Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Dreizehntes Kapitel

Der Drache von Alka

(Schluß)

Vom Greis Maël zusammengerufen, übernachtete das Pinguinenvolk am Gestade der Schatten, an der Grenze, die der fromme Mann gezogen hatte, auf daß kein Pinguin vom Odem des Ungeheuers vergiftet werde.

Noch deckten die Schleier der Nacht die Erde, da zeigte der Drache, dem heiseres Gebrüll vorausging, auf den Uferfelsen seine undeutliche, scheusälige Gestalt. Er kroch wie eine Schlange, und sein an Windungen reicher Leib schien fünfzehn Fuß lang. Bei seinem Anblick weicht das Volk entsetzt zurück. Doch bald schauen alle auf die Jungfrau Orberose, die im ersten Licht des Tages, weißgekleidet, hinwandelt über das rosige Heidekraut. Mit unverzagtem, bescheidenem Schritt geht sie auf das Tier los, das fürchterlich heult, Flammen im gähnenden Schlunde. Ein unendlicher Schrei der Angst und des Mitleids schrillt unter den Pinguinen auf. Doch die Jungfrau bindet ihren Leinengürtel ab und legt ihn um den Hals des Drachen, den sie wie einen treuen Hund gängelt, unter der Gemeinde Beifallsrasen.

Schon hat sie ein großes Stück der Heide durchmessen, da erscheint Kraken, mit funkelndem Schwert bewaffnet. Das Volk, das ihn tot glaubte, schreit vor Überraschung und Freude. Der Held stürzt sich auf das Tier, dreht es um und öffnet mit seinem Schwert ihm die Flanke. Draus kommen im Hemd, mit Lockenhaar und gefalteten Händen, der kleine Elo und die anderen fünf Kinder, die das Ungeheuer gefressen hatte.

Alsbald werfen sie sich vor der Jungfrau Orberose auf die Knie. Sie aber umfängt sie und flüstert ihnen zu:

»Ihr geht durch die Dörfer und sagt: ›Wir sind die armen Kindlein, die der Drache gefressen hat, und kommen im Hemdchen aus seinem Bauche.‹ Die Leute werden euch nach eurem Herzenswunsch reichlich beschenken. Doch wenn ihr anders sprecht, so kriegt ihr nur Nasenstüber und den Hintern voll. Marsch!«

Mehrere Pinguine, die den Drachen zerfleischt sahen, eilten ihn völlig zu zerreißen, die einen aus einem Gefühl der Wut und der Rache, die anderen, um sich des Zaubersteins Drakonit zu bemächtigen, der in seinem Kopfe erzeugt wird. Die Mütter der auferstandenen Kinder liefen herbei, ihre lieben Kleinen zu umarmen. Doch der fromme Maël hielt sie zurück und stellte ihnen vor, sie alle seien nicht heilig genug, daß sie, ohne zu sterben, dem Drachen nahen könnten.

Und bald kamen der kleine Elo und die anderen fünf Kinder zum Volke und sprachen:

»Wir sind die armen Kindlein, die der Drache gefressen hat, und kommen im Hemdchen aus seinem Bauche.«

»Gesegnete Kinder, wir werden euch, was ihr wünscht, reichlich schenken.«

Und die Volksmenge zerstreute sich in Heiterkeit und mit Hymnen und Lobgesängen.

Zum Gedächtnis dieses Tages, an dem die Vorsehung das Volk von grausamer Geißel befreite, wurden Prozessionen eingerichtet, bei denen man das Bild eines geketteten Drachen umhertrug.

Kraken erhob den Tribut und wurde der reichste und mächtigste unter den Pinguinen. Zum Zeichen seines Siegs und um heilsamen Schreck einzuflößen, trug er auf seinem Kopf einen Drachenkamm. Und er pflegte zum Volke zu sagen:

»Jetzt, wo das Ungeheuer tot ist, bin ich der Drache.«

Orberose umschlang noch lange mit freigebigen Armen Rinderhirten und Schafhirten, die sie den Göttern gleich machte. Und als sie nicht mehr schön war, da weihte sie sich dem Herrn.

Ein Gegenstand der öffentlichen Verehrung, ward sie nach ihrem Tode ins Buch der Heiligen eingezeichnet und himmlische Patronin von Pinguinien.

Kraken hinterließ einen Sohn, der wie sein Vater den Drachenkamm trug und deshalb Drako zubenannt wurde. Er hat das erste Königshaus der Pinguine begründet.


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