Anatole France
Die Insel der Pinguine
Anatole France

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Drittes Kapitel

Die Reise des Doktors Obnubilis

Nach einer Folge unerhörter Schicksalslaunen, deren Gedächtnis durch die Unbill der Zeit und den schlechten Stil der Geschichtsschreiber zum großen Teil verloren ist, errichteten die Pinguine eine pinguinische Selbstregierung. Sie wählten einen Ständetag oder Volkstag und versahen ihn mit dem Vorrecht, das Staatsoberhaupt zu ernennen. Dieses wurde unter den einfachen Pinguinen ausgesucht, trug an der Stirn nicht den furchtbaren Kamm des Ungeheuers und übte keine absolute Hoheit über das Volk aus. Es war den Gesetzen der Nation selbst unterworfen. Man gab ihm nicht den Königstitel; hinter seinem Namen stand keine Ordnungszahl. Es hieß Paturle, Janvion, Truffaldin, Coquenpot, Bredouille. Diese Magistrate führten keinen Krieg. Sie hatten keinen Rock dazu.

Der neue Staat bekam den Namen Öffentliches Ding oder Republik. Seine Parteigänger hießen Republikanisten oder Republikaner. Man nannte sie auch Dingeriche und manchmal Gaunerpack. Aber diese letzte Bezeichnung wurde nicht gut aufgenommen.

Die pinguinische Demokratie regierte sich nicht selbst. Sie gehorchte einer Geldoligarchie, die durch die Zeitungen die öffentliche Meinung machte und die Deputierten, die Minister, den Präsidenten in Händen hatte. Souverän ordnete sie die Finanzen der Republik und lenkte sie die auswärtige Politik des Landes.

Kaiserreiche und Königreiche unterhielten damals ungeheure Heere und Flotten; Pinguinien war um seiner Sicherheit willen genötigt, dasselbe zu tun, und ward von der Last der Rüstungen erdrückt. Die ganze Welt beklagte eine so harte Notwendigkeit oder stellte sich, als beklage sie sie. Die Reichen jedoch, Handelsleute und Geschäftsleute nahmen sie guten Muts auf sich, aus Patriotismus und weil sie auf Soldaten und Seeleute rechneten, um ihren Besitz zu verteidigen und draußen Märkte und Gebiete zu erwerben. Die Großindustriellen drangen auf Fabrikation von Kanonen und Schiffen, aus Eifer für die nationale Verteidigung, und um Bestellungen zu erlangen. Von den Bürgern in mittlerer Lebenslage und in den liberalen Berufen schickten sich die einen klaglos in diesen Zustand, da sie glaubten, er werde immer dauern. Die anderen erwarteten mit Ungeduld das Ende und hofften, die Mächte zu gleichzeitiger Abrüstung zu bringen.

Der berühmte Professor Obnubilis gehörte zu dieser zweiten Partei.

»Der Krieg,« sagte er, »ist eine Barbarei, die mit fortschreitender Zivilisation verschwinden wird. Die großen Demokratien sind friedlich gesinnt, und ihr Geist wird bald über die Autokraten selbst Macht bekommen.«

Der Professor Obnubilis, der seit sechzig Jahren in seinem Laboratorium, wohin der Lärm von außen nicht drang, ein einsiedlerisches, abgeschiedenes Leben führte, beschloß, den Geist der Völker selbst zu beobachten. Er begann seine Studien bei der größten Demokratie und schiffte sich nach der Neuen Atlantis ein.

Nach fünfzehntägiger Fahrt dampfte sein Postschiff nachts ins Dock von Titanport, in dem Tausende von Schiffen verankert waren. Eine Eisenbrücke, die über das Wasser hinweggezogen war und hell von Lichtern strahlte, dehnte sich zwischen zwei Kais, die voneinander so entfernt waren, daß der Professor Obnubilis auf den Meeren des Saturn zu fahren und den Wunderring zu sehen meinte, der den Planeten des Greises umschließt. Und dieser riesige Umladeplatz trug mehr als ein Viertel des Reichtums der Welt. Der gelehrte Pinguin stieg aus und wurde in einem achtundvierzig Stockwerke hohen Hotel von Automaten bedient. Dann nahm er die große Eisenbahn, die nach Gigantopolis führt, der Hauptstadt der Neuen Atlantis. Im Zug gab es Restaurants, Spielsäle, Athletenplätze, ein Bureau mit Handels- und Finanzdepeschen, eine evangelische Kapelle und die Druckerei einer großen Zeitung, die der Doktor nicht lesen konnte, weil er die Sprache der Neu-Atlanten nicht verstand. Am Ufer der großen Flüsse lief der Zug Manufakturstädte an, die mit dem Rauch ihrer Öfen den Himmel verdunkelten: Städte, die bei Tag schwarz, bei Nacht rot, unter der Sonne wie in der Finsternis von Getöse erfüllt waren.

»Das Volk hier,« dachte der Doktor, »ist viel zu viel mit Industrie und Handel beschäftigt, um Krieg zu führen. Jetzt schon bin ich sicher, daß die Neu-Atlanten eine Politik des Friedens treiben. Denn es ist ein von allen Ökonomen gebilligtes Axiom, daß der äußere und der innere Friede für den Fortschritt von Handel und Industrie notwendig sind.«

Als er Gigantopolis durchstreifte, wurde er in dieser Ansicht noch bestärkt. Die Leute eilten so hastig über die Straßen, daß sie alles umwarfen, was ihnen im Wege war. Obnubilis, der mehrmals umgeworfen wurde, lernte daraus, sich besser zu betragen. Nach einstündigem Rennen warf er selbst einen Atlanten um.

Auf einem großen Platz sah er die Säulenhalle eines Palastes in klassischem Stil, dessen korinthische Säulen ihre Kapitäle mit dem baumartig wachsenden Akanthus siebzig Meter über das Piedestal erhoben.

Als er unbeweglich, mit zurückgebogenem Kopf, bewunderte, redete ein Mann von bescheidenem Aussehn ihn an und sprach zu ihm auf Pinguinisch:

»An Ihrem Rock sehe ich, daß Sie aus Pinguinien sind. Ich kenne Ihre Sprache; ich bin vereidigter Dolmetsch. Dieser Palast ist das Parlamentshaus. Die Deputierten der Staaten beraten eben. Wollen Sie der Sitzung beiwohnen?«

Auf eine Tribüne geleitet, starrte der Doktor andachtsvoll zu der Menge der Gesetzgeber hinab, die in Rohrsesseln saßen, die Füße auf ihr Pult gestemmt.

Der Präsident erhob sich und murmelte eher, als daß er artikuliert redete, inmitten der allgemeinen Aufmerksamkeit die folgenden Formeln, die der Dolmetsch dem Doktor sogleich übersetzte:

»Nachdem der Krieg zwecks Eröffnung der mongolischen Märkte zur Zufriedenheit der Staaten beendigt ist, beantrage ich, die Rechnungen der Finanzkommission zu unterbreiten ...

Ist jemand dagegen? ....

Der Antrag ist angenommen.

Nachdem der Krieg zwecks Eröffnung der Märkte in Seeland Nummer 3 zur Zufriedenheit der Staaten beendigt ist, beantrage ich, die Rechnungen der Finanzkommission zu unterbreiten ....

Ist jemand dagegen? ....

Der Antrag ist angenommen.«

»Habe ich recht gehört?« fragte der Professor Obnubilis. »Was? Sie, ein industrielles Volk, sind in alle diese Kriege verwickelt?«

»Gewiß,« antwortete der Dolmetsch. »Es sind Industriekriege. Die Völker, die weder Handel noch Industrie haben, sind nicht gezwungen, Krieg zu führen; aber ein Geschäftsvolk muß Eroberungspolitik treiben. Die Zahl unsrer Kriege wächst notwendigerweise mit unsrer produktiven Tätigkeit. Sobald eine unsrer Industrien ihre Erzeugnisse nicht absetzen kann, muß ein Krieg ihr neue Ausgänge öffnen. So haben wir in diesem Jahr einen Kohlenkrieg gehabt, einen Kupferkrieg, einen Baumwollkrieg. In Seeland Nummer 3 haben wir zwei Drittel der Einwohner getötet, um den Rest zu zwingen, uns Schirme und Hosenträger abzukaufen.«

In diesem Augenblick stieg ein dicker Mann, der im Zentrum der Versammlung saß, auf die Tribüne.

»Ich wünsche,« sagte er, »einen Krieg gegen die Regierung der Smaragdrepublik, die unsren Schweinen die Hegemonie der Schinken und Würste auf allen Märkten der Welt unverschämt bestreitet.«

»Was ist denn das für ein Gesetzgeber?« fragte der Doktor Obnubilis.

»Ein Schweinehändler.«

»Ist jemand dagegen?« sagte der Präsident. »Ich bringe den Antrag zur Abstimmung.«

Durch Aufheben der Hände wurde der Krieg gegen die Smaragdrepublik mit sehr starker Majorität beschlossen.

»Wie?« sprach Obnubilis zu dem Dolmetscher. »Über einen Krieg habt ihr so schnell und gleichgültig abgestimmt?«

»O! der Krieg hat nichts zu bedeuten, der kostet kaum acht Millionen Dollars.«

»Und Menschen ...«

»Die Menschen sind in die acht Millionen Dollars einbegriffen.«

Da nahm der Doktor Obnubilis den Kopf in die Hände und sann voll Bitterkeit:

»Da Reichtum und Zivilisation ebenso viele Kriegsursachen in sich bergen wie Armut und Barbarei, da Wahnwitz und Bosheit der Menschen unheilbar sind, so bleibt eine gute Handlung zu vollbringen. Der Weise wird Dynamit genug sammeln, um diesen Planeten in die Luft zu sprengen. Wenn er zerstückelt durch den Raum rollt, wird eine – obschon nicht wahrnehmbare – Verbesserung in der Welt geschehen sein und eine Genugtuung für das Weltbewußtsein, das übrigens nicht existiert.«


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