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64. Kapitel

Keine Sorgen um Karla – Deutsche Briefe nach Langleide – Ein zweites Gedeck auf meinem Tisch

 

Sie sind also wieder einmal beide auf der Jagd, die alten listenreichen Jäger, dachte ich bei mir, als ich die Straße nach Langleide entlang wanderte. Haben sie uns damals als Klienten nicht halten können, so möchten sie uns heute vielleicht als Schuldner fangen. Der Fiete, so jämmerlich er auch tut, ist auch nicht viel besser als sein Herr – sonst hätte er es nicht so viele Jahre bei ihm ausgehalten!

Fast wollte mich Angst überkommen, wenn ich bedachte, daß er jetzt vor Karla stand und sie vielleicht bedrängte und bedrohte.

Aber dann pfiff ich mir eins, ließ die Füße kräftiger rascheln durch das Herbstlaub, wie ich es schon als Kind so gerne getan hatte. Gerade das, womit der Fiete mich hatte schrecken wollen, nämlich die Höhe der Schuldsumme und ihre Art, der Wechsel, gerade das gab mir wieder Vertrauen. Etwas Kleines konnte Karla vergessen, aber nicht einen Wechsel über Fünfzigtausend, und wenn der heute fällig war, so war sie auch auf ihn gerüstet und der Fiete kam ihr nicht unerwartet.

Kräftiger noch wirbelte ich mit den Füßen die welken Blätter auf und pfiff den Staren was vor, die völkerweise auf den Drähten der Telegraphenstangen saßen. Ich dachte: Aus den großen Reisen, die Karla und ich geplant hatten, ist nun auch nichts geworden. Aber laß, eine ganz hübsche Reise habe ich doch gemacht, und meine Sehenswürdigkeiten, Denk- und Mahnmäler, Scheusäligkeiten und Grenzen habe ich besser kennengelernt, als ich es je bei der Lebensversicherung Vira hätte tun können!

Unterdessen war ich nach Langleide gekommen und ging schnurstracks durch das Dorf zum Kantorenhaus, wo man mich erwartete. Erst wurde wie immer Kaffee getrunken und berichtet, was sich seit dem gestrigen Abend ereignet – aber mit Auswahl. So erzählte ich nichts von der Begegnung mit Fiete, die den beiden alten Leuten nur Angst gemacht hätte, und sie erzählten mir nicht, daß Karla wieder einmal dagewesen war. Ich erriet es aber, denn sie wußten plötzlich, daß der Gaugartener Einzugsschmaus am Sonnabend in zwei Wochen sein sollte, und das konnten sie nur von der Karla haben, denn noch nicht einmal die Hanne hatte es gewußt ...

Nachdem wir also auf diese Art unseren Kaffee und unsere offenbaren Heimlichkeiten miteinander gehabt hatten, wie es Menschen aus lauter Liebe gerne tun, standen wir Männer auf und gingen an unsere Arbeit. Das Zimmer des Kantors hatte sich fast in eine Art Büro verwandelt: schwarz und nickelglänzend stand da eine Schreibmaschine, die uns Herr Schwöger aus dem Gutsbüro geliehen hatte. Und neben dem Tisch mit der Maschine war auf der Erde eine große Truhe mit Hunderten und aber Hunderten von Briefen. Das waren aber all die Briefe, die seit fast fünfzig Jahren Langleider Schüler ihrem alten Langleider Lehrer geschrieben hatten.

Wir lasen sie seit Wochen, alle, jeden einzelnen, gekritzelt auf schlechtem Papier in irgendeiner verlorenen Hafenstadt am anderen Ende der Welt, oder mit sorgfältiger Schrift, aus der man noch die Schulbank herausschmeckte, hingemalt auf der ersten Lehrstelle in Radebusch. Hier in dieser Truhe hatten sich fast fünfzig Jahrgänge Landschule ein Stelldichein gegeben.

Aus diesem kleinen Dorf, das auf keiner irgendwie nennenswerten Landkarte zu finden ist, waren sie hinausgegangen in alle Welt, hatten ihre Arbeit getan in aller Welt, hatten Familie begründet da und dort – und hatten doch nie vergessen den kleinen, den fast unsichtbaren Punkt, von dem sie ausgegangen, den Lehrer, der sie die ersten Buchstaben malen gelehrt. Nicht vergessen das Schmiedefeuer in der schwarzen Höhle an der Seite des Dorfweges; nicht vergessen, wie es war, wenn die beiden Glocken im Stuhl das Osterfest einläuteten; nicht vergessen in Nord und Süd, in Heiß und Kalt, in Liebe und Haß, in Oben und Unten, in Klein und Groß, wie der Boden gerochen, von dem sie ausgegangen, wie es war, wenn man um die Schlehdornhecke kam am Reiherberg in Langleide und plötzlich lag unten der Haussee mit seinen drei Inselchen, auf denen die Kühe weideten – nicht vergessen, wie es daheim war.

Wir nahmen die Briefe, einen nach dem anderen, aus der Truhe, entfalteten sie und lasen sie still für uns. Schien es uns aber, daß in einem dieser Briefe ein besonderer Ton war, so lasen wir ihn uns vor, erwogen und überlegten, und schien er uns wichtig, so tippte ich ihn ab, ehe er wieder zurück in die große Truhe wanderte.

Manchmal saß der Kantor Friedemann lange überlegend, und dann sagte er: Reinhardt, Fritz Reinhardt – warten Sie, Herr Schreyvogel! Es muß noch ein Brief von dem Jungen kommen aus Blumenau in Brasilien, damals, als ihm sein erstes Kind geboren wurde. Ich weiß genau, er ging von hier in die Gärtnerei der Herrenhuter nach Gnadenfrei – den kriegen wir noch einmal, und dann wird er uns erst richtig freuen!

Es war ein Gedanke des Kantors gewesen, aus der Spreu dieser Briefe von Menschen, die ein kleines deutsches Dorf in die große ausländische Welt gesandt, den Weizen zu sondern. Es hatte ihn die Befürchtung geplagt, all diese Briefe möchten eines Tages nach seinem Tode ungelesen verbrannt werden. Es schien ihm so viel Kraft in ihnen zu sein und Jugend und Hoffnung und Liebe zu Langleide, das heißt Heimat. Er hatte gemeint, wenn man erst den Weizen für sich gesondert hätte, es könnte so etwas werden wie ein Buch.

Aber des alten Mannes Hand war zu zittrig gewesen für das Abschreiben so vieler Briefe, und sein Mut war auch nicht mehr groß genug, ihn allein hinter eine solche Arbeit zu setzen. Aber da war nun ich – ich war ja dieses Mal nach meiner Hebammensuche wirklich wieder zu ihnen auf Besuch gegangen –, und ich hatte eigentlich nichts Rechtes zu tun gehabt. So hatten wir uns denn gemeinsam darangemacht. Jetzt war der Stoß der abgeschriebenen Briefe schon hoch geworden, viel zu hoch für ein Buch, und wir wußten, wir würden den Weizen noch einmal sieben müssen, und dann vielleicht noch einmal.

Aber das schreckte uns nicht. Die Arbeit freute uns, und was mich anging, so lernte ich auch etwas aus ihr. Ich lernte nämlich von diesen Hunderten von Menschen, daß es Menschenlos ist, vorwärts zu kommen und stille zu stehen, zu steigen und zu fallen. Auf das eine soll man nicht zu stolz, und um des anderen willen soll man nicht zu beschämt sein. Sondern soll weiter gehen und seine Arbeit tun, seine Arbeit immer besser tun, und das Leben lieben, wie es ist, oben oder unten, fremd oder daheim – nicht das eine verachten um des anderen willen.

Oh, diese langen, stillen Stunden beim Kantor Friedemann, wenn die vergilbten Briefe rascheln und der alte Mann behaglich zu erzählen beginnt von den Zeiten, da sie alle noch jung waren, diese Briefeschreiber!

Nein, übermäßig eilige Arbeiter sind wir beide nicht. An manchem Tag bringen wir es nur auf zehn oder zwölf Briefe. Wie schnell wird es doch bei diesem gemächlichen Reden, Lesen, Abschreiben Mittag. Frau Kantor Friedemann ruft uns an den Essenstisch, und da sitzen wir ebenso gemächlich und freuen uns der guten Dinge, die für uns bereitet sind.

Nach dem Essen aber, wenn die alten Leute schlafen, gehe ich in den Wald. Ich wandere hierhin und dorthin, ich stehe still und sehe empor zu den Wolken, tue ein paar Schritt und betrachte im Moos einen Käfer, der seinen Weg verfolgt, vorwärts, nun nach rechts, jetzt links ab, nun zurück, immer mit dem gleichen Eifer. Ich ahne nicht, wohin er will, was ihn so eilig treibt. Ich bin tausendmal so groß und tausendmal so ›intelligent‹ wie er. Aber ich kann diesem Käfer nicht das geringste helfen. Ich möchte es ganz gerne, aber ich kann kein Wunder für ihn tun, ihn mit einem raschen Griff dorthin setzen, wohin er sich wünscht. Aber wie oft habe ich erwartet, daß meinetwegen Wunder geschähen!

Oft komme ich bei diesen Wegen auch zu jener kleinen Tanne, die August Böök mit Lichtern besteckt hatte, vor der wir unser Hasenweihnachten, unser Waldweihnachten feierten. Die kleine Tanne trägt jetzt lange hellgrüne Spitzen statt der Lichter, alle Spuren vom abgetropften Stearin sind verschwunden. Manchmal war es doch schön! denke ich fast trotzig. Nicht alle Stunden waren schlimm ...

Dann gehe ich zurück. Wir trinken Kaffee, und nun sitzen wir wieder bei unseren Briefen. Aber es wird nicht mehr viel aus unserer Arbeit. Die Dämmerung kommt früh, wir reden langsam von dem entstehenden Buch, und unumgänglich kommen wir wieder auf den Titel zu sprechen. Der Kantor meint, das Buch müsse etwa heißen ›Briefe an einen Landlehrer‹. Ich will aber durchaus den Ortsnamen im Titel haben und möchte es ›Deutsche Briefe nach Langleide‹ nennen. Darüber streiten wir uns in aller Ruhe heftig.

Allmählich kommen wir dann darauf, wie es sein wird, wenn das Manuskript des Buches erst fertig ist. Wir treffen eine Auswahl unter den deutschen Verlegern, die wir mit diesem Manuskript beehren wollen, und sachte sind wir nun dabei, auszurechnen, welches Honorar solch ein Buch wohl abwerfen würde. Wir veranschlagen keine sehr hohe Summe, und diese niedrige Summe wird noch geteilt. Zwei Drittel für Friedemann, ein Drittel für mich, so ist es ausgemacht. Und dann erzählen wir uns, was wir mit dem Geld anfangen werden. Wir rechnen genau, auf den Groschen genau, denn alle sollen etwas geschenkt bekommen, zuerst natürlich unsere Frauen ...

Und nur ganz ferne und unwirklich zieht es durch meinen Kopf, daß ich einmal ein Millionär war, der im Geld wühlte. – Ach was! denke ich dann. Dies ist ja ganz anderes Geld, dies Geld ist erarbeitet ...

Über all diesen Beschäftigungen habe ich meinen Fiete natürlich längst vergessen. Erst als ich im Dunkeln nach Hause gehe, fällt er mir wieder ein, und auch da haben seine Listen und Ränke nichts Bedrohliches. Ich beschleunige seinetwegen den Schritt nicht – was können mir und uns die Fiete, Steppe, Kanten noch tun?

Sie meinen ja gar nicht uns, sie meinen ja bloß unser Geld, das nie unser geworden ist. Ich bin überzeugt, er hat Karla weder ängstigen, noch in Verlegenheit bringen können. Ich bin überzeugt, endlich fühlen Karla und ich – trotz äußerer Trennung – wieder gemeinsam. Ich bin überzeugt, auch diese äußere Trennung ist bald vorbei.

Dann trete ich in mein Zimmer, und auf den ersten Blick sehe ich, daß mein Tisch für zwei gedeckt ist. Ich fühle, wie mein Herz bei diesem Anblick freudig schlägt! Ich habe es doch den ganzen Tag schon gewußt, heute geschieht etwas Besonderes! Wer kann sich selbst so einladen wie Karla? Auf wen habe ich so gewartet wie auf Karla –?

Habe ich noch Zeit, mich schnell umzuziehen und zu rasieren, damit ich auch wirklich nett aussehe? Soll ich Hanne fragen, wann sie kommt?

Nein, ich werde Hanne nicht fragen, ich riskiere es einfach mit dem Umziehen! Hanne hat mich hereinkommen sehen, sie hat kein Wort gesagt, wieder ein Beweis, daß es nur Karla sein kann, die mich besucht!

Ach was, ich riskiere es einfach! Und in größter Hast mache ich mich zurecht. Ich bin wirklich gerade fertig, da klopft es gegen meine Tür, Hannes Stimme ruft: Sie bekommen Besuch, Herr Schreyvogel ... Die Tür geht auf ...

*

 


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