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26. Kapitel

Unser Geheimnis: Wir besuchen inkognito Gaugarten – Der Dorftrottel und der zynische Herr Kleibacke – Einlaß in ›unseren‹ Park

 

Der Kantor Friedemann hatte recht getan, schon vor der Feier ein Auge voll Schlaf in Vorrat zu nehmen: es war recht spät geworden, als wir schlafen gingen. So wachten wir auch spät auf, nicht einmal die Mücke hatte uns wachbekommen. Wir waren ein bißchen beschämt; als die Allerletzten setzten wir uns an den Frühstückstisch. Da wird es wenig Hunger geben zum Mittagessen! meinte die Frau Kantor.

Wir mußten ihr nun beibringen, daß wir zum festtäglichen Gänsebraten nicht da sein würden, da wir einen dringenden Besuch zu machen hätten, nein, eigentlich keinen Besuch, mehr eine Besichtigung ...

Oh, was müssen wir der guten alten Frau ärgerlich gewesen sein mit unserer Geheimnistuerei! Aber wir hatten uns nun einmal das Wort gegeben, jetzt noch dichtzuhalten. Wenigstens die Feiertage über wollten wir unser Inkognito aufrechterhalten. Nur der August Böök wußte von unserem Vorhaben, darum war er auch mit der Mücke fortgegangen.

Wir sahen die beiden, als wir uns endlich von der ein wenig beleidigten Frau Friedemann freigemacht hatten. Der August hatte einen Rodelschlitten aufgetrieben: sie fuhren zusammen die Böschung zum Dorfteich hinunter. Die Mücke sah uns vor sausendem Jubel nicht, der Böök aber winkte aus der Ferne unserem Vorhaben Glück zu.

Wir hatten es schon im Palasthotel aus der Karte auswendig gelernt, wie wir zu gehen hatten. Aber das wäre nicht einmal notwendig gewesen, denn am Ende des Dorfes Langleide stand ein Wegweiser: Nach Gaugarten 3,8 Kilometer.

Wir sahen uns an und nickten uns vergnügt zu. Wir hakten uns ein und marschierten fröhlich durch den tiefen Schnee der Straße, in den unsere Füße die allerersten Stapfen drückten!

Auf nach Gaugarten, nach unserem uns so lange zu Unrecht vorenthaltenen adligen Gut, das uns wie ein Paradies winkte nach dem Radebuscher Palasthotel! Hinein in die Selbständigkeit nach der unerträglichen Steppeschen Vormundschaft! Fort aus den neugierigen Stadtstraßen in unseren eigenen Park, der ein Tor hatte, das sich nur öffnete, wenn wir es befahlen!

Dies also war unser zweiter Grund gewesen, warum wir Langleide gewählt hatten. Weil es so schön nah bei Gaugarten lag! Das wir sehen wollten, sehen mußten – ohne daß ein Steppe oder Kalübbe oder Strabow darum wußten!

Ich freu mich so, Kerlchen!

Und ich erst, Maxe!

Hoffentlich lassen die uns rein! Sie dürfen keine Ahnung haben, daß wir –

Nein, natürlich nicht.

Du weißt doch, was Onkel Eduard vom Torhüter geschrieben hat. Von drei Mark aufwärts an läßt er jeden in den Park. Ich habe mir ein Fünfmarkstück in die Tasche gesteckt!

Ach, rede jetzt nicht vom alten Onkel Eduard. Bei uns werden die Leute schon anders werden. Wenn man nett zu ihnen ist, sind sie auch nett!

Kleibacke heißt der Torhüter, jetzt weiß ich es wieder.

Ja, natürlich. Hattest du es denn vergessen? Der erste Diener heißt Karl Andreas Strabow und die Hausdame Fräulein Kluge – ich weiß noch alles!

Siehst du, wir haben doch nichts von dem vergessen, was Onkel Eduard geschrieben hat.

Aber wir haben den Brief nicht zu Ende gelesen! Und das Böse, was er über jeden gesagt hat, will ich vergessen. Ich –

Wir wären beide schon wieder über den Onkel Eduard ins Streiten geraten, gottlob kam der Kirchturm von Gaugarten in Sicht! Es war natürlich ein Kirchturm, wie sie meist in den Dörfern zu sehen sind, eine schlanke, schiefergedeckte Spitze mit einem goldenen Gockel darauf. Aber wir fanden ihn besonders schön, fragten uns, ob wir wohl einen eigenen, wappengeschmückten Kirchenstuhl haben würden, und fanden das Dorf stattlich gelegen, inmitten großer Obstgärten, am Fuß bewaldeter Hänge.

Vom – Schloß ist noch nichts zu sehen.

Schloß! – Das mit den dreißig Zimmern hat sich der Steppe womöglich nur ausgedacht, um uns graulich zu machen. Es wird wohl nur eine größere Villa sein.

Nur! – Nun, wir werden ja sehen!

Also los – ich kann es schon gar nicht mehr abwarten!

Ich auch nicht! Wir wollen laufen; es ist ja ganz egal, noch wissen die nicht, wer wir sind.

Also trabten wir die letzten fünfhundert Meter ins Dorf. Dort aber gingen wir wieder ganz gesittet, auch nicht Arm in Arm, und besahen uns alles gründlich. Die Wahrheit zu sagen: wir waren ein bißchen enttäuscht. Denn Gaugarten ist kein Bauerndorf mit stattlichen Höfen wie Langleide, sondern nur das Anhängsel des Gutes, bestehend aus langen, häßlich roten Arbeiterhäusern, einer recht liederlich aussehenden Schenke und einem öden Kramladen.

Ein wenig abseits, als wollte sie von diesem Dorf nichts wissen, liegt die Kirche mit dem goldenen Gockel, und um sie versammelt, nicht rot, sondern hübsch weiß, nicht verwahrlost, sondern gepflegt einige Häuser, deren Bestimmung wir leicht erraten konnten: Pastorenhaus, Lehrerhaus und Schule.

Nun, was meinst du? fragte ich Karla.

Wir wollen nicht vorschnell urteilen, sagte sie. Aber Langleide finde ich hübscher.

Ich auch. Hoffentlich sieht der Gutshof anders aus.

Aber wie Kirche und Gelehrsamkeit sich ein wenig abgesondert hatten vom gemeinen Dorf, so tat's der hochherrschaftliche Gutshof noch mehr. Als wir ein Weilchen gegangen waren, sahen wir ihn endlich liegen: nach der Straße zu schlossen ihn große hölzerne Gittertore ab. Im weiten Rechteck lagen um die geräumige Hofstatt vielerlei Gebäude, deren Bestimmung wir kaum erraten konnten. Aber im Hintergrund, das langgestreckte graue Gebäude, mit Efeu bewachsen, das war das Schloß!

Gottlob! Es ist nicht ganz so groß, wie ich gedacht hatte!

Siehst du, mehr als fünfzehn Zimmer sind bestimmt nicht drin! Fünfzehn! Zehn oder zwölf vielleicht! Das kann man schon sauber halten!

Ein kleiner Arbeiter im Feiertagsstaat wollte an uns vorbei auf den Hof. Ich fragte ihn zaghaft, ob der Herr Administrator wohl da sei? (Denn wir hatten Angst, ihm zu begegnen.)

Der Kalübbe? Wollen Sie zu dem? Der ist heute bestimmt nicht zu sprechen, der pennt heute – noch von gestern, verstehen Sie? Und er legte eine imaginäre Flasche an die Lippen und gurgelte mit sehr sichtbarem Vergnügen an einem imaginären Schnaps. Was wollen Sie denn von ihm?

Ach, weiter nichts. Wir wollten nur gerne einmal das Schloß besichtigen.

Ich nickte dem efeubewachsenen Hause zu.

Und den Park, erinnerte Karla.

Das Schloß? Denken Sie, das ist das Schloß?! Sie haben aber 'ne Ahnung! Das ist dem Kalübbe seine Bude. Er sah prüfend in unsere Gesichter. Auch ganz nett, was? Aber so fett fiddelt Voß nicht für uns. Abschließend: Also zum Schloß müssen Sie die Straße noch ein Stück weiter gehen. Ich weiß bloß nicht, ob der Kleibacke Sie rein läßt. Der will geschmiert werden. Hier wollen sie alle geschmiert werden. Hier sind sie alle so – ich auch!

Ich ›schmierte‹ ihn mit zwanzig Pfennigen, und im Weitergehen kamen Karla und ich überein, daß dies ›der‹ Dorftrottel gewesen sein müsse, bestimmt konnten nicht alle in Gaugarten so sein! Wir fanden unser ›Inkognito‹ sehr lustig und aufregend, wenigstens versicherten wir uns das immer wieder, aber so recht hatte es uns bis dato in Gaugarten noch nicht geschmeckt.

Wenn sich schon Pfarre und adliger Gutshof vom Dorf separiert hatten, wie viel mehr noch Schloß und Park! Fast fünf Minuten lang gingen Karla und ich an einer hohen Steinmauer entlang, die jeden Einblick in den Park verwehrte. Hoch über uns reichten die entlaubten Zweige uralter Bäume auf die Straße hinaus, wir aber sahen nichts als die schnöde graue Wand.

Und das alles soll einmal uns gehören, sagte ich wider Willen bewundernd und überlegte, welche Kosten das Aufführen (und Instandhalten) solcher Mauer machen müsse.

Das Radebuscher Gefängnis hat auch so 'ne Mauer, meinte Karla kritisch. Bloß sie ist rot statt grau.

Und hat Glasscherben statt Eisenspitzen, ergänzte ich.

Aber nun wurde die Mauer von einem hübschen, rosa getünchten Häuschen mit weißen Stuckschnörkeln unterbrochen – Ah! sagten wir beide bewundernd. Später habe ich erfahren, daß dies Torwärterhaus in einem imitierten Rokoko einfach scheußlich ist, damals fanden wir es wunderschön mit seinen geschwungenen Fensterchen, seinen mannigfaltigen Dächlein, seinen Erkern, Buchten und Winkeln.

Sieh, Maxe, und sogar Blumen hinter den Fenstern!

Pst! Karla, da steht einer!

Das breite, schmiedeeiserne Einfahrtstor war geschlossen, aber in dem zwischen zwei Sandsteinsäulen liegenden Fußgängertürchen stand ein dicker, ältlicher, schwammiger grauer Mann in einer Art blauer Uniform mit Silberknöpfen und sah uns stumm an. Wahrhaftig, wenn je ein Mann zu dem Namen Kleibacke gepaßt hat, war er es.

Guten Tag, sagten wir höflich.

Der Mann sah uns gelangweilt an und entschloß sich schließlich zu der Antwort: Darüber kann man verschiedener Ansicht sein.

Wieso? rief Karla verdutzt. Wohnen Sie nicht in dem netten Haus?

(Als müsse durch solche Wohnung jeder Tag gut werden!)

Ich verstehe immer nett, sagte Herr Kleibacke. Das ist aber nett, sprach der Jäger, als der Hase im Feuer fiel.

Gefällt es Ihnen denn nicht?!

Ihnen möchte das wohl gefallen, sprach Herr Kleinbacke grämlich, hier alle Tage zu stehen, und kein Aas kommt und will in die alte Mottenkiste. – Mir nich, meine Dame!

Damit drehte er sich um und wollte gerade die Tür zuwerfen, als ich rief: Einen Augenblick noch, Herr Kleibacke! Könnten wir uns vielleicht mal den Park und eventuell auch das Schloß ansehen?

Und ich suchte in der Tasche nach meinem Fünfmärker.

Woher kennen wir uns denn? fragte der leicht beleidigte Torhüter. Sie sind mir doch noch gar nicht vorgestellt, junger Mann!

Jemand im Dorf hat uns gesagt, wir möchten uns an Sie wenden. Sie wären uns gerne gefällig! sagte Karla eilig.

Der muß aber 'ne Ahnung von mir gehabt haben! – Na ja, ich sehe, er hat Ihnen doch richtig Bescheid gesagt. Und Herr Kleibacke versenkte das Fünfmarkstück in seiner Tasche. Also Park und eventualiter noch die Gewächshäuser. Aber nicht zu nahe ans Schloß – die mögen das nämlich nicht, die sind da nämlich fein mit Ei im Schloß. Und wenn Sie jemand fragt, was Sie im Park zu suchen haben, so sagen Sie man dreist, Sie sind Besuch von Obergärtner Pipping. Der deckt Sie, der ist wieder nicht so ...

Wir gingen hinein durch die enge Pforte, Herr Kleibacke reichte uns herablassend seine schlaffe Hand. Ein bißchen graulte uns davor, wie nach diesen Ereignissen das richtige Kennenlernen ausfallen würde. Wir hatten die nicht unbegründete Vorausahnung, daß es nicht der Herr Kleibacke sein würde, der sich dann sehr genierte.

Aber schnell entschlugen wir uns all dieser Ahnungen und stürzten uns voll Eifer in die Besichtigung des Parkes, unseres Parkes, unseres herrlichen Eigentums!

*

 


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