Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Neuntes Kapitel

Pater Douillard

In ihrer unendlichen Sanftmut und auf den Wunsch des gemeinsamen Vaters aller Gläubigen beschlossen die Bischöfe, Domherren, Pfarrer, Vikare, Äbte und Prioren von Pinguinien, in der Kathedrale von Alka einen feierlichen Gottesdienst zu begehen. So wollte man von der göttlichen Barmherzigkeit erlangen, daß sie den Unruhen, die eins der edelsten Länder des Christentums zerrissen, ein Ziel setzte, und daß sie dem zerknirschten Pinguinien Verzeihung für seine Missetaten gegen Gott und gegen die Diener des göttlichen Kultus gewährte.

Am fünfzehnten Juni fand die Zeremonie statt. Der Generalissimus Caraguel saß im Kirchenstuhl, von seinem Stab umgeben. Die Versammlung war zahlreich und glänzend; nach einer Äußerung des Herrn Bigourd war sie eine Menge und doch eine Elite. In der ersten Reihe bemerkte man Herrn von La Berthoseille, den Kämmerer Seiner Hoheit des Prinzen Crucho. Nahe bei der Kanzel, auf die der ehrwürdige Pater Douillard vom Franziskanerorden steigen sollte, standen andachtsvoll, mit über ihren Stöcken gekreuzten Händen, die Leuchten des Anti-Pyrotiner-Bundes, Vikomte Olive, Herr von La Trumelle, Graf Cléna, der Herzog von Ampoule und Prinz Boscénos. Pater Agaric hielt mit Lehrern und Schülern der Schule zum heiligen Maël den Chor besetzt. Das Querstück und das Seitenschiff zur Rechten war den Offizieren und Soldaten in Uniform eingeräumt, und zwar als ehrenvollster Standort, weil der Herr, als er am Kreuze verschied, nach rechts den Kopf neigte. Die Damen der Aristokratie, darunter Gräfin Cléna, Vikomtesse Olive und Prinzessin Boscénos, hatten die Tribünen bezogen. Im ungeheuren Schiff und im Vorhof drängten sich zwanzigtausend Mönche aus allen denkbaren Orden und dreißigtausend Laien.

Nach der Reue- und Sühnzeremonie erstieg der ehrwürdige Pater Douillard die Kanzel. Zuerst war die Predigt dem ehrwürdigen Pater Agaric übertragen worden. Doch da man trotz seiner Verdienste fand, daß er nach Glaubenseifer und Doktrin der Aufgabe nicht gewachsen sei, zog man ihm den beredten Kapuziner vor, der seit sechs Monaten in die Kaserne ging, gegen die Feinde Gottes und der Obrigkeit zu predigen.

Der ehrwürdige Pater Douillard wählte als Text: Deposuit potentes de sede und legte dar, Gott sei Grund und Zweck jeder zeitlichen Gewalt, und sie zerstöre sich selbst, falls sie sich von dem Wege abkehre, den ihr die Vorsehung gezeichnet habe, und von dem Zweck, der ihr von dieser bestimmt sei.

Er wendete diese geheiligten Regeln auf die pinguinische Regierung an und entwarf ein schreckliches Bild des Unheils, das die Herren im Lande weder vorauszusehen noch zu hindern vermocht hätten.

»Den ersten Urheber von soviel Jammer und Schmach,« sprach er, »kennt ihr nur zu wohl, meine Brüder. Es ist ein Scheusal, dessen Name schon nach der Absicht der Vorsehung schicksalsvoll ist, denn er kommt vom griechischen pyr, das da heißt Feuer. Die Weisheit Gottes, die manchmal philologisch ist, hat uns durch diese Etymologie gelehrt, daß ein Jude in dem Lande, das ihn aufgenommen hatte, den Brand entfachen sollte.«

Er schilderte, wie das Vaterland von den Verfolgern der Kirche bedrängt werde, und rief über seine Passion die Worte: »O Schmerz, o Ruhm! Die meinen Gott gekreuzigt haben, kreuzigen mich!«

Hier zitterte ein langer Schauder durch die Herzen der Hörer. Der gewaltige Redner schürte die Empörung noch, als er an den hochmütigen Colomban erinnerte, der, schwarz von Verbrechen, in den Fluß getaucht worden sei, dessen Wasser ihn nicht reinigen werde. Alle Erniedrigungen, alle Gefahren für Pinguinien raffte er zu einer Klage gegen den Präsidenten der Republik und seinen ersten Minister zusammen: »Dieser Minister beging eine schmähliche Feigheit, als er es unterließ, die siebenhundert Pyrots mit ihren Helfershelfern und Verteidigern auszurotten, wie Saul die Philister in Gabbaon ausgerottet hat. Unwürdig ist er nun der Macht, die Gott ihm zuwies, und jeder gute Bürger kann und muß hinfort seine elende Souveränität beschimpfen. Seinen Verächtern wird der Himmel günstig sein. Deposuit potentes de sede. Gott wird die zaghaften Führer beseitigen und durch starke Männer ersetzen, die ihn loben. Ich sage Ihnen, meine Herren, ich sage Ihnen, Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten, die Sie auf mich hören; ich sage Ihnen, Herr Generalissimus der pinguinischen Armee, die Zeit ist erfüllt! Gehorchen Sie nicht den Befehlen Gottes, entfernen Sie nicht in seinem Namen die unwürdigen Machthaber, errichten Sie nicht eine religiöse, starke Regierung über Pinguinien, so wird Gott, was er verdammt hat, gleichwohl zerstören, wird er sein Volk gleichwohl erretten; er wird es, wenn Sie nicht für ihn streiten, durch einen niedrigen Handwerker oder einen einfachen Korporal erretten. Bald wird die Stunde vorüber sein. Eilen Sie!«

Durch diese glühende Mahnung begeistert, erhoben sich die sechzigtausend Versammelten in zuckender Begier. Schreie gellten: »Zu den Waffen! zu den Waffen! Tod den Pyrots! Hoch Crucho!« und alle, Mönche, Frauen, Soldaten, Edelleute, Bürger, Gesinde stimmten unter dem übermenschlichen Arm, der sie zu segnen von der Kanzel der Wahrheit sich reckte, den Hymnus an: »Heil euch, Pinguiniens Retter!«, stürzten wild aus der Basilika und marschierten die Kais des Stromes entlang wider die Deputiertenkammer.

Der weise Cornemuse blieb allein in dem verödeten Schiff, hob die Arme gen Himmel und murmelte mit zerbrochener Stimme:

» Agnosco fortunam ecclesiae pinguinae! Ich sehe nur zu deutlich, wohin die Fahrt geht.«

Der Sturm der heiligen Menge auf den Palast der gesetzgebenden Körperschaft wurde abgeschlagen. Durch die schwarzen Brigaden und die Garden von Alka mit kräftiger Ladung empfangen, flohen die Stürmenden ordnungslos dahin. Die Genossen, die, mit Phönix, Dagobert, Laversonne und Varambille an der Spitze, aus den Vorstädten herbeiströmten, warfen sich auf sie und vollendeten ihre Niederlage. Herr von La Trumelle und der Herzog von Ampoule wurden zur Polizeiwache geschleppt. Der Prinz Boscénos fiel nach tapferem Kampf mit zerspaltenem Schädel auf das blutrote Pflaster.

Im Siegesrausch liefen die Genossen, durch ungezählte Straßenschreier vermehrt, die ganze Nacht über die Boulevards, trugen Maniflore im Triumph auf den Schultern und zerschmissen die großen Fenster der Cafés und die Laternenscheiden unter den Rufen: »Nieder mit Crucho! Hoch die soziale Republik!« Die Anti-Pyrotiner kamen hinter ihnen und stürzten Zeitungskioske und Plakatsäulen um.

Es war dies ein Schauspiel, dem die kalte Vernunft nicht beipflichten kann, und das den auf gute Weg- und Straßenpolizei bedachten Stadtvätern Kummer schaffen mußte. Doch am traurigsten war für herzhafte Männer der Anblick jener Duckmäuser, die aus Furcht vor Prügeln sich beiden Lagern gleich fern hielten, und die, so selbstsüchtig und feig sie waren, wollten, man solle ihren Edelmut und ihre seelische Vornehmheit bewundern. Sie rieben sich die Augen mit Zwiebeln, zogen ein Fischmaul, schneuzten sich im Kontrabaß, sprachen mit Grabesstimme, die dumpf aus des Bauches Tiefe drang, und stöhnten: »O Pinguine, stellt diesen brudermörderischen Kampf ein! Lasset ab, den Busen eurer Mutter zu zerfleischen!« Als ob die Menschen ohne Zank und Hader gesellig leben könnten, und als ob der Bürgerzwist nicht die notwendige Bedingung des nationalen Lebens und des sittlichen Fortschritts wäre, rieten diese heuchlerischen Trauerweiden zu Kompromissen zwischen Gerechten und Ungerechten, kränkten sie den Gerechten in dem, was ihm gebührte, den Ungerechten in seiner Verwegenheit. Einer, der reiche, mächtige Machimel, das schönste Exemplar einer Memme, türmte sich wie ein Kolossalbild des Schmerzes über der Stadt. Seine Zähren gerannen unter seinen Füßen zu fischreichen Sümpfen, von seinen Seufzern scheiterten die Fischerboote.

In diesen bewegten Nächten saß Bidault-Coquille oben in seiner alten Baracke unter dem klaren Himmel. Und während von seinen photographischen Platten die Sternschnuppen aufgenommen wurden, rühmte er sich in seinem Herzen. Er focht für die Gerechtigkeit. Er liebte, er wurde mit erhabener Liebe geliebt. Schimpf und Verleumdung gaben ihm Flügel ins Wolkenland. Man sah sein Zerrbild neben denen des Colomban, des Kerdanic und des Obersten Hastaing in den Zeitungskiosken. Die Anti-Pyrotiner druckten, er habe von den jüdischen Großkapitalisten fünfzigtausend Franks bekommen. Die Reporter der militärischen Blätter erkundigten sich bei den offiziellen Gelehrten nach seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit, und diese bestritten, daß er irgend etwas von den Sternen verstehe, zweifelten seine zuverlässigsten Beobachtungen an, leugneten seine sichersten Entdeckungen, verurteilten seine geistvollsten und fruchtbarsten Hypothesen. Er aber frohlockte unter den schmeichlerischen Schlägen des Hasses und des Neides.

Er betrachtete die schwarze Unermeßlichkeit zu seinen Füßen und die vielen Lichter in diesem Meer und ward sich nicht bewußt, wieviel schweren Schlaf, grausame Schlaflosigkeit, eitle Träume, stets zur Verderbnis führende Lust und wie unendlich mannigfachen Jammer eine Großstadtnacht birgt.

»In dieser Riesenstadt,« flüsterte er, »liefern Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich Schlachten.«

Und indem er die vielfältige, rohe Wirklichkeit durch einfache, großartige Poesie ersetzte, stellte er sich den Fall Pyrot unter dem Bild eines Kampfes der guten und der bösen Engel dar. Er harrte auf den ewigen Triumph der Söhne des Lichts und war froh, ein Kind des Tages zu sein, das die Kinder der Nacht in den Abgrund stößt.


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