Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Sechstes Kapitel

Die siebenhundert Pyrots

Die siebenhundert Pyrots wurden dem Publikum immer ekelhafter. Täglich wurden zwei oder drei auf den Straßen von Alka erschlagen. Einem hieb man öffentlich den Hintern voll, einen andern warf man in den Fluß. Ein dritter wurde mit Teer bestrichen, in Federn gewälzt und durch ein baß vergnügtes Volk hindurch die Boulevards entlanggeführt. Einem vierten schnitt ein Dragonerhauptmann die Nase ab. Sie wagten nicht mehr, sich in ihrem Klub, beim Tennis, beim Rennen zu zeigen; sie vermummten sich, um zur Börse zu gehn. Unter solchen Umständen schien es dem Prinzen Boscénos dringlich, ihre Frechheit zu zügeln, ihre Unverschämtheit zu dämpfen. Zu diesem Zweck vereinigte er sich mit dem Grafen Eléna, dem Herrn von La Trumelle, dem Vikomte Olive und mit Herrn Bigourd und gründete mit ihnen den großen Bund der Anti-Pyrotiner, dem die Bürger zu Hunderttausenden, die Soldaten in Kompagnien, Regimentern, Brigaden, Divisionen, Armeekorps, die Städte, Distrikte und Provinzen beitraten.

Um diese Zeit etwa sah der Kriegsminister, als er seinen Generalstabschef aufsuchte, zu seiner Überraschung, daß der große Saal, in dem der General Panther arbeitete, nicht mehr kahl war wie sonst. Jetzt barg er auf jeder Seite, vom Fußboden bis zur Decke hinauf, in tiefen Schränken eine drei- bis vierfache Schicht von Aktenbündeln jedes Formats und von jeder Farbe, ein plötzliches, ungeheures Archiv, das in wenigen Tagen wie die Urkundensammlungen von Jahrhunderten geschwollen war.

»Was ist denn das?« fragte der Minister erstaunt.

»Beweise gegen Pyrot,« antwortete General Panther im Hochgefühl des Patriotismus. »Als wir ihn verurteilten, hatten wir keine. Das ist nun weidlich nachgeholt.«

Die Tür war offen. Greatauk, sah, wie vom Flur in langem Zug Lastträger kamen, die ihre mit Papier bepackten Reffs im Saal entluden, und auch der Fahrstuhl hob sich, ächzend und vom Gewicht der Aktenbündel verlangsamt.

»Was bringen denn die noch?« meinte er.

»Das sind neue Beweise gegen Pyrot, die eben bei uns abgeliefert werden,« sagte Panther. »Ich habe in allen Kantonen von Pinguinien welche bestellt, in allen Generalstäben und allen Höfen von Europa, in allen Städten Amerikas und Australiens, in allen Faktoreien Afrikas. Ich erwarte Ballen aus Bremen und eine Ladung aus Melbourne.«

Und Panther sah den Minister mit dem ruhigen, strahlenden Blick eines Helden an. Greatauk jedoch betrachtete, das Glas vor dem Auge, diese furchtbaren Papierstöße mit weniger Befriedigung als Unruhe.

»Sehr gut,« sprach er, »sehr gut! Ich fürchte nur, der Fall Pyrot verliert so seine herrliche Einfachheit. Klar war er; sein Wert bestand in seiner Durchsichtigkeit, ganz wie der Wert des Felskristalls. Selbst mit der Lupe hätte man umsonst ein Stückchen Stroh, eine Spalte, einen Fleck, den geringsten Fehler darin gesucht. Als ich ihn aus den Händen gab, war er rein wie der Tag, war er der Tag selbst. Ich gebe Ihnen eine Perle, und Sie machen ein Gebirge daraus. Ohne Rückhalt gesprochen – ich fürchte, Sie haben, weil Sie es allzu gut machen wollten, die Sache nur verfahren. Beweise! Gewiß ist es gut, wenn man Beweise hat, aber vielleicht besser noch, wenn man keine hat. Ich habe es Ihnen schon gesagt: es gibt nur einen unwiderleglichen Beweis, das Geständnis des Schuldigen (oder des Unschuldigen, das ist ziemlich egal!) So wie ich den Fall Pyrot aufgebaut hatte, ließ er sich nicht kritisieren; nirgends konnte man daran tippen. Er war gegen Angriffe gefeit; er war unversehrbar, weil er unsichtbar war. Jetzt bietet er der Diskussion den größten Spielraum. Ich rate Ihnen, Panther, Ihre Akten mit Vorsicht zu benutzen. Ich werde Ihnen besonders dankbar sein, wenn Sie in Ihren Mitteilungen an die Zeitungsschreiber sich mäßigen. Sie sprechen gut, aber Sie sprechen zuviel. Sagen Sie mir, Panther, sind unter diesen Schriftstücken auch falsche?«

Panther lächelte:

»Es sind solche darunter, die ich angepaßt habe.«

»Eben das meinte ich. Es sind angepaßte darunter, um so besser. Die sind die guten. Als Beweismaterial sind falsche Schriftstücke den echten im allgemeinen vorzuziehen, erstens, weil sie besonders, für die Erfordernisse der Sache, gefertigt sind, nach Bestellung und Maß, und dann, weil sie endlich genaue und richtige Unterlagen liefern. Sie sind auch nützlicher, weil sie die Geister in eine ideale Welt versetzen, fern von der Wirklichkeit, die in dieser Welt, ach! niemals ungetrübt ist ... Und doch wäre es mir vielleicht lieber, Panther, wir hätten überhaupt keine Beweise.«

Der erste Schritt des Anti-Pyrotiner-Bundes war ein Drängen bei der Regierung, die siebenhundert Pyrots und Genossen als des Hochverrats schuldig vor einen hohen Staatsgerichtshof zu bringen. Der Prinz Boscénos, den man beauftragte, im Namen des Bundes vorstellig zu werden, meldete sich bei dem Ministerrat, der sich zu seinem Empfang versammelte, und äußerte den Wunsch, die Wachsamkeit und die Festigkeit der Regierung möchten sich auf der Höhe der Situation zeigen. Er drückte jedem Minister die Hand, und als er beim General Greatauk vorbeikam, raunte er ihm ins Ohr:

»Vorwärts marsch, Gauner, oder ich lasse die Malourv-Akten auffliegen!«

Wenige Tage später wurde durch einstimmiges Kammervotum und im Sinne eines Regierungsvorschlags das öffentliche Verdienst der Anti-Pyrotiner bestätigt.

Sogleich entsandte der Bund nach Marsuinien, zum Schlosse Chitterlings, in dem Crucho das bittere Brot der Verbannung aß, eine Abordnung, die den Prinzen der Liebe und der Ergebenheit der antipyrotinischen Bündler versichern sollte.

Indes wuchs die Zahl der Pyrotiner beständig; jetzt zählte man ihrer zehntausend. Sie hatten ihre Stammkaffees auf den Boulevards. Die Patrioten hatten die ihrigen, die reicher und größer waren. Allabendlich flogen von einer Terrasse zur andern Biergläser, Untertassen, Streichholzständer, Karaffen, Stühle und Tische. Glasscherben spritzten umher. Die Dunkelheit stiftete unter den Prügelnden Verwirrung an und glich den Unterschied an Zahl aus. Die schwarzen Brigaden beendeten den Krieg und stampften die Kämpfer beider Parteien mit ihren scharfbenagelten Sohlen gleichgültig nieder.

Als in einer dieser glorreichen Nächte der Prinz Boscénos mit etlichen Gefährten ein frequentiertes Restaurant verließ, lenkte Herr von La Trumelle seine Aufmerksamkeit auf ein struppiges Männchen, mit Kneifer, ohne Hut, das am Rock nur noch einen einzigen Ärmel hatte und sich mühsam über das mit Trümmern besäte Pflaster schleppte:

»Sieh einer an! Da ist ja Colomban!«

Neben der Kraft hatte der Prinz Sanftmut in sich; er war voller Milde. Doch beim Namen Colomban ging ihm die Galle heraus. Er sprang auf das Männchen mit dem Kneifer zu und warf es mit einem Faustschlag über die Nase zu Boden.

Da bemerkte Herr von La Trumelle, daß er, durch unverschuldete Ähnlichkeit getäuscht, Herrn Bazile, einen ehemaligen Advokaten, den Sekretär des Antipyroten-Bundes, einen glühenden, hochgesinnten Vaterlandsfreund, für Colomban gehalten hatte. Der Prinz Boscénos war eine jener antiken Seelen, die niemals sich beugen; doch war er fähig, sein Unrecht zu bekennen.

»Herr Bazile,« sagte er und hob seinen Hut, »sollte ich Ihnen das Gesicht gestreift haben, so werden Sie mir verzeihen und mich verstehen, Sie werden mir beipflichten, ja sogar mir Glück und Segen wünschen, wenn Sie den Grund dieser Handlung erfahren. Ich habe Sie mit Colomban verwechselt.«

Herr Bazile betupfte mit dem Taschentuch seine Nasenlöcher, denen Blut entfloß, und hob einen Ellenbogen, der nackt aus seinem abwesenden Ärmel hervorblickte.

»Nein, Herr,« antwortete er trocken, »ich werde Ihnen kein Glück wünschen, ich werde Ihnen keine Komplimente sagen, ich werde Ihnen nicht beipflichten, denn Ihre Handlung war zum mindesten überflüssig; sie war über Gebühr. Schon dreimal heut abend hatte man mich für Colomban gehalten und mir genügend mitgespielt, wie es ihm zu gönnen wäre. An meiner Person haben ihm die Patrioten die Rippen ausgerenkt und das Kreuz zerbrochen, und mich dünkte, Herr, nun sei es genug.«

Kaum hatte er ausgeredet, da erschien ein Trupp Pyrotiner, und auch ihrerseits durch diese bösartige Ähnlichkeit getäuscht, wähnten sie, Patrioten hieben den Colomban zu» schanden. Sie fielen mit Bleistöcken und Ochsenziemern über den Prinzen Boscénos und seine Gefährten her, die sie halbtot auf dem Platze ließen, bemächtigten sich des Advokaten Bazile und trugen ihn, trotz seines empörten Protests, unter dem Geschrei: »Hoch Colomban! Hoch Pyrot!« die Boulevards entlang, bis die schwarze Brigade, die hinter ihnen hersetzte, auf sie einstürmte, sie niederwarf, sie roh auf die Polizeiwache schleppte, wo der Advokat Bazile unter dem Namen Colomban von dicken Sohlen mit ungezählten Nägeln zertrampelt ward.


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