Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Marbod

Wir besitzen ein wertvolles Denkmal der pinguinischen Literatur im fünfzehnten Jahrhundert. Es ist die Schilderung einer Höllenfahrt, die der Mönch Marbod vom Orden des heiligen Benedikt unternommen hat, der glühende Bewunderung für den Dichter Virgilius bezeigte. Der in recht gutem Latein geschriebene Bericht ist durch Herrn du Clos des Lunes veröffentlicht worden. Hier findet man ihn zum erstenmal ins Französische übertragen. Ich glaube meinen Landsleuten durch die Mitteilung dieser Seiten zu dienen, die zweifellos in der lateinischen Literatur des Mittelalters nicht einzig dastehen. Unter den sagenhaften Erzählungen, die als verwandt gelten können, nennen wir die Reise des heiligen Brendan, Alberichs Traumgesicht, das Fegfeuer des heiligen Patricius, erdichtete Beschreibungen des vermeintlichen Aufenthalts der Toten, wie Dante Alighieris Göttliche Komödie.

Von den Werken mit solchem Gegenstand ist Marbods Bericht einer der spätesten, doch nicht der seltsamste.

Marbods Höllenfahrt

Im vierzehnhundertdreiundfünfzigsten Jahr seit des Gottessohnes Menschwerdung, wenige Tage bevor die Feinde des Kreuzes die Stadt der Helena und des großen Konstantin betraten, ward mir, dem Bruder Marbod, einem unwürdigen Mönch, verstattet, zu sehen und zu hören, was niemand gehört noch gesehen hatte. Über diese Dinge habe ich einen treuen Bericht verfaßt, damit das Gedenken an sie nicht mit mir entschwinde, denn des Menschen Zeit ist kurz.

Am ersten Maitag besagten Jahres saß ich um die Vesperstunde der Abtei Corrigan auf einem Stein des Kreuzganges bei dem von wilden Rosen umkränzten Brunnen und las nach meiner Gewohnheit einen Gesang des Dichters, den ich vor allen liebe, des Virgilius, der die Mühsal der Erde, Hirten und Fürsten besungen hat. Der Abend hängte seines Purpurmantels Falten um die Klosterbogen, und mit bewegter Stimme murmelte ich die Verse, die da zeigen, wie Dido, die Phönizierin, ihre noch frische Wunde unter den Myrten der Schattenwelt umherschleppt. Da ging der Bruder Hilarius an mir vorüber, von Bruder Hyacinth, dem Pförtner, begleitet.

Der Bruder Hilarius ist, da ihn die barbarischen Zeiten vor der Auferstehung der Musen nährten, in die Weisheit der Alten nicht eingeweiht. Jedoch hat die Poesie des Mantuaners wie gedämpfter Fackelschein etlichen Glanz in seinen Geist geworfen.

»Bruder Marbod,« fragte er mich, »gehören diese Verse, die Ihr so herunterseufzt, mit geschwellter Brust und funkelnden Augen, zu jener großen Äneïde, von der Ihr morgens und abends den Blick nicht wendet?«

Ich antwortete ihm, ich läse die Stelle im Virgil, wo der Sohn des Anchises Dido bemerkt, die wie der Mond hinter dem Laub schimmert.Der Text lautet: ... qualem primo qui surgere mense tut videt aut vidisse putat per nubila lunam. Der Bruder Marbod ersetzt in sonderbarer Unachtsamkeit das von dem Dichter geschaffene Bild durch ein ganz anderes.

»Bruder Marbod,« erwiderte er, »ich bin sicher, daß Virgil bei jeder Gelegenheit weise Grundsätze und tiefe Gedanken äußert, doch die Gesänge, die er auf der syrakusanischen Flöte angestimmt hat, haben so schönen Sinn und enthalten eine so hohe Lehre, daß man davon ganz geblendet ist.«

»Nehmt Euch in acht, mein Vater,« rief der Bruder Hyacinth mit Bewegung. »Virgil war ein Zauberer, der mit der Dämonen Hilfe Wunder vollbrachte. So hat er bei Neapel einen Berg durchgraben und ein bronzenes Pferd verfertigt, das die Macht hat, alle kranken Pferde zu heilen. Er war Totenbeschwörer, und in einer Stadt Italiens zeigt man noch heute den Spiegel, in dem er die Toten erscheinen ließ. Und dennoch hat ein Weib den großen Hexenmeister betrogen. Eine neapolitanische Kurtisane lud ihn von ihrem Fenster aus ein, in einem Korb zur Beförderung der Vorräte emporzusteigen. Und die ganze Nacht ließ sie ihn zwischen zwei Stockwerken schweben.«

Ohne daß es den Anschein hatte, als habe er diese Reden gehört, erwiderte Hilarius: »Virgil ist ein Prophet. Er ist ein Prophet und läßt alle weit hinter sich, die Sibyllen mit ihren heiligen Zauberliedern, und die Tochter des Königs Priamus und den großen Ahner der künftigen Dinge, Platon den Athener. Im vierten seiner syrakusanischen Gesänge werdet Ihr die Geburt Unseres Herrn in einer Sprache angekündigt finden, die mehr vom Himmel scheint denn von der Erde.Drei Jahrhunderte vor der Epoche, in der unser Marbod lebte, sang man am Weihnachtstag in den Kirchen:
Maro, vates gentilium
Da Christo testimonium.

Als ich in meiner Studienzeit zum erstenmal: Jam redit et virgo las, fühlte ich mich in unendliches Entzücken versenkt. Doch sogleich spürte ich heftigen Schmerz bei dem Gedanken, daß der Verfasser dieses prophetischen Sanges, des schönsten, der je von Menschenlippen kam, auf immer der Gegenwart Gottes beraubt, in ewiger Finsternis unter den Heiden schmachtete. Dieser grausame Gedanke verließ mich nicht mehr. Er verfolgte mich in meine Studien, meine Betrachtungen, meine Kasteiungen. Wenn mir einfiel, daß Virgil des göttlichen Anblicks verlustig sei und vielleicht in der Hölle das Schicksal der Verdammten teile, hatte ich weder Freude noch Ruhe, und mir widerfuhr, daß ich täglich mehrmals ausrief, die Arme zum Himmel gestreckt:

›Enthülle mir, Herr, welches Los du dem bereitet hast, der auf Erden sang, wie die Engel im Himmel singen!‹

Nach einigen Jahren wich meine Angst, da ich in einem alten Buche las, daß der große Apostel, der die Heiden in Christi Kirche rief, der heilige Paulus, sich nach Neapel begab und mit seinen Tränen die Grabstätte des Dichterfürsten heiligte.

Ad Maronis mausoleum
Ductus, fudit super eum
Piae rorem lacrymae
Quem te, inquit, reddidissem,
Si te vivum invenissem
Portarum maxime!

Dies war für mich ein Grund zu glauben, daß dem Virgil, wie dem Kaiser Trajan, das Paradies aufgetan wurde, weil er im Irrtum die Wahrheit geahnt hatte. Man ist zu dieser Ansicht nicht gezwungen, aber ich rede es mir gern ein.«

Nach diesen Worten wünschte mir der Greis Hilarius den Frieden einer frommen Nacht und entfernte sich mit dem Bruder Hyacinth.

Ich nahm das köstliche Studium meines Dichters wieder auf. Während ich, das Buch in der Hand, nachsann, wie diejenigen, die Liebe an grausamem Leid sterben ließ, tief im Myrtenwald geheime Pfade gehen, irrte der Sternenglanz zitternd über die ins Wasser des Klosterbrunnens entblätterten wilden Rosen. Plötzlich zerrannen der Lichtschein, der Duft und der Friede des Himmels. Ein ungeheurer, mit Dunkel und Wetter geladener Boras ergoß sich brüllend auf mich, hob mich hoch und trug mich wie einen Strohhalm über Felder, Städte, Flüsse, Berge, durch Donnerwolken, während einer Nacht, die aus einer langen Reihe von Nächten und Tagen bestand. Und als nach dieser beständigen, grausamen Wut der Orkan sich plötzlich legte, fand ich mich, weit weg von meiner Heimat, im Schoße eines von Zypressen bewachsenen Tales. Dann nahte mir eine Frau von wilder Schönheit, die lange Schleier schleppte. Sie legte mir die linke Hand auf die Schulter, hob den rechten Arm zu einer dichtbelaubten Eiche und sprach zu mir:

»Sieh!«

Alsbald erkannte ich die Sibylle, die den heiligen Wald des Avernus hütet, und unter dem buschigen Geäst des Baumes, auf den ihr Finger zeigte, gewahrte ich den goldenen Zweig, der der schönen Proserpina genehm ist.

Ich richtete mich empor und rief:

»So hast du, o prophetische Jungfrau, meinen Wunsch erraten und erfüllt. Du hast mir den Baum geoffenbart, der den glänzenden Zweig trägt, ohne den niemand lebendig in die Behausung der Toten dringen kann. Und es ist wahr, daß ich heiß begehrte, mit dem Schatten des Virgil zu reden.«

Also sprach ich, riß vom altertümlichen Stamm den Goldzweig und stürzte furchtlos in den rauchenden Schlund, der zum schlammigen Gestade des Styx führt, an dem die Schatten den toten Blättern gleich wirbeln. Beim Anblick des der Proserpina geweihten Zweiges holte Charon mich in sein Boot, das unter meinem Gewicht ächzte, und ich landete am Totenufer vom stummen Gebell des dreifachen Cerberus empfangen. Ich tat, als schleudere ich nach ihm den Schatten eines Steins, und das nichtige Ungetüm floh in seine Höhle. Da im Rohr quäken Kinder, deren Augen sich geöffnet und zur selben Zeit dem süßen Tageslicht schon verschlossen haben; dort im finsteren Keller richtet Minos die Menschen. Ich drang in den Myrtenwald, in dem sich müde die Opfer der Liebe schleppen, Phädra, Prokris, die traurige Eryphyle, Evadne, Pasiphae, Laodamia und Cenis und Dido die Phönizierin. Dann ging ich über das staubige Feld, das den ruhmvollen Kriegern eingeräumt ist. Von dort gehen zwei Straßen ab: die links führt zum Tartarus, dem Aufenthalt der Gottlosen. Ich schlug die rechts ein, die zum Elysium führt und zu den Wohnungen der Dis. Ich hängte den heiligen Zweig an der Göttin Tür und gelangte auf liebliche, in Purpurlicht gehüllte Fluren. Dort waren die Schatten der Philosophen und Dichter in ernstem Gespräch. Über dem Rasen schwebten Grazien und Musen im Reigen. Der alte Homer sang und begleitete sich auf seiner ländlichen Lyra. Seine Augen waren zu, doch seine Lippen funkelten von göttlichen Bildern. Ich sah Solon, Demosthenes und Pythagoras auf der Wiese den spielenden jungen Leuten zugesellt, und durch die Blätter eines alten Lorbeerbaums bemerkte ich Hesiod, Orpheus, den schwermütigen Euripides und die männliche Sappho. Ich ging vorbei und erkannte den Dichter Horaz, Varius, Gallus und Lycoris, die am Rande eines kühlen Baches saßen. Etwas abseits lehnte Virgil auf dem Stamm einer dunklen, immergrünen Eiche und betrachtete nachdenklich den Wald. Von hohem Wuchs und schmalen Hüften, hatte er noch jene gebräunte Haut, jene ländliche Miene, jene nachlässige Tracht, jenes ungepflegte Aussehen, die, als er lebte, sein Genie verbargen. Ich grüßte ihn fromm und blieb lange sprachlos.

Endlich, als die Stimme in meiner eingeschnürten Kehle frei ward, rief ich:

»O du, der du den ausonischen Musen so teuer bist, du Ehre des lateinischen Namens, Virgil, durch dich habe ich die Schönheit gefühlt. Durch dich weiß ich vom Tisch der Götter und vom Bett der Göttinnen. Verstatte dem Demütigsten unter deinen Anbetern, dich zu loben.«

»Erhebe dich, Fremder,« antwortete mir der göttliche Dichter. »Daß du lebendig bist, erkenne ich an dem Schatten, den dein Leib im ewigen Abendlicht auf die Wiese lagert. Du bist nicht der erste Mensch, der vor seinem Tode zu diesen Behausungen hinabsteigt, obwohl jeder Verkehr zwischen uns und den Lebenden schwer ist. Doch höre auf, mich zu loben. Ich liebe die Lobsprüche nicht; das verworrene Geräusch des Ruhmes hat mein Ohr stets beleidigt. Drum bin ich aus Rom geflohen, wo Müßiggänger und Neugierige mich kannten, und habe in der Einsamkeit meiner teuren Parthenope gearbeitet. Und ferner bin ich, um an deinem Lob Gefallen zu finden, nicht sicher genug, daß die Menschen deines Jahrhunderts meine Verse begreifen. Wer bist du?«

»Ich heiße Marbod und komme aus dem Reich Alka. In der Abtei Corrigan habe ich mein Gelübde abgelegt. Tag und Nacht lese ich deine Gedichte. Um dich zu sehen, habe ich die Unterwelt betreten; mich drängte es, dein Los zu wissen. Auf Erden streiten oft die Gelehrten darüber. Den einen ist es höchst wahrscheinlich, daß du, weil du unter der Macht der Dämonen gelebt hast, jetzt in den unauslöschlichen Flammen brennst. Andere, klügere äußern keine Meinung, da sie alles, was man von den Toten sagt, für ungewiß und lügnerisch halten. Mehrere, die allerdings nicht gerade sehr geschickt sind, schwören, weil du den Ton der sizilianischen Musen erhöht und die Niederfahrt eines neuen Kindes vom Himmel her verkündet hast, seiest du wie der Kaiser Trajan zugelassen worden, im christlichen Paradies die ewige Seligkeit zu genießen.«

»Du siehst, daß dem nicht so ist,« antwortete der Schatten lächelnd.

»In der Tat begegne ich dir, o Virgil, unter den Heroen und Weisen, auf jenen elysäischen Feldern, die du selbst beschrieben hast. So hat denn, ganz dem zuwider, was etliche auf Erden glauben, kein Bote dessen, der droben herrscht, dich gesucht?«

Nach ziemlich langem Stillschweigen sagte er:

»Ich will dir nichts verhehlen. Er hat mich rufen lassen. Einer seiner Diener, ein schlichter Mann, hat mir ausgerichtet, man erwarte mich und, obschon ich in ihre Mysterien nicht eingeweiht sei, sei mir in Ansehung meiner prophetischen Gesänge ein Platz in der Runde der neuen Sekte bestimmt. Doch ich habe mich geweigert, dieser Einladung zu entsprechen; ich hatte keine Lust, umzuziehen. Nicht etwa, daß ich die Bewunderung der Griechen für die elysäischen Felder teile und hier jene Freuden verspüre, um deretwillen Proserpina ihre Mutter vergaß. Was ich in der Äneïde davon sagte, habe ich selbst niemals recht geglaubt. Von Philosophen und Naturforschern gebildet, hatte ich eine zutreffende Ahnung der Wahrheit. Das Leben in der Unterwelt ist in äußerstem Maße verringert; man fühlt sich weder froh noch betrübt, es ist, als ob man nicht wäre. Die Toten haben nur soviel Dasein, als die Lebenden ihnen leihen. Und doch zog ich es vor, hier zu bleiben.«

»Doch welchen Grund hast du, o Virgil, für eine so seltsame Weigerung angegeben?«

»Ausgezeichnete Gründe gab ich an. Ich sagte dem Gesandten Gottes, ich verdiene die Ehre nicht, die er mir bringe, und man vermute in meinen Versen einen Sinn, den sie nicht in sich hätten. In der Tat habe ich nie durch meine vierte Ekloge meiner Vorfahren Glauben verraten. Nur unwissende Juden konnten einem Barbarengott zuliebe einen Gesang deuten, der die von den sibyllinischen Orakeln angesagte Wiederkehr des goldenen Zeitalters verherrlicht. Ich entschuldigte mich also damit, ich könne einen Platz nicht einnehmen, den man mir nur irrtümlich zugedacht habe, und den ich nicht beanspruchen wolle. Ferner wandte ich ein, daß meine Gemütsart und mein Geschmack wohl zu des neuen Himmels Sitten nicht paßten.

›Ich bin nicht ungesellig,‹ sagte ich diesem Mann. ›Im Leben habe ich einen sanften, gütigen Charakter gezeigt. Obschon meine äußerst schlichten Gewohnheiten den Argwohn des Geizes gegen mich erweckten, habe ich nichts für mich allein behalten. Meine Bibliothek war jedem geöffnet, und ich richtete mein Betragen nach jenem schönen Worte des Euripides ein: ›Unter Freunden soll alles gemeinsam sein.‹ Das Lob, das mir lästig war, wenn ich es empfing, wurde mir angenehm, wenn es dem Varius oder dem Macer zufloß. Im Grunde jedoch war ich bäurisch und wild, mir behagte die Gesellschaft der Tiere. So geflissentlich habe ich sie beobachtet, so sehr für sie gesorgt, daß ich, nicht ganz zu Unrecht, für einen sehr guten Tierarzt galt. Man hat mir gesagt, daß die Leute aus eurer Sekte sich eine unsterbliche Seele zubilligten und sie den Tieren verweigerten; das ist ein Unsinn, der mich ihre Vernunft anzweifeln läßt. Ich liebe die Herden und, vielleicht etwas zu sehr, den Hirten. Das würde man bei euch nicht gerne sehen. Einer einzigen Maxime meine Handlungen anzupassen, war ich bemüht: nichts zu übertreiben. Noch mehr als meine schwache Gesundheit hat meine Philosophie mich den maßvollen Gebrauch der Dinge gelehrt. Ich bin nüchtern; aus Lattichsalat und etlichen Oliven nebst einem Tropfen Falernerweins setzte sich meine Mahlzeit zusammen. Mit Maß besuchte ich das Lager der fremden Weiber; und nicht zu lange habe ich dabei verweilt, in der Taverne die junge Syrerin zum Lärm der Klapper tanzen zu sehn.Dieser Satz bedeutet, wie es scheint, daß dem Marbod zufolge die Copa von Virgil wäre. Doch wenn ich mein Verlangen beherrscht habe, so geschah es mir zur Genugtuung und aus guter Zucht. Das Vergnügen zu fürchten, die Wollust zu fliehen hätte mich der verwerflichste Schimpf gedeucht, den man der Natur bereiten kann. Man versichert mir, daß einige Auserwählte deines Gottes zur Zeit ihres Lebens die Nahrung mieden, aus Liebe zur Entbehrung die Weiber flohen und freiwillig sich nutzlosem Leiden unterwarfen. Ich hätte Furcht, diesen Verbrechern zu begegnen, deren Wahnwitz mir ein Abscheu ist. Man soll einem Dichter nicht ansinnen, daß er zu eng einer physischen und moralischen Doktrin sich anschließe. Übrigens bin ich Römer, und die Römer wissen nicht wie die Griechen, tiefe Spekulation subtil zu führen. Wenn sie eine Philosophie übernehmen, tun sie es vor allem, um praktischen Vorteil daraus zu gewinnen. Siron, der unter uns hohen Ruf genoß, hat mich das System des Epikur gelehrt, von nichtigen Schrecken befreit und den Grausamkeiten abspenstig gemacht, welche die Religion unwissenden Menschen einredet. Von Zenon habe ich gelernt, unvermeidliche Übel standhaft zu ertragen. Ich habe mir die Gedanken des Pythagoras über die Seelen der Menschen und Tiere angeeignet, die beide göttlichen Wesens sind; dies lädt uns ein, uns ohne Stolz noch Scham zu betrachten. Von den Alexandrinern erfuhr ich, wie die zuerst weiche und dehnbare Erde um so fester wurde, je mehr Nereus sich daraus zurückzog, seine feuchten Wohnungen zu wölben. Wie sich unmerklich die Gegenstände bildeten. Wie der Regen aus den erleichterten Wolken herabfiel und den stummen Wald speiste, und durch welchen Fortschritt endlich seltene Tiere auf den noch namenlosen Gebirgen umherzuschweifen begannen. Ich könnte mich an eure Kosmogonie nicht mehr gewöhnen, die eher für die Kameltreiber der syrischen Sandwüsten als für einen Schüler des Aristarch von Samos geschaffen ist. Und was soll im Aufenthalt eurer Seligkeit aus mir werden, wenn ich dort meine Freunde nicht finde, meine Ahnen, meine Lehrer, meine Götter, wenn ich den erhabenen Sohn der Rhea dort nicht sehen darf, die süß lächelnde Venus, die Mutter der Äneaden, Pan, die jungen Dryaden, die Silvane und den alten Silen, den Egle mit dem Purpursaft der Maulbeeren wäscht?‹

Diese Gründe bat ich den schlichten Mann, dem Nachfolger des Jupiter vorzutragen.«

»Und seitdem, o großer Schatten, wurden dir keine Botschaften mehr zuteil?«

»Keine.«

»Zum Trost für deine Abwesenheit, Virgil, haben sie drei Dichter: Commodian, Prudentius und Fortunatus, die alle drei in finsteren Tagen geboren sind, wo man von Prosodie und Grammatik nichts mehr wußte. Doch sage mir, hast du, Mantuaner, nie andere Kunde von Gott erhalten, dessen Gesellschaft du so absichtlich verschmäht hast?«

»Nie, soweit ich mich erinnere.«

»Hast du mir nicht gesagt, ich sei nicht der erste, der lebendig zu diesen Wohnungen kam und sich dir vorstellte?« »Du bringst mich dazu, nachzudenken. Vor anderthalb Jahrhunderten, wie mir scheint (es ist für die Schatten schwer, Tage und Jahre zu zählen) wurde ich in meinem tiefen Frieden durch einen seltsamen Besucher gestört. Als ich unter dem fahlen Laub am Rande des Styx irrte, sah ich, wie vor mir eine menschliche Gestalt sich stracks erhob, die noch schattiger und finsterer war als die der Bewohner dieser Gestade. Ich erkannte einen Lebenden. Er war hochgewachsen, hager, mit Adlernase, spitzem Kinn, hohlen Wangen. Seine schwarzen Augen sprühten Flammen, eine rote, mit Lorbeer umkränzte Kappe drückte auf seine entfleischten Schläfen. Seine Knochen stachen durch das knappe, braune Gewand, das bis zu seinen Fersen reichte. Er grüßte mich mit einer Ergebenheit, in der wilder Trotz lag, und richtete das Wort in einer Sprache an mich, die noch falscher war und verworrener als die der Gallier, mit denen der göttliche Julius die Legionen und die Kurie füllte. Endlich verstand ich, er sei nahe bei Faesulae geboren, in einer von Sulla am Ufer des Arnus begründeten und zu Wohlstand gediehenen Kolonie. Er habe die munizipalen Ehren erhalten, doch als zwischen Senat, Rittern und Volk blutiger Zwist ausbrach, habe er sich ungestümen Herzens darein gestürzt. Jetzt sei er besiegt, verbannt und schleppe sich in langem Exil durch die Welt. Er malte mir Italien, das von Zwist und Krieg noch mehr zerrissen sei als in meiner Jugendzeit, und das der Ankunft eines neuen Augustus entgegenseufze. Ich beklagte sein Unglück, dessen gedenkend, was ich selbst ehedem durchgemacht hatte.

Eine wagetolle Seele erregte ihn unablässig, und sein Geist nährte Riesengedanken. Doch, ach! Durch seine Rauheit und Unwissenheit bezeugte er den Triumph der Barbarei. Er kannte weder die Poesie noch die Wissenschaft, nicht einmal die Sprache der Griechen, und besaß über den Ursprung der Welt und die Natur der Götter keine antike Tradition. Ernst sagte er Verse auf, die zu meiner Zeit, in Rom, von den kleinen Kindern verlacht worden wären, die fürs Baden noch nicht zahlen. Der Haufe ist zum Wunderglauben geneigt. Die Etrusker zumal haben die Hölle mit grauenhaften, den Träumen eines Kranken ähnlichen Dämonen bevölkert. Daß die Einbildungen ihrer Kindheit nach so vielen Jahrhunderten sie noch nicht verlassen haben, das erklären hinreichend die Folge und das Fortschreiten der Unwissenheit und des Elends. Aber daß einer ihrer Magistrate, dessen Geist sich über das gemeine Maß erhebt, den Wahn des Volkes teilt und sich ob jener scheußlichen Dämonen entsetzt, die zu Porsenas Zeit die Bewohner dieses Landes auf die Wände ihrer Gräber malten, das muß den Weisen mit Kummer erfüllen. Mein Etrusker sagte mir Verse her, die er in einem neuen Dialekt verfaßt hatte, welchen er die Volkssprache nannte, und dessen Sinn ich nicht enträtseln konnte. Mein Ohr war mehr überrascht als bezaubert, zu hören, daß er, um den Rhythmus zu bezeichnen, dreimal bis viermal in regelmäßigen Zwischenräumen denselben Klang wiederholte. Dieser Kunstgriff scheint mir durchaus nicht geistvoll. Aber den Toten steht es nicht zu, Neuigkeiten zu beurteilen.

Übrigens – nicht daß dieser Kolonist des Sulla, da er in unglücklichen Zeiten geboren ist, unharmonische Verse schreibt, daß er womöglich ein ebenso schlechter Dichter ist wie Bavius und Maevius, nicht dies werfe ich ihm vor. Ich habe gegen ihn Beschwerden, die mich näher berühren. O, wahrhaft ungeheuerlicher und kaum glaublicher Umstand! Dieser Mann hat, zur Erde zurückgekehrt, hassenswerte Lügen über mich ausgesät. An mehreren Stellen dieser wilden Gedichte hat er versichert, ich sei in dem modernen Tartarus, den ich nicht kenne, sein Gefährte gewesen. Dreist hat er veröffentlicht, ich habe die Götter Roms falsche, lügnerische Götter geheißen und den gegenwärtigen Nachfolger Jupiters für den wahren Gott gehalten. Sobald du dem süßen Tageslicht zurückgegeben wirst und deine Heimat wiedersiehst, mache diese abscheulichen Fabeln zuschanden. Sage deinem Volke wohl, daß der Sänger des frommen Äneas nie dem Jugendgott Weihrauch geopfert hat.

Man erklärt mir, seine Macht schwinde, und an gewissen Zeichen erkenne man die Nähe seines Sturzes. Diese Nachricht könnte mir einige Freude schaffen, wenn man in diesen Wohnungen, in denen man weder Furcht noch Verlangen spürt, Freude empfinden könnte.«

Sprach's und entfernte sich mit einer Geste des Abschieds. Ich betrachtete seinen Schatten, der über die Asphodeloswiese hinglitt, ohne die Halme zu krümmen. Ich sah, daß er desto schmaler und zerflossener wurde, je weiter er von mir weg war. Er löste sich auf, bevor er den immergrünen Lorbeerwald erreicht hatte. Da begriff ich den Sinn jener Worte: ›Die Toten haben nur soviel Leben, als die Lebenden ihnen leihen,‹ und gedankenvoll ging ich über die fahle Wiese bis zum hörnernen Tor.

Ich bekräftige, daß alles, was man in dieser Schrift findet, wahr ist.In Marbods Bericht ist eine sehr beachtenswerte Stelle die, wo der Mönch von Corrigan den Alighieri so beschreibt, wie wir uns ihn heute verbildlichen. Die gemalten Miniaturen eines sehr alten Manuskriptes der Göttlichen Komödie, des Codex venetianus, zeigen uns den Dichter unter den Zügen eines dicken Männchens, das mit einer kurzen Tunika bekleidet ist, deren Unterrock ihm bis über den Bauch geht. Virgil trägt noch auf den Holzschnitten des sechzehnten Jahrhunderts den Philosophenbart.
Man hätte auch nicht meinen sollen, daß Marbod und Virgil die etrurischen Gräber von Chiusi und Corneto kannten, wo es in der Tat Wandmalereien gibt, die voll sind von grausigen und burlesken Teufeln, denen die des Orcagna sehr ähnlich sind. Dennoch ist die Echtheit der Höllenfahrt Marbods unanfechtbar. Herr du Clos des Lunes hat sie verläßlich begründet. Ein Zweifel an ihr wäre ein Zweifel an der Paläographie.


 << zurück weiter >>