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17. Kapitel

Tante Fränzchens Verlobungsgeschenk – Ausfahrt mit der Tante – Die Tante regiert meinen Hofstaat

 

So habe ich denn bei meinem ersten Besuch von Tante Fränzchen nicht mehr zu sehen bekommen als eine große faltige Nase und eine Brille. Und wenn ich mich auch keines weiteren Besuchs bei meiner Tante erinnere bis zu der Verlobungsvisite mit Karla, die ich ihr auf meiner Mutter Wunsch machte, so muß ich sie doch, ohne mich dessen erinnern zu können, in der Zwischenzeit oft gesehen haben. Denn wie ich da mit meiner jungen Braut vor ihr stand, entdeckte ich zu meinem Staunen, daß sie mir wohl bekannt war. Wahrscheinlich habe ich sie oft bei Trauungen, Taufen und Begräbnissen der Familie Schreyvogel gesehen, alles Veranstaltungen, zu deren kirchlichem Teil meine Mutter gerne mit mir ging. Da habe ich sie gesehen, mein Gehirn aber hatte sie nicht mit der bitterbösen Hexe von jenem Bittgang in Verbindung gebracht.

Meine Mutter, die in ihrer sanften Art doch nicht ohne Berechnung war, hatte Karla und mich sehr gebeten, bei der wichtigen Tante Besuch zu machen. So etwas war bei Mutter wie der Kauf eines Lotterieloses: vielleicht, vielleicht würde man doch etwas gewinnen. (Genauso hat sie uns später dazu gebracht, unsere kleine Mücke Eduarda zu taufen.)

Uns war die Tante gar nicht wichtig – aber warum sollten wir Mutter nicht schließlich den Gefallen tun? Auf dem Wege erzählte ich Karla von dem frühen Bittgang zur Tante, und Karla empörte sich sehr, wollte aber vor allem wissen, wie mein Vater sich damals aus der Klemme geholfen hatte. Ich wußte es nicht, meine ganze Kindheit lang waren wir eigentlich von einer Klemme in die andere geraten, bis in meinem dreizehnten Lebensjahr mein Vater starb und Mutter und ich erfuhren, was wirkliche Not ist.

Vor der Tür fielen mich all die Erinnerungen von damals wieder an, ich hatte nichts vergessen, weder die blanke Messingklappe, noch den Spion, noch das Guckloch in der Tür. Es war alles noch da, nur zeigte jetzt das ›hohe‹ Guckloch auf meine Brust.

Als die Kette rasselte, flüsterte Karla mir noch eilig zu: Du, aber das Kreuz verrenke ich mir nicht für so 'ne Tante!

Einverstanden! gab ich zurück.

Aber dann ging alles vorzüglich. Die Tante, ganz zusammengedörrt wie eine alte Backpflaume, aber mit sehr lebendigen, wachen Augen in dem kleinen Vogelkopf, hüpfte und flatterte in der Stube um uns und sprach aus lauter verstellter Liebenswürdigkeit ihr Hannöversch so verdreht, daß es uns ganz munter machte: Ach tjä, ühr lüben Kinder –! Tjä, groß seid ühr öber geworden! – Und dü lübe Braut, wü dü Rose von Jerüchö! –

Sie flatterte aus dem Zimmer, um uns etwas, ›was auch jungen Mönschen bekömmt‹, zu holen, und Karla fand Zeit, mir zuzuflüstern: Ich werd' sie nie Tante Fränzchen nennen, ich nenne sie Tante Frätzchen.

Die Tante kam wieder geflattert mit zwei Glastellerchen, auf denen bröselige Stückchen Sandkuchen lagen; ich wollte ›Danke sehr, Tante Fränzchen‹ sagen, brachte es aber nicht recht heraus, weil Karla mir so auf den Mund sah. Es wurde ein Zwischending aus Fränzchen und Frätzchen. Um unsere Fassung war es geschehen ...

Aber die Tante war schon wieder enthüpft und kam mit zwei grünlichen Gläsern wieder, in denen sie ein Getränk hatte, das sie selbstgemachten ›Scherrü‹ nannte. Sie versetzte Karla das Rezept, und Karla sagte brav: Danke, Tante Fränzchen – Jawohl, Tante Fränzchen, und bei jedem ganz sauber ausgesprochenen Fränzchen trat mich Karla auf den Fuß, und so wußte ich, eigentlich meinte sie Frätzchen, und das erfüllte uns beide mit der tiefen, albernen Heiterkeit aller jung Verlobten ...

Auch die Tante war heiter. Sie hatte wohl längst durch Erkundigungen erfahren, daß wir beide solide junge Leute waren. Sie sprach von ihrem einsamen Dasein, dem lieben verstorbenen Onkel ›Röt‹, womit sie den vor gut dreißig Jahren verblichenen Regierungsrat meinte. Sie war gewärtig, ihm schon sehr bald nachzufolgen (Seht euch einmöl meune Ruhestötte auf dem Früdhof an, lübe Kinder!), und daß sie vorhabe, alle wohlgesinnte Verwandtschaft lüb zu bedönken ...

Als wir gingen, drückte sie Karla ein kleines Seidenpapierpäckchen in die Hand: Für deunen Schmuck, lübes Bräutchen! – Nachdem wir viele Hüllen abgeschält hatten, kam ein silbernes, längst verfallenes Markstück hervor, in das jemand ein Loch geschlagen hatte. Karla verlor es aus Versehen – mit Absicht – noch am gleichen Tage.

Dies also war unser erster Besuch bei Tante Fränzchen gewesen, und wir hatten gedacht, damit sei der Verwandtschaft Genüge getan. Wir brauchten Tante Fränzchen nicht, wir hatten uns immer so durchgeholfen, und das lübe Bedönken lockte uns nicht ...

Aber die Tante dachte anders, und gegen Matz und Steppe erreichte sie als einzige in der Verwandtschaft ihr Ziel. Freilich ging sie auch nicht hitzig, nicht neidisch, nicht gierig wie unsere anderen Verwandten vor. Sondern sie lag auf der Lauer, wartete, beobachtete, ließ sich von jedem berichten, was er mit uns erfahren, und kannte so unsere Bewachung vielleicht besser als wir.

So war sie völlig überzeugt, daß weder Briefe noch Besuche gegen unsere Wächter etwas ausrichten würden, und überrannte sie durch einen richtigen Straßenjungen, der uns atemlos ansprach, als wir gerade in das Lohnauto zu unserer Spazierfahrt steigen wollten.

Die Botschaft des Jungen war nicht nur atemlos, sie war auch wirr. Ich konnte ihr nicht entnehmen, ob Tante Fränzchen bloß krank war oder schon in den letzten Zügen lag, wer ihn eigentlich geschickt hatte, was von uns erwartet wurde. Sicher blieb nach allen Fragen nur eines: Und Sie sollen mir zwei Groschen für den Weg geben!

Aus diesem Satz erkannten wir die authentische Tante Fränzchen. Tante Frätzchen! sagte Karla ergriffen; wir gaben dem Jungen zwei Groschen und richteten unser Auto statt ins Freiland auf Tante Fränzchens Quartier.

Die Tante stand schon wartend vor der Tür. (Sie hatte alles vorausberechnet.) Lübe Künder! rief sie ergriffen. Ich bin ja so glöcklich, daß ühr euner alten Frau noch düsen Wunsch erfüllt! Ich komme ja gar nücht mehr aus meunen vür Wänden!

Sie überrumpelte uns, schon saß sie bei uns im Wagen.

Kutschörr! sagte sie (sie beharrte auch in der Folge darauf, den Chauffeur Kutscher zu nennen). Kutschörr! fahren Sie uns an den löngen Söh!

Der Chauffeur sah mich an, ich nickte. Wir fuhren.

Lübes Mädchen, sagte die Tante zu Fräulein Kiesow, die in stummem Protest mit der Mücke ganz zur Seite gerückt war. Lübes Mädchen! Ich höre, Sü bekommen eun immenses Gehalt: Achtzig Mark monatlich netto – (Ich erfuhr dies erst durch die Tante, bisher hatte ich es noch nicht erfahren). Da dürfte Edwardchen nicht so schwarze Fingernägel haben! Sü tun doch auch Ühre Pflücht, lübes Kind?

Nachdem Fräulein Kiesow so ihren Dämpfer weg hatte und ihr gezeigt worden war, was Tante Fränzchen konnte, wandte sie sich wieder strahlend an uns: Was hat der Roland von euch verlangt, meune Guten? Wüvül Geld?

Ich wußte von keinem Roland.

Nu, der Böngel, den ich euch geschickt habe! Roland Burlander!

Sie schien leicht entrüstet, daß wir ihn nicht kannten.

Wir hatten verstanden, du seiest krank, Tante Fränzchen, sehr krank?

Hat dör Böngel wüder übertrüben? Tjä, er ist ein guter Böngel! Übrigens ein alter Mönsch ist immer krank! Was hat ör verlangt?

Zwei Groschen, Tante Fränzchen!

Und ühr habt sü ihm gegöben! Ühr werdet euer Geld schnöll alle haben! Zwei Groschen – ich habe ühm von euch fünf Pfönnige versprochen.

Sie murmelte empört vor sich hin, ihre große Nase zuckte dabei, die Mücke sah es mit tiefer Freude. Karla trat mich ständig auf den Fuß, nicht Mücke allein war erfreut.

Man lacht nicht über alte Leute, verwies Fräulein Kiesow in hörbarem Flüstern.

Üch bin eine Dame, lübes Kind, keun Leut! Und man rückt nücht in die Öcke vor ölteren Damen! Und so was löhrt Künder! –

Fräulein Kisow – ich sah mit Vergnügen, daß die Tante ihrer Anmaßung gegenüber völlig den richtigen Ton getroffen hatte – verzog empört den Mund, wollte etwas antworten, besann sich aber und sah aus dem Fenster.

Zühen Sü keunen Fluntsch, lübes Mädchen, seuen Sie mür dankbar, daß üch müch um Ühre Erzühung sorge! Sü sünd doch von den Küsows in Varnkevitz –?

Fräulein Kiesow murmelte etwas Unverständliches.

Ühr Vatersbruder hatte sich vor vier Jahren zweitausend Mark von mir gelühen, lübes Kind. Da war er höflicher zu euner alten Dame!

Nachdem sie so Fräulein Kiesow endgültig zerschmettert hatte – sie wagte es nie mehr, in Gegenwart der Tante die Mücke zu ›erziehen‹ –, kamen wir daran. Und wü fühlen wür uns, meune Lüben, als Reiche? Als Müllionäre? Ausgebeutelt, wü? Üch jagte das ganze Pack zum Teuful, was braucht ühr so vüle Mönschen! Alles Beutelschneudörr!

Aber die Tante schalt nicht nur bei dieser Ausfahrt und diesem Spaziergang, im Gegenteil, sie erwies sich als äußerst amüsant. Sie wußte viel mehr von den Vorgängen um uns herum, als wir selbst. Sie erzählte uns herrliche Geschichten, wie Herr Matz Tante Minna abgefertigt hatte, und was Tante Minna dann hinterher in ihrer Wut über Herrn Matz (und über uns) gesagt hatte. Sie kannte alle Darlehensgesuche, die aus der Verwandtschaft an uns gerichtet worden waren, und sie stimmte uns lebhaft zu: Rüchtüg, daß ühr gar nüchts göbt – dü wollen euch nur ausbeuten! Üch könne sü – alles Faulönzör und Beutelschneudörr!

Eigentlich war es ja alles Gift, was sie in uns spritzte. Sie verdarb uns den letzten Glauben an das Anständige im Menschen. Aber sie war so amüsant dabei, sie steckte so voller Geschichten aus der Verwandtschaft, sie schilderte die uns sehr gut bekannte Schreyvogelsche Mischung aus Bescheidenheit und Unverschämtheit, aus Sparsamkeit und Verschwendung so treffend, daß wir aus dem Lachen nicht herauskamen.

Tante Fränzchen hatte auch noch Onkel Eduard als Jungen gekannt, als er noch kein böser, reicher, alter Mann gewesen war. Sie erzählte, wie ihr der Onkel in seinen und ihren Jugendtagen nachgestrichen sei, wie sie ihn verräterisch in einen Teich mit Entengrütze gelockt hatte, den er in seiner Kurzsichtigkeit für eine Wiese gehalten hatte, und wie der reiche, gefürchtete Onkel Eduard regelrecht Dresche für seine beschmutzten Kleider bekommen hatte – als Junge!

Üch tat so, als wöllte üch müch hünsetzen, und er sötzt süch. Er dönkt, er sötzt sich ins Gras und sötzt sich in Öntengrütze und Wassör. Was habe üch gelacht!

Was lachten erst wir! Es war wie eine Erlösung, das Schreckgespenst Onkel Eduard, das uns nur Böses hatte antun wollen, verlor etwas von seinem Gespensterhaften, bekam Fleisch und Blut ...

Spöter üs Eduward möhr meuner Schwöster Hannchen nachgestügen, dü war noch schlümmer als üch! Eunmal, unser Haus wurde gerade gölb getüncht, grüff sü dü Tüte voll Ocker und bestreute ühn damit. Dann tat sü so, als wollte sü ühn abwaschen: er kam wü ein Gölbsüchtiger nach Haus!

Wir gerieten gar nicht darauf, daß all ihre Geschichten von Schadenfreude strotzten. Schadenfreude schien ihr die höchsten Genüsse im Leben gewährt zu haben. Tante Frätzchen war ein Labsal für uns. Wir verabredeten, daß wir sie Ende der Woche wieder abholen wollten.

Aber die Tante wartete nicht so lange. Jetzt, da sie uns kannte, fühlte sie sich stark genug, auch die Schanzen unserer Befestigung zu überrennen. Eines Nachmittags wurden wir in unserem Zimmer von einem grellen Gehupe aufgeschreckt. Wir stürzten ans Fenster: unten stand die Tante, hatte in ein leer vor dem Hotel wartendes Auto gelangt und hupte!

So war sie. Sie war nicht altmodisch, bei unserer Ausfahrt hatte sie gesehen, wie eine Hupe bedient wird. Herr Matz und der Portier hatten sie abgewiesen, also hupte sie Alarm.

Natürlich gewann sie die Schlacht. Ich holte sie persönlich zu uns herauf und wies Herrn Matz an, die Tante jederzeit bei uns vorzulassen. Die Tante sah Herrn Matz durchbohrend an und sagte: Sehen Sü, Jünglüng?! Habe üch es Ühnen nücht gesagt? Und was haben Sü gesagt?

Herr Matz murmelte etwas. Er habe die Weisung, niemanden ohne schriftliche Anmeldung vorzulassen ...

Üh, wör rödet von so was! Die Tante funkelte noch mehr. Was Sü gesagt haben, vorgestern Öbend, im Tucher, am Bürtisch?

Herr Matz wurde rot.

Pfui! Sü! Üch würde müch doch in acht nöhmen! Von Ührem Brothörrn so zu röden!

Herr Matz, noch röter, versuchte, etwas von einem Mißverständnis zu sagen.

Zeugen! Wollen Sü, daß üch Ührem Brothörrn Zeugen nenne! Göhen Sü, junger Mönsch, und arbeiten Sü rödlich! – Kommt, lübe Kinder!

Ich habe natürlich nie danach gefragt, wie Herr Matz mich am Biertisch im Tucher tituliert hat. Wahrscheinlich wird er mich etwas wie ›junger Esel‹ genannt haben, und eigentlich hat er ja damit recht gehabt. Indes, Tante Fränzchen hatte gesiegt, sie kam von jetzt an anstandslos bei uns vor, und sie besuchte uns oft.

*

 


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