Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Vikomtesse Olive

Die Pinguine hatten das erste Heer der Welt. Die Marsuine auch. Und ebenso war es mit den übrigen Völkern Europas. Das wird keinen, der ein wenig nachdenkt, befremden, denn alle Heere sind die ersten der Welt. Das zweite Heer der Welt – sofern es eins gäbe – müßte notorisch geringer sein; es müßte mit Sicherheit geschlagen werden. Man müßte es sofort auflösen. Darum sind alle Heere die ersten der Welt. In Frankreich hat dies der berühmte Oberst Marchand begriffen. Als ihn vor dem Übergang über den Yalu Zeitungsschreiber wegen des Russisch-Japanischen Krieges ausfragten, hat er ohne Zögern beide Armeen, die russische und die japanische, für die ersten der Welt erklärt. Und hervorzuheben ist, daß ein Heer, selbst wenn es vom schrecklichsten Mißgeschick betroffen wird, seinen Rang als erstes der Welt nicht verliert. Denn wenn die Völker ihre Siege der Klugheit der Generäle und dem Mut der Soldaten zuschreiben, so rechtfertigen sie ihre Niederlagen oft mit einem unerklärlichen Verhängnis. Die Flotten hingegen rangieren nach der Zahl der Schiffe. Es gibt eine erste Flotte, eine zweite, eine dritte und so fort. Darum besteht über den Ausgang der Seekriege keine Ungewißheit.

Die Pinguine hatten das erste Heer und die zweite Flotte der Welt. Diese Flotte wurde von dem berühmten Chatillon befehligt, der den Titel eines »Emiral ahr« oder abgekürzt »Emiral« trug. Es ist dasselbe Wort, das noch heute, leider entstellt, bei mehreren Nationen den höchsten Grad in den See-Armeen bezeichnet. Doch da es bei den Pinguinen einen einzigen Emiral gab, so umschwebte diesen Grad eine, wenn ich so sagen darf, seltsame Zaubermacht.

Der Emiral gehörte nicht dem Adel zu. Ein Kind des Volkes war er, und das Volk liebte ihn und fühlte sich geschmeichelt, daß ein Mann von niederer Herkunft mit Ehren bedeckt wurde. Chatillon war schön, er war glücklich; er dachte an nichts. Nichts trübte seines Blickes Klarheit.

Der ehrwürdige Pater Agaric fand sich in die Vernunftgründe des Herrn Bigourd, erkannte, daß man die bestehende Staatsform nur durch einen ihrer Verteidiger zerstören werde, und verfiel auf den Emiral Chatillon. Er erbat eine große Geldsumme von seinem Freund, dem ehrwürdigen Vater Cornemuse, der sie ihm seufzend einhändigte. Und mit diesem Gelde bezahlte er sechshundert Fleischergehilfen von Alka, die hinter Chatillons Pferd herlaufen und schreien mußten: »Hoch der Emiral!«

Chatillon konnte nun keinen Schritt mehr tun, ohne daß Beifallsrufe erklangen.

Die Vikomtesse Olive bat ihn um eine geheime Unterredung. Er empfing sie in der Admiralität (oder besser Emiralität), in einem mit Ankern, Donnerkeilen und Granaten geschmückten Pavillon.

Sie hatte ein diskretes, graublaues Kostüm. Ein Rosenhut krönte ihren hübschen Blondkopf. Durch den Schleier glänzten ihre Augen wie Saphire. Im ganzen Adel gab es kein eleganteres Weib als sie, die doch aus der jüdischen Finanz gebürtig war. Schlank war sie und wohlgebaut. Sie hatte die Gestalt des Jahres, die Taille der Jahreszeit.

»Emiral,« sprach sie mit bestrickender Stimme, »ich kann Ihnen meine Erregung nicht verhehlen ... sie ist sehr natürlich ... einem Helden gegenüber ...«

»Sie sind zu gütig. Wollen Sie mir sagen, Frau Vikomtesse, was mir die Ehre Ihres Besuchs verschafft?«

»Seit langem hatte ich den Wunsch, Sie zu sehen, zu sprechen. Daher habe ich gern einen Auftrag an Sie übernommen.«

»Haben Sie doch die Güte, sich niederzulassen!«

»Wie ruhig es hier ist!«

»In der Tat, es ist ziemlich ruhig.«

»Man hört die Vögel singen.«

»Setzen Sie sich doch, meine Gnädigste.«

Und er schob ihr einen Sessel hin.

Sie nahm einen Stuhl, der gegen das Licht stand:

»Emiral, ich komme zu Ihnen mit einer sehr wichtigen Mission ...«

»Reden Sie nur ...«

»Emiral, haben Sie je den Prinzen Crucho gesehen?«

»Nie.«

Sie seufzte.

»Das ist aber schade. Er wäre so glücklich, Sie zu sehen. Er schätzt Sie, er hält Sie hoch. Ihr Bild steht neben dem Bild der Prinzessin-Mutter auf seinem Schreibtisch. Wie bedauerlich, daß man ihn nicht kennt. Er ist ein entzückender Prinz, und er ist so dankbar für das, was man um seinetwillen tut. Er wird ein großer König sein. Denn König wird er werden; zweifeln Sie nicht daran! Er wird wiederkommen, und zwar früher als man glaubt ... Was ich Ihnen zu sagen habe, die Mission, die man mir anvertraut hat, bezieht sich eben auf ...«

Der Emiral erhob sich:

»Kein Wort weiter, gnädigste Frau. Ich habe Achtung vor der Republik und Vertrauen zu ihr. Ich werde sie nicht verraten. Und warum sollte ich? Ich bin mit Ehren und Würden überhäuft.«

»Ihre Ehren, Ihre Würden, teurer Emiral – gestatten Sie mir, Ihnen das zu sagen – entsprechen Ihren Verdiensten durchaus nicht. Wären Ihre Leistungen belohnt, so wären Sie Emiralissimus und Generalissimus, Oberbefehlshaber der Land- und Seetruppen. Die Republik vergilt Ihnen schlecht.«

»Alle Regierungen vergelten mehr oder weniger schlecht.«

»Ja, aber die Dingeriche sind auf Sie eifersüchtig. Die Leute fürchten alle überlegenen Menschen. Sie können die Militärs nicht leiden. Sie hassen alles, was Marine und Armee betrifft. Sie haben Angst vor Ihnen.«

»Wohl möglich.«

»Es sind elende Kerle. Sie ruinieren das Land. Wollen Sie Pinguinien nicht retten?«

»Und zwar wie?«

»Indem Sie alle diese Schurken vom Öffentlichen Ding, alle Dingeriche wegfegen!«

»Was schlagen Sie mir da vor, Gnädigste?«

»Das zu tun, was sicher geschehen wird. Durch Sie oder durch sonst einen. Der Generalissimus, um nur von ihm zu sprechen, ist bereit, alle Minister, Deputierten und Senatoren ins Meer zu werfen und den Prinzen Crucho zurückzurufen.«

»Ah! der Hundsfott, der Kujon!« rief der Emiral.

»Was er gegen Sie machen würde, machen Sie das gegen ihn! Der Prinz wird Ihre Verdienste zu belohnen wissen. Er wird Ihnen den Degen der Konnetabel und eine großartige Dotation verleihen. Bis dahin soll ich Ihnen ein Pfand seiner königlichen Freundschaft übergeben.«

Bei diesen Worten holte sie eine grüne Kokarde aus ihrem Busen.

»Was ist denn das?« fragte der Emiral.

»Crucho schickt Ihnen seine Farben.«

»Wollen Sie das bitte zurücknehmen.«

»Damit man es dem Generalissimus bringt, der sie dann seinerseits behält ... Nein, Emiral, lassen Sie mich diese Farben auf Ihre ruhmvolle Brust heften.«

Sanft wehrte Chatillon der jungen Frau. Doch seit einigen Minuten fand er sie äußerst hübsch; und er fühlte, wie dieser Eindruck in ihm noch wuchs, als zwei nackte Arme und die rosigen Flächen zweier zarter Hände ihn streiften. Alsbald ließ er ihr den Willen. Langsam knüpfte Olive das Band fest. Dann begrüßte sie Chatillon, unter einer großen Reverenz, mit dem Titel Konnetabel.

»Ich war ehrgeizig wie meine Kameraden,« antwortete der Seemann, »ich verhehle es nicht. Vielleicht bin ich es noch. Aber auf Ehrenwort, wenn ich Sie sehe, ist mein einziger Wunsch der nach einer Hütte und einem Herzen.«

Sie umgaukelte ihn mit den verwirrenden Strahlen der Saphire, die unter ihren Lidern glänzten.

»Auch das kann man haben ... Was tun Sie da, Emiral?«

»Ich suche das Herz.«

Nach ihrem Weggang aus dem Pavillon der Admiralität eilte die Vikomtesse sofort zu dem ehrwürdigen Pater Agaric, ihm über ihre Gastrolle Bericht zu erstatten.

»Sie müssen wieder hin, gnädige Frau,« sagte der strenge Mönch zu ihr.


 << zurück weiter >>