Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Drittes Kapitel

Graf Maubec von Dentdulynr

Die Sitten der kleinen Juden waren nicht immer rein. Sie mieden gewöhnlich kein einziges Laster der pinguinischen Zivilisation, aber von der Patriarchenzeit her hatten sie sich die Empfindung für Familienbande und die Anhänglichkeit an die Stammesinteressen bewahrt. Brüder, Halbbrüder, Onkel, Großonkel, Vettern und Vettersvettern, väterliche und mütterliche Anverwandte des Pyrot, siebenhundert an der Zahl, waren zuerst von dem Schlag, der einen der Ihren traf, gelähmt. Dann schlossen sie sich zu Hause ein, streuten Asche auf ihre Häupter, segneten die Hand, die sie züchtigte, und beobachteten vierzig Tage lang strenges Fasten. Hiernach badeten sie und beschlossen, ohne Ruhe, um aller Mühsal Preis, durch alle Gefahren hindurch die Erhärtung einer Unschuld zu verfolgen, an der sie nicht zweifelten. Und wie hätten sie daran zweifeln sollen? Pyrots Unschuld wurde ihnen geoffenbart wie dem christlichen Pinguinien sein Verbrechen. Denn da diese Dinge verborgen waren, nahmen sie mystischen Schein an und die Autorität der religiösen Wahrheiten. Die siebenhundert Pyrots gingen mit ebensoviel Eifer wie Klugheit zu Werk und stellten insgeheim vertiefte Nachforschungen an. Sie waren überall: man sah sie nirgends. Wie der Pilot des Odysseus gleichsam hatten sie unter der Erde freie Bahn. Sie drangen in die Kriegsbureaus ein, sie näherten sich in Verkleidungen den Richtern, den Gerichtsschreibern, den Prozeßzeugen. Da sah man Greatauks Weisheit: die Zeugen wußten nichts, die Richter und Gerichtsschreiber wußten nichts. Späher kamen bis zu Pyrot und sandten angstvolle Fragen zu seinem Käfig, beim langgedehnten Brausen des Meeres und beim rauhen Krächzen der Raben. Umsonst: der Verurteilte wußte nichts. Die siebenhundert Pyrots konnten die Beweise der Anklage nicht entkräften, weil sie sie nicht erfahren konnten, und sie konnten sie nicht erfahren, weil es keine gab. Pyrots Straffälligkeit war unzerstörbar um ihrer Nichtigkeit willen. Und mit berechtigtem Stolz äußerte Greatauk eines Tags in eines echten Künstlers Sprache zum General Panther: »Dieser Prozeß ist ein Meisterwerk; er ist aus nichts gemacht.« Die siebenhundert Pyrots begaben sich der Hoffnung, den dunklen Fall je aufzuhalten. Da plötzlich entdeckten sie durch einen gestohlenen Brief, daß die achtzigtausend Heubündel nie existiert hatten. Daß einer der vornehmsten Adligen, Graf Maubec von Dentdulynx, sie dem Staat verkauft und auch den Preis dafür bekommen, aber sie nie geliefert hatte. Denn er, der Sproß der reichsten Grundeigentümer im alten Pinguinien, der Erbe der Maubec von Dentdulynx, der früheren Besitzer von vier Herzogtümern, sechzig Grafschaften, sechshundertzwölf Markgrafschaften, Reichslehen und Vitztümern, besaß keine Handbreit Boden und wäre nicht imstand gewesen, auch nur eine Mahd Futter auf seinen Gütern zu schneiden. Sich für einen Pfifferling das Heu von einem Besitzer oder von einem Händler liefern zu lassen, wäre ihm ganz unmöglich gewesen, denn jeder, bis auf die Staatsminister und die Regierungsbeamten, wußte, daß eher ein Hahn Eier legte, als daß man von Maubec einen Pfennig bekam.

Die siebenhundert Pyrots prüften die Geldquellen des Grafen Maubec von Dentdulynx sehr genau und fanden, daß er seine Einkünfte vor allem aus einem Hause bezog, in dem großmütige Damen jedem Gast für eine Wurst die Speckseite schenkten. Öffentlich bezichtigten sie ihn des Diebstahls der achtzigtausend Heubündel, dessentwegen ein Unschuldiger verurteilt und in den Käfig gesteckt worden war.

Maubec entstammte einer glanzvollen, mit den Drakoniden verschwägerten Familie. Nichts stellen Demokratien so hoch wie den Geburtsadel. Maubec hatte in der pinguinischen Armee gedient, und seit die Pinguine alle Soldaten waren, liebten sie ihre Armee blindlings. Auf Schlachtfeldern hatte Maubec das Kreuz empfangen, das Ehrenzeichen der Pinguine, das sie noch mehr schätzten als das Bett ihrer Gattinnen. All-Pinguinien erklärte sich für Maubec, und die Stimme des Volkes, die zu grollen anfing, heischte für die verleumderischen siebenhundert Pyrots schwere Strafen.

Maubec war ein Edelmann; er forderte die siebenhundert Pyrots auf Degen, Säbel, Pistole, Karabiner und Stock.

»Ihr schmierigen Itzigs,« schrieb er in einem berühmten Brief, »ihr habt meinen Gott gekreuzigt und wollt mir zu Leibe. Ich sage euch, daß ich nicht so ein Schlappschwanz sein werde, wie er, und daß ich euch eure vierzehnhundert Ohren abhauen werde. Da habt ihr Fußtritte in eure siebenhundert Hintern!«

Regierungschef war damals ein Mann im Lande namens Robin Mielleur. Er war sanft gegen die Reichen und Mächtigen, hart gegen die armen Leute. Er war kleinmütig und kannte nur sein Interesse. Durch öffentliche Erklärung verbürgte er sich für Maubecs Unschuld und Ehre und übergab die siebenhundert Pyrots den Strafkammern, die ihnen als Verleumdern Leibesstrafen, enorme Geldbußen und jeden Schadenersatz, den ihr unschuldiges Opfer beanspruchte, auferlegten.

Es schien, als müsse Pyrot für immer in seinen Käfig gesperrt bleiben, auf dem die Raben saßen. Doch da alle Pinguine die Schuld des Juden wissen und beweisen wollten, waren nicht sämtliche Beweise, die man heranbrachte, gut, und es gab welche, die einander widersprachen. Die Generalstabsoffiziere bezeigten Eifer, und etliche ließen es an Klugheit fehlen. Während Greatauk mit bewunderungswürdiger Taktik schwieg, wollten die Reden des Generals Panther niemals versiegen. Allmorgendlich bewies er in den Zeitungen des Verurteilten Schuld. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte nichts über sie gesagt; sie war doch klar; und was klar ist, das braucht nicht bewiesen zu werden. So umständliche Begründung verwirrte die Geister; der Glaube wurde, obgleich er immer noch stark war, weniger zuversichtlich. Je mehr Beweise man der Menge vorführte, desto mehr verlangte sie.

Indes wäre die Gefahr des Zu-viel-Beweisens nicht so groß gewesen, hätten nicht in Pinguinien wie überall ein paar Geister gewacht, die sich in freier Prüfung gebildet hatten, eine schwierige Frage studieren konnten und zu philosophischem Zweifel neigten. Nur ein Häuflein war es. Nicht alle hatten Lust zu reden: das Publikum war nicht darauf vorbereitet, sie zu hören. Sie begegneten nur tauben Ohren. Die Großjuden, alle israelitischen Milliardäre von Alka sagten, wenn man mit ihnen von Pyrot sprach: »Den Mann kennen wir nicht.« Aber sie sannen nach, wie er zu retten sei. Sie wahrten die Vorsicht, die ihr Vermögen bedingte, und wünschten, andere möchten weniger scheu sein. Ihr Wunsch sollte in Erfüllung gehen.


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