Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Fünftes Kapitel

Die Künste: Die Primitiven der pinguinischen Malerei

Die pinguinischen Kritiker beteuern um die Wette, daß die pinguinische Malerei von ihrer Entstehung an sich durch machtvolle, köstliche Originalität auszeichnete, und daß man jene Anmut und jenes geistige Maß, die ihre ersten Werke charakterisieren, außer ihr vergebens suchen würde. Die Marsuine indes behaupten, daß ihre Künstler stets die Anreger und Meister der Pinguine waren. Schwer ist es, darüber zu urteilen, da die Pinguine, eh sie ihre primitiven Maler bewunderten, ihre Werke zerstörten.

Diesem Verlust kann man nicht genug nachtrauern. Ich für mein Teil empfinde ihn mit quälender Heftigkeit, denn ich verehre die pinguinischen Altertümer und bekenne mich zum Kult der Primitiven.

Sie sind köstlich. Ich sage nicht, daß sie alle sich gleichen. Das wäre nicht wahr. Aber sie haben ein gemeinsames Wesen, das man in sämtlichen Schulen wiederfindet. Ich meine Formeln, die sie nicht verlassen, und eine Art von Vollendung; denn was sie können, das können sie gut. Zum Glück hat man von den pinguinischen Primitiven einen Begriff nach den italienischen, flämischen, deutschen und nach den französischen Primitiven, die allen anderen überlegen sind; wie Herr Gruyer sagt, haben sie mehr Logik, da die Logik eine angestammte französische Eigenschaft ist. Wollte man versuchen, dies zu leugnen, so müßte man Frankreich wenigstens den Vorzug einräumen, daß es Primitive noch hatte, als die übrigen Nationen keine mehr besaßen. Die Ausstellung der französischen Primitiven im Pavillon de Marsan (1904) enthielt mehrere kleine Tafeln, die der Zeit der letzten Valois und Heinrichs des Vierten angehörten.

Ich habe manche Reise gemacht, um die Gemälde der Brüder Van Eyck, Memlings, Rogers van der Weyden, des Meisters vom Tode Mariä, des Ambrogio Lorenzetti und der alten Umbrier zu sehen. Doch weder in Brügge noch in Köln, weder in Siena noch in Perugia kam meine Einweihung zum Schluß. In der kleinen Stadt Arezzo ward ich ein wissender Adept der naiven Malerei. Zehn Jahre oder noch länger ist es her. In jener Zeit der Dürftigkeit und der Einfalt wurden die Museen der Gemeinden, die stets verschlossen sind, den forestieri zu jeder Stunde geöffnet. Eines Tags zeigte mir eine Alte beim Kerzenschein für eine halbe Lira das schmutzige Museum von Arezzo, und ich entdeckte dort ein Bild des Margaritone, einen heiligen Franziskus, vor dessen frommer Traurigkeit mir Tränen kamen. Ich war tief gerührt. Seitdem ward Margaritone von Arezzo mir der liebste unter den Primitiven.

Nach den Werken dieses Meisters stelle ich mir die pinguinischen Primitiven vor. Man wird also nicht für überflüssig erachten, daß wir ihn hier mit einer gewissen Aufmerksamkeit prüfen, zwar nicht in den Einzelheiten seiner Werke, doch unter ihrem allgemeinsten und, wenn ich so sagen darf, repräsentativsten Aspekt.

Wir besitzen fünf bis sechs von seiner Hand gezeichnete Gemälde. Sein Hauptwerk, das in der Londoner National Gallery aufbewahrt wird, zeigt die Jungfrau auf einem Thron sitzend und das Jesuskind in den Händen haltend. Zuerst ist man beim Anblick dieser Figur über die Verhältnisse betroffen. Vom Hals bis zu den Füßen ist der Leib nur doppelt so hoch wie der Kopf; daher erscheint er äußerst kurz und gedrungen. Dieses Bild ist seiner Malerei wegen nicht minder merkwürdig als ob seiner Zeichnung. Der große Margaritone besaß nur ein paar Farben, und diese wandte er in voller Reinheit an, ohne je den Ton zu brechen. So ist sein Kolorit eher grell als harmonisch. Die Wangen der Jungfrau und des Kindes haben ein schönes Zinnoberrot, das der alte Meister aus naiver Vorliebe für deutliche Umrisse auf jedes Antlitz in zwei runden Flecken aufgetragen hat, die so genau sind, daß sie abgezirkelt scheinen.

Ein gelehrter Kritiker des achtzehnten Jahrhunderts, der Abt Lanzi, hat Margaritones Werke sehr geringschätzig behandelt. »Es sind,« so hat er geäußert, »nur plumpe Schmierereien. In dieser unglücklichen Epoche konnte man weder zeichnen noch malen.« Dies war die übereinstimmende Ansicht der gepuderten Kenner. Doch der große Margaritone und seine Zeitgenossen sollten bald für eine so grausame Verachtung gerächt werden. Im neunzehnten Jahrhundert wurden in den biblischen Dörfern und reformierten Landhäuschen des frommen Englands viele kleine Samuels und Sankt Johannesse geboren, mit dem Kräuselhaar von Lämmern, die gegen 1840 und 1850 bebrillte Gelehrte wurden und den Kult der Primitiven begründeten.

Der hervorragende Theoretiker des Präraffaelismus, Sir James Tuckett, trägt kein Bedenken, der Madonna der National Gallery den Rang eines Meisterwerkes der christlichen Kunst zuzuweisen. »Indem der alte Meister,« sagt Sir James Tuckett, »dem Kopf der Jungfrau ein Drittel der Gesamthöhe der Figur gab, hat er des Betrachters Blick auf die sublimsten Teile der menschlichen Person und zumal auf die Augen gelenkt, die man gern geistige Organe nennt. In dieser Malerei verbinden sich Kolorit und Zeichnung zu idealem, mystischem Eindruck. Das Zinnoberrot der Wangen erinnert nicht an das natürliche Aussehen der Haut. Vielmehr scheint es, als habe der alte Meister die Gesichter der Jungfrau und des Kindes mit den Rosen des Paradieses gefärbt.«

Von einer solchen Kritik strahlt gleichsam der Glanz des Werkes, das sie preist, zurück. Doch hat der seraphische Ästhet von Edinburg, Mac Silly, den Eindruck dieses mächtigen Bildes auf seinen Geist noch sensibler und tiefer beschrieben. »Die Madonna der Margaritone,« sagt der verehrte Mac Silly, »erreicht das transzendente Ziel der Kunst. In ihren Betrachtern erregt sie Gefühle der Unschuld und der Reinheit; sie macht sie den kleinen Kindern ähnlich. Und dies ist so wahr, daß ich im Alter von siebzig Jahren, nachdem ich die Freude gehabt hatte, sie drei Stunden lang scharf zu betrachten, mich plötzlich in einen zarten Säugling umgewandelt fühlte. Indes ein Cab mich über den Trafalgar Square fuhr, schwang ich mein Brillenfutteral wie eine Kinderklapper, lachend und zwitschernd. Und als das Mädchen in meiner Familienpension mir mein Essen aufgetragen hatte, goß ich mir Suppe löffelweis ins Ohr, mit des ersten Lebensalters Naivität.«

»An solchen Wirkungen,« fügt Sir Mac Silly hinzu, »erkennt man ein außerordentliches Kunstwerk.«

Margaritone ist nach Vasari siebenundsiebzig Jahre alt gestorben, mit dem Bedauern, daß er es noch erlebt hatte, wie eine neue Kunst entstand und neue Künstler der Ruhm krönte.

Diese Zeilen, die ich buchstäblich übersetze, haben Sir James Tuckett zu den vielleicht lieblichsten Seiten seines Werkes begeistert. Sie stehen im Ästhetenbrevier, und alle Ästheten wissen sie auswendig. Ich will sie als dieses Buches köstlichsten Schmuck anführen. Einmütig gesteht man, daß seit Israels Prophetenbüchern nichts Erhabeneres geschrieben worden ist.

Die Vision der Margaritone

Von Jahren und Mühsal beladen, kam Margaritone eines Tages in die Werkstatt eines jungen Malers, der kürzlich erst in der Stadt Wohnung bezogen hatte. Dort sah er eine noch frische Madonna, die, streng zwar und starr, durch eine gewisse Genauigkeit der Abmessungen und ein fast teuflisches Gemisch von Licht und Schatten doch Relief erhielt und einen Schein des Lebens. Bei diesem Anblick entdeckte der naiv-erhabene Handwerker von Arezzo schaudernd die Zukunft der Malerei.

Die Stirn in die Hände pressend, murmelte er: »Welche Schmach läßt diese Figur mich ahnen! Ich gewahre darin das Ende der christlichen Kunst, die Seelen malt und glühendes Verlangen nach dem Himmel erweckt. Die künftigen Maler werden sich nicht damit begnügen, wie dieser hier auf einem Stück Mauer oder einer Holztafel an die verdammte Materie zu erinnern, aus der unsre Leiber gebildet sind. Sie werden sich rühmen und verherrlichen. Ihre Figuren werden sie mit dem gefährlichen Schein des Fleisches umhüllen; und diese Figuren werden natürlichen Personen gleichen. Leiber wird man sehen; ihre Formen werden durch die Gewänder schimmern. Die heilige Magdalena wird Brüste haben, die heilige Martha einen Bauch, die heilige Barba Schenkel, die heilige Agnes Hinterbacken (buttocks). Der heilige Sebastian wird seine jünglingshafte Anmut entschleiern und der heilige Georg unter dem Harnisch den Muskelreichtum starker Männlichkeit zur Schau stellen. Apostel, Bekenner, Doktoren und Gottvater selbst werden solchen Rüpeln ähneln, wie ich und meine Nachbarn sind. Die Engel werden eine zweideutige, verdächtige, geheimnisvolle, die Herzen verwirrende Schönheit zeigen. Wie sollen diese Vorstellungen Himmelsverlangen wecken? Mit nichten; doch lernen wird man daraus, an den Formen des irdischen Lebens Geschmack zu finden. Wo sollen die Maler in ihrem neugierigen Suchen einhalten? Sie werden es nicht tun. Zuletzt werden sie Männer und Weiber so nackt malen wie die Götzenbilder der Römer. Es wird eine profane Kunst geben und eine heilige Kunst, und die heilige Kunst wird nicht weniger profan sein denn die andere.«

»Zurück, ihr Dämonen!« rief der alte Meister.

Denn in einer prophetischen Vision sah er Gerechte und Heilige, die schwermütigen Athleten gleich geworden waren. Er entdeckte Apollos, die auf blumiger Höhe inmitten leichtgeschürzter Musen Geige spielten. Venusinnen, die unter dunklen Myrten lagen, und Danaen, die dem Goldregen ihre köstlichen Lenden boten. Jesuskinder in Säulengängen, zwischen Patriziern, blonden Damen, Musikanten, Pagen, Negern, Hunden und Papageien. Er sah in unentwirrbarem Knäuel menschlicher Glieder, gespreizter Flügel und flatternder Tuchvorhänge stürmische Geburten, üppige heilige Familien, emphatische Kreuzigungen. Er sah heilige Katharinen, Barben, Agnesse, die durch den Prunk ihrer Samte, Brokate, Perlen und durch den Glanz ihrer Brust die Patrizierinnen beschämten. Auroren entdeckte er, die ihre Rosen streuten, und die Schar von Dianen und Nymphen, die nackt am Rand der schattigen Quellen überrascht wurden. Und der große Margaritone starb, von dieser schrecklichen Ahnung der Renaissance und der bolognesischen Schule erstickt.


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