Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Viertes Kapitel

Die schönen Wissenschaften: Johannes Talpa

Während der Minderjährigkeit des Königs Gun verfaßte Johannes Talpa, der Mönch von Beargarden, in dem Kloster, das er seit seinem Gelöbnis im Alter von elf Jahren keinen einzigen Tag verließ, feine berühmte lateinische Chronik in zwölf Büchern De Gestis Pinguinorum.

Die hohen Mauern des Klosters Beargarden ragen auf einer unzugänglichen Bergspitze. Ringsum sieht man nur die blauen, von Wolken zerschnittenen Höhen.

Als er es unternahm, die Gesta Pinguinorum zu schreiben, war Johannes Talpa schon bejahrt. Der gute Mönch hat sich befleißigt, es in seinem Buch uns wissen zu lassen. »Seit langem schon,« sagt er, »hat mein Kopf den Schmuck seiner blonden Haare verloren, und mein Schädel ist jenen ausgebuchteten Metallspiegeln ähnlich geworden, drin die pinguinischen Damen so genau und sorgfältig sich mustern. Meine Gestalt, die von Natur kurz war, hat sich mit den Jahren noch mehr verkürzt und gekrümmt. Mein weißer Bart wärmt meine Brust.«

Mit reizender Harmlosigkeit setzt Talpa uns von etlichen Umständen seines Lebens und Zügen seines Charakters in Kenntnis. »Ich stamme,« so sagt er uns, »aus edlem Hause, und da ich von Kindheit an für den geistlichen Stand bestimmt war, lehrte man mich Grammatik und Musik. Lesen lernte ich unter der Zucht eines Meisters, der Amicus hieß und besser Inimicus geheißen hätte. Da ich die Buchstaben nicht leicht behielt, strich er mich heftig mit Ruten, weshalb ich sagen darf, daß er mir das Alphabet mit brennenden Lettern auf das Hinterteil geschrieben hat.«

Anderswo bekennt Talpa seinen natürlichen Hang zur Wollust. Und zwar mit den ausdrucksvollen Worten: »In meiner Jugend war meiner Sinne Glut so groß, daß ich im Waldesschatten eher ein Sieden wie im Kochtopf spürte als ein Atmen in frischer Luft. Ich floh die Weiber. Umsonst! Ein Glöckchen schon oder eine Flasche vergegenwärtigte sie mir.«

Zur Zeit, wo er seine Chronik schrieb, verwüstete ein entsetzlicher Krieg, ein Fremdenkrieg und Bürgerkrieg zugleich, das pinguinische Land. Die Soldaten der Crucha, die gekommen waren, das Kloster Beargarden vor den marsuinischen Barbaren zu schützen, verschanzten sich dort. Um es uneinnehmbar zu machen, bohrten sie Schießscharten in die Mauer, deckten das Bleidach der Kirche ab und gossen Schleuderkugeln daraus. Nachts zündeten sie in Höfen und Kreuzgängen große Feuer an, über denen sie ganze Ochsen brieten, die sie auf alte Bergtannen steckten. Und um die Flammen vereint, in dem von Harzduft und Fettdunst schweren Rauch, erbrachen sie Weinfässer und Bierfässer. Ihre Gesänge, ihre Lästerungen und ihr zänkisches Geschrei übertönten die Morgenglocken.

Endlich kamen die Marsuine durch die Bergketten und belagerten das Kloster. Es waren nordische, in Kupfer gekleidete und mit Kupfer bewaffnete Streiter. An die Felswand setzten sie einhundertfünfzig Klafter lange Leitern an, die im Dunkel und Unwetter von der Wucht der Leiber und Waffen zerbrachen. Klumpen von Menschen fielen auf die Halden und in die Abgründe. Man hörte ein durch die Finsternis hingezogenes Geheul, das mählich still wurde. Dann begann der Sturm von neuem. Die Pinguine gossen Ströme von heißem Pech auf die Stürmenden, die wie Fackeln loderten. Sechzigmal versuchten die rasenden Marsuine die Burg zu erklettern; sechzigmal wurden sie zurückgestoßen.

Seit zehn Monden schon war das Kloster hart von ihnen bedrängt. Da zeigte am heiligen Epiphaniastag ein Hirt aus dem Tal ihnen einen verborgenen Pfad, auf dem sie den Berg erstiegen. Sie brachen in den Keller der Abtei, zerstreuten sich in den Kreuzgängen, den Küchen, der Kirche, den Kapitelsälen, der Bücherei, der Wäscherei, den Zellen, den Refektorien, den Schlafräumen, äscherten die Gebäude ein, töteten und schändeten ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht. Jäh erwacht, eilten die Pinguine zu den Waffen. Da ihre Augen vom Dunkel und vom Entsetzen umschattet waren, hieben sie aufeinander los, indes die Marsuine sich mit ihren Äxten um die heiligen Gefäße stritten, die Weihrauchfässer, die Leuchter, die Dalmatiken, die Schreine, die mit Gold und Kleinodien besäten Kreuze.

In der Luft schwamm der dumpfe, beißende Geruch von geröstetem Fleisch. Todesschreie und Gestöhn erhoben sich aus dem Flammenmeer, und am Rand der hinabgleitenden Dächer liefen Mönche zu Tausenden wie Ameisen und fielen ins Tal. Johannes Talpa schrieb inzwischen seine Chronik. Die Soldaten der Crucha, die sich hastig zurückgezogen hatten, verstopften alle Ausgänge des Klosters mit Felsenstücken, um die Marsuine in den vom Feuer ergriffenen Gebäuden einzusperren. Und um den Feind unter den fallenden Quadersteinen und Mauerblöcken zu verschütten, nahmen sie die ältesten Eichenstämme als Widder. Mit Donnergepolter stürzte das flammende Gebälk, und die erhabenen Bogen der Kirchenschiffe sanken unter dem Prall der Riesenbäume, die von sechshundert Menschen geschwungen wurden. Bald blieb von der reichen, großen Abtei nur die Zelle des Johannes Talpa, die durch ein Wunder an den Trümmern eines rauchenden Giebels hing. Und der alte Chronist schrieb immer noch.

Diese staunenswerte Fassung des Geistes mag bei einem Annalisten, der die wirklichsten Geschehnisse seiner Zeit berichten will, übertrieben scheinen. Aber so zerstreut und von den gegenwärtigen Dingen abgelenkt man auch ist, spürt man doch ihren Einfluß. Ich habe mir das Originalmanuskript des Johannes Talpa in der Nationalbibliothek angesehen, wo es aufbewahrt wird (fundus ping. K. L. 12390 quater). Es ist ein Pergamentmanuskript von 628 Seiten. Die Schrift ist sehr wirr. Anstatt eine gerade Linie einzuhalten, rennen die Buchstaben nach allen Richtungen, schieben sich und purzeln ungeordnet, oder, um es deutlicher zu sagen, in gräßlichem Wirrwarr übereinander. Sie sind so schlecht gemacht, daß man sie meistens nicht erkennen und gar von dem Tintenbrei, der reichlich darein gemengt ist, nicht unterscheiden kann. Dergestalt sind die unschätzbaren Seiten von den Wirrnissen, innerhalb deren sie niedergeschrieben worden sind, in Mitleidenschaft gezogen. Schwierig ist ihre Lektüre. Doch verrät der Stil des Mönchs von Beargarden in nichts Erregung. Der Ton des Gesta Pinguinorum irrt niemals vom Ton der Schlichtheit ab. Die Erzählung ist hurtig und so knapp, daß sie manchmal beinah trocken ist. Selten und im allgemeinen verständig sind die Reflexionen.


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