Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Drittes Kapitel

Die Königin Crucha

Schreckliche Zerrüttung folgte auf Drakos des Großen Tod. Oft hat man die Nachfahren dieses Fürsten der Schwäche bezichtigt. Wahr ist, daß keiner von ihnen des starken Ahnen Vorbild auch nur einigermaßen erreicht hat.

Sein Sohn Chum, der hinkte, versäumte, das Gebiet der Pinguine zu mehren. Bosko, Chums Sohn, starb, von den Palastwachen ermordet, neun Jahre alt, als er gerade den Thron besteigen wollte. Ihm folgte sein Bruder Gun. Er war nur sieben Jahre alt und ließ sich von seiner Mutter, der Königin Crucha, leiten.

Crucha war schön, gebildet, klug. Doch sie wußte ihre Leidenschaften nicht zu zügeln.

Dies sind die Worte, mit denen der ehrwürdige Talpa in seiner Chronik über diese glanzvolle Königin berichtet:

»Die Königin Crucha nimmt es an Schönheit des Antlitzes und vorteilhaftem Wuchs mit Semiramis von Babylonien auf, mit Penthesilea, der Amazonenkönigin, mit Salome, der Herodias Tochter. Doch sie bietet einige Seltsamkeiten dar, die einen schön oder häßlich dünken können, je nach den widersprechenden Meinungen der Menschen und nach dem Urteil der Welt. An der Stirn hat sie zwei Hörnchen, die sie unter den reichen Strähnen ihres Goldhaares hehlt. Sie hat ein blaues und ein schwarzes Auge, ihr Hals ist nach links geneigt, wie der Alexanders von Mazedonien. An der rechten Hand sitzen ihr sechs Finger und über dem Nabel ein kleiner Affenkopf.

Ihr Gang ist hoheitsvoll, ihr Gebaren freundlich. In ihren Ausgaben ist sie großgesinnt, doch vermag sie ihr Begehren nicht stets durch Vernunft zu zwingen.

Eines Tags gewahrte sie in des Palastes Ställen einen jungen Pferdeknecht von großer Schönheit, fühlte sich sofort von Liebe zu ihm entbrannt und vertraute ihm den Oberbefehl über die Heere an. Rückhaltlos darf man an dieser großen Königin das Übermaß der Geschenke loben, die sie den Kirchen, den Klöstern und Kapellen des Reiches gemacht hat, und zumal dem heiligen Hause von Beargarden, in dem ich durch die Gnade des Herrn im vierzehnten Jahr mein Gelübde abgelegt habe. Sie hat für ihr Seelenheil so viele Messen begründet, daß jeder Priester in der pinguinischen Kirche gleichsam zu einer Kerze verwandelt ist, die gen Himmel flackert, die göttliche Barmherzigkeit auf die erhabene Crucha zu leiten.«

Diesen Zeilen und etlichen anderen, die meinen Text bereichert haben, kann man den historischen und literarischen Wert der Gesta Pinguinorum entnehmen. Leider stockt die Chronik plötzlich im dritten Jahr der Herrschaft Drakos des Einfältigen, des Nachfolgers von Gun dem Schwachen. An dieser Stelle meines Geschichtswerks beklage ich den Verlust eines gütigen, sicheren Führers.

Die beiden nächsten Jahrhunderte lang blieben die Pinguine blutiger Anarchie verfallen. Sämtliche Künste gingen unter. Inmitten der allgemeinen Unwissenheit widmeten die Mönche, im Schatten des Klosters, sich dem Studium und schrieben mit rastlosem Eifer die heiligen Schriften ab. Da das Pergament selten war, zerschabten sie die alten Manuskripte, um Gottes Wort darauf zu kritzeln. Drum sieht man die Bibeln im Pinguinenland blühen wie einen Rosenstrauch.

Ein Mönch vom Orden des heiligen Benedikt, Ermold der Pinguin, hat ganz allein viertausend griechische und lateinische Manuskripte verlöscht, um viertausendmal das Johannesevangelium abzuschreiben. So wurden die Meisterwerke der antiken Dichtung und Beredsamkeit in großer Zahl zerstört. Die Historiker stimmen darin überein, daß die Pinguinenklöster im Mittelalter die Zuflucht der schönen Wissenschaften waren.

Die hundertjährigen Kriege der Pinguine und der Marsuine füllten das Ende der Zeitspanne. Sehr schwer ist es, die Wahrheit über diese Kriege zu erforschen, nicht weil es an Berichten fehlt, sondern weil es mehrere gibt. Die marsuinischen Chronisten widersprechen den pinguinischen in jeder Hinsicht. Und obendrein widersprechen die Pinguine, ebenso wie die Marsuine, auch einander. Zwei Chronisten habe ich gefunden, die einhellig sind; doch da hat der zweite vom ersten abgeschrieben. Gewiß ist, daß Metzelei, Schändung, Mordbrennerei und Plünderung ununterbrochen geschahen.

Unter dem bedauernswerten Fürsten Bosko dem Neunten war das Königreich zwei Finger breit von der Vernichtung entfernt. Auf die Nachricht, daß die aus sechshundert großen Schiffen bestehende Flotte der Marsuine vor Alka sichtbar war, befahl der Bischof eine feierliche Prozession. Das Domkapitel, die erwählten Behörden, die Mitglieder des Parlaments und die Kleriker der Universität holten den Schrein der heiligen Orberose aus der Kathedrale und trugen ihn um die Stadt, begleitet vom ganzen Volke, das Hymnen sang. Nicht vergebens ward die Schutzheilige von Pinguinien angerufen. Indes belagerten die Marsuine die Stadt zu Wasser und zu Lande und erstürmten sie. Und schlachteten, plünderten, schändeten, raubten drei Tage und drei Nächte mit dem Gleichmut, den die Gewohnheit erzeugt.

Man muß sich baß wundern, daß in diesem langen, eisernen Zeitalter der Glaube bei den Pinguinen unversehrt geblieben ist. Der Glanz der Wahrheit blendete damals die Seelen, die nicht durch Sophismen verderbt waren. Das erklärt die Glaubenseinheit. Zweifellos hat eine beständige Religionsübung innerhalb der Kirche dazu beigetragen, diese glückliche Gemeinschaft der Gläubigen zu festigen. Stracks verbrannte man jeden Pinguin, der anders als die andern dachte.


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