mich der Politik entfremdet. Ich weiß nur, daß man viel von einem gewissen Pyrot spricht. Die einen behaupten, er sei schuldig, die anderen versichern seine Unschuld, und mir sind die Gründe nicht klar, warum jede dieser Parteien sich mit einem Fall beschäftigt, der keine etwas angeht.«

Lebhaft fragte der fromme Agaric:

»Sie zweifeln doch nicht an Pyrots Verbrechen?«

»Ich kann daran nicht zweifeln, teuerster Agaric,« erwiderte der Mönch aus dem Kaninchenwald. »Das wäre ja ein Verstoß gegen die Landesgesetze, die man achten muß, sofern sie nicht gegen Gottes Gesetze sich wenden. Pyrot ist schuldig, da er verurteilt ist. Mehr für oder gegen seine Schuld zu sagen, das hieße meine Autorität an Stelle der richterlichen setzen, und davor werde ich mich hüten. Es ist auch unnütz, da Pyrot verurteilt worden ist. Wenn er nicht verurteilt worden ist, weil er schuldig ist, so ist er schuldig, weil er verurteilt ist; das kommt aufs nämliche hinaus. Ich glaube an seine Schuld, wie jeder gute Bürger an sie zu glauben hat; und ich werde daran glauben, solange die verordnete Gerechtigkeit es mir befiehlt, denn nicht einem Privatmann, sondern dem Richter steht es zu, die Unschuld eines Verurteilten zu verkünden. Die menschliche Gerechtigkeit muß sogar in den Irrtümern, die ihrer fehlbaren, begrenzten Natur anhaften, geachtet werden. Diese Irrtümer sind niemals unaufhebbar; heben die irdischen Richter sie nicht auf, so wird Gott im Himmel es bewirken. Übrigens hege ich zum General Greatauk festes Vertrauen. Mir scheint, ohne daß man es ihm anmerkt, ist er klüger, als seine sämtlichen Widersacher.«

»Teuerster Cornemuse,« rief der fromme Agaric, »wenn wir den Fall Pyrot soweit bringen, wie es mit Gottes Hilfe und den notwendigen Geldern möglich ist, so wird der Handel uns von größtem Nutzen sein. Er wird die Laster der antichristlichen Republik aufdecken und die Pinguine der Wiederherstellung des Drakonidenthrones und der kirchlichen Vorrechte geneigt stimmen. Dann aber muß das Volk seine Leviten in der ersten Reihe seiner Schützer sehen. Wir wollen gegen die Feinde der Armee, gegen die Beleidiger der Helden marschieren, und alle werden mit uns ziehn.«

»Alle, das wäre zuviel,« murmelte unter mißbilligenden Kopfbewegungen der Mönch aus dem Kaninchenwald. »Ich sehe, daß die Pinguine Lust haben, sich zu zanken. Mengen wir uns in ihren Streit, so werden sie sich uns zum Schaden versöhnen, und wir bezahlen die Kriegskosten. Deshalb, teuerster Agaric, hören Sie auf mich und verwickeln Sie die Kirche nicht in dieses Abenteuer.«

»Sie kennen meine Tatkraft; Sie kennen meine Klugheit. Ich werde nichts aufs Spiel setzen ... Teuerster Cornemuse, nur die zur Eröffnung unseres Feldzugs nötigen Summen möchte ich von Ihnen haben.«

Lange sträubte sich Cornemuse, mit seinem Geld für ein Unternehmen zu büßen, das ihm verhängnisvoll schien. Agaric redete bald pathetisch, bald furchtbar. Endlich ergab Cornemuse sich den Bitten, den Drohungen. Mit schleppendem Gang, gebeugten Haupts suchte er seine strenge Zelle auf, in der alles von evangelischer Armut sprach. In die weißgetünchte Wand, unter einen geweihten Buchsbaumzweig, war eine feuersichere Truhe eingelassen. Seufzend klappte er den Deckel hoch und entnahm dem Behältnis ein Päckchen Wertpapiere, die er, mit gekrümmtem Arm und zögernder Hand, dem frommen Agaric reichte.

»Seien Sie des gewiß, teuerster Cornemuse,« sagte dieser und versenkte die Papiere in die Tasche seines wattierten Mantels, »diesen Fall Pyrot hat uns Gott zur Ehre und zur Erhöhung der Kirche von Pinguinien geschickt.«

»O hätten Sie recht!« seufzte der Mönch aus dem Kaninchenwald.

Und als er in seiner Werkstatt allein war, betrachtete er mit seinen köstlichen Augen voll unsäglicher Trauer seine Öfen und Retorten.


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