Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Siebentes Kapitel

(Schluß)

Nunc est bibendum. Von seiner Furcht befreit, glücklich, einer so großen Gefahr entronnen zu sein, beschloß die Regierung, den Jahresgedenktag der Wiederherstellung von Pinguinien und der Errichtung der Republik durch Volksfeste zu begehen.

Der schöne Präsident, die Minister, die Mitglieder der Kammer und des Senats wohnten der Zeremonie bei.

Der Generalissimus der pinguinischen Armeen begab sich in großer Uniform hin. Man jubelte ihm zu.

Die Arbeiterdelegationen ließen die schwarze Fahne des Elends und die rote Fahne der Revolte flattern und zogen als wilde Schutztruppe vorbei.

Der Präsident, die Minister, die Deputierten, die Beamten, die Spitzen der Verwaltung und der Armee erneuerten in ihrem Namen und in dem des souveränen Volkes den durchs Alter heiligen Eid, frei zu leben oder zu sterben. Beherzt schickten sie sich in diese Wahl. Doch angenehmer war ihnen schon, in Freiheit zu leben. Es gab Spiele, Reden und Gesänge.

Nach dem Aufbruch der Staatsvertreter zerstreuten sich die Scharen der Bürger in langsamen, friedlichen Strömen und riefen: »Hoch die Republik! Hoch die Freiheit! Hu, hu, das Pfaffenpack!«

Die Presse verzeichnete einen einzigen mißlichen Vorfall an diesem schönen Tag. Der Prinz Boscénos rauchte in Ruhe auf der Königinnenwiese eine Zigarre, als die Wagen des Staats vorbeifuhren. Der Prinz ging an die Ministerkutsche heran und sprach mit dröhnender Stimme: »Tod den Dingerichen!« Sofort wurde er von den Polizisten gefaßt, denen er den verzweifeltsten Widerstand leistete. Eine Menge streckte er zu Boden. Doch er erlag der Überzahl; zerquetscht, geschunden, aufgeschwollen, geschröpft, selbst für einer Gattin Auge unkenntlich, wurde er durch das fröhliche Straßengetriebe in einen dunklen Kerker geschleift.

Neugierig verhängten die Behörden über Chatillon den Prozeß. Im Admiralitätspavillon fand man Briefe, die bezeugten, daß der ehrwürdige Pater Agaric im Komplott war. Sogleich ergrimmte die öffentliche Meinung gegen die Mönche. Und Schlag für Schlag stimmte das Parlament über ein Dutzend Gesetze ab, die ihre Rechte, Immunitäten, Freiheiten, Privilegien und Nutznießungen einschränkten, verringerten, begrenzten, abzirkelten, unterdrückten, beschnitten und wieder beschnitten und sie in vielfachen, den früheren Zustand aufhebenden Fällen untauglich machten.

Standhaft ertrug der ehrwürdige Pater Agaric die Strenge der Gesetze, die auf ihn persönlich zielten, ihn in Mitleidenschaft zogen und bedrängten, und den Sturz des Emirals, dessen erste Ursache er war. Es fiel ihm nicht ein, sich dem Unglück zu beugen, und er betrachtete es als einen flüchtigen Gast. Er schmiedete neue politische Pläne, noch kühner als die ersten.

Nachdem seine Entwürfe hinreichend gediehen waren, ging er eines Morgens durch den Kaninchenwald. Eine Amsel flötete in einem Baum, mürrischen Laufs kroch ein kleiner Igel über den steinigen Pfad. Agaric eilte in großen Schritten vorwärts und sprach zerrissene Worte.

Als er zur Schwelle des Laboratoriums kam, wo der fromme Industrielle während so vieler schöner Jahre den goldenen Likör der heiligen Orberose gebrannt hatte, fand er die Stätte leer und die Tür verschlossen. Er ging den Bau entlang und traf hinten den ehrwürdigen Cornemuse, der mit aufgeschürzter Kutte eine an die Mauer gelehnte Leiter erkletterte.

»Sind Sie es, lieber Freund?« sprach er zu ihm. »Was machen Sie da?«

»Sie sehen ja,« antwortete der Mönch aus dem Kaninchenwald mit schwacher Stimme und heftete auf Agaric einen Schmerzensblick. »Ich will in meine Wohnung.«

Seine roten Augäpfel erinnerten nicht mehr an den triumphierenden Glanz der Rubine; sie warfen ein finsteres, trübes Licht. Sein Antlitz hatte die lachende Fülle verloren. Sein blanker Schädel erfreute den Blick nicht mehr; der Schweiß der Arbeit und Hitzflecken entstellten der Haut unschätzbares Weiß.

»Das verstehe ich nicht,« sagte Agaric.

»Nun, es ist doch leicht zu verstehen. Hier sehen Sie die Folgen Ihres Komplotts. Eine Menge Gesetze, die gegen mich gerichtet waren, habe ich umgangen. Etliche jedoch trafen mich schwer. Die rachsüchtigen Menschen haben meine Laboratorien und Speicher zugesperrt, meine Flaschen, meine Kolben und Retorten beschlagnahmt; meine Tür haben sie versiegelt. Jetzt muß ich durchs Fenster in meine Wohnung. Kaum vermag ich von Zeit zu Zeit insgeheim den Pflanzensaft auszuziehen, mit Apparaten, die der geringste Schnapsbrenner verschmähen würde.«

»Sie erdulden Verfolgung,« sprach Agaric. »Uns alle trifft sie.«

Der Mönch aus dem Kaninchenwald fuhr sich mit der Hand über die trostlose Stirn:

»Ich hatte es Ihnen vorausgesagt, Bruder Agaric. Ich hatte Ihnen vorausgesagt, Ihr Unternehmen würde auf uns zurückfallen.«

»Unsre Niederlage ist nur momentan,« versetzte Agaric lebhaft. »Sie hat rein zufällige Gründe; sie erklärt sich aus bloß zufälligen Schickungen. Chatillon war ein Schwachkopf; er ist in seiner eigenen Dummheit ertrunken. Hören Sie mir zu, Bruder Cornemuse. Wir dürfen keinen Augenblick säumen. Wir müssen das Pinguinenvolk befreien, wir müssen es seiner Tyrannen entledigen, es vor sich selbst retten, den Drachenkamm, den alten Staat, den guten Staat, zur Ehre der katholischen Religion und zur Erhöhung des katholischen Glaubens wiederherstellen. Chatillon war ein schlechtes Werkzeug; er ist in unsrer Hand zerbrochen. Nehmen wir zum Ersatz ein besseres Werkzeug. Ich habe den Mann, der die ruchlose Demokratie zerstören wird. Es ist ein Bürgerlicher: Gomoru. Die Pinguine sind toll nach ihm. Er hat schon seine Partei um eine Schüssel Reis verraten. Das ist der Mann, den wir brauchen!«

Gleich zu Beginn dieser Rede hatte der Mönch aus dem Kaninchenwald ein Bein ins Fenster gestellt und die Leiter nachgezogen.

»Ich sehe es voraus,« antwortete er, die Nase zwischen zwei Fensterrahmen, »Ihr ruht nicht eher, bis Ihr dafür gesorgt habt, daß wir alle bis zum letzten Mann aus diesem schönen, lieblichen, süßen Lande Pinguinien verjagt werden. Gute Nacht! Gott befohlen!«

Agaric pflanzte sich vor der Mauer auf und beschwor seinen teuren Bruder, ihm einen Moment zuzuhören:

»So erkennen Sie doch besser Ihren Vorteil, Cornemuse! Pinguinien gehört uns. Was bedürfen wir viel, um es zu erobern? Noch eine Anstrengung ... noch ein kleines Geldopfer, und ...«

Doch ohne weiter zu lauschen, verschwand der Mönch aus dem Kaninchenwatt mit seiner Nase und zog die Leiter ein.


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