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57. Kapitel

Warten und Warten – Zaungast am Dorfkrug – Ich schicke mich in Geduld

 

Dieser Tag ging herum. Wie alle Tage unseres Lebens ging er schließlich herum – ich weiß aber nicht mehr, wie ich ihn hingebracht habe. Nur daß ich an seinem Ende mein Zimmer haßte, wie vielleicht nur ein Gefangener seine Zelle haßt, um all der Qualen willen, die er darin erduldet.

Gegen acht kam Hannes Schwester zur Ablösung, und Hanne machte sich bereit, in den Krug zu gehen. Ich sagte ihr noch einmal – zum wievielten Male! – daß sie unbedingt nach ihrer Rückkehr zu mir aufs Zimmer kommen und mir berichten solle. Ich werde bestimmt noch wach sein, werde es auch noch so spät!

Sie versprach es und ging. Dann sah ich, hinter der Gardine versteckt, den Ausmarsch der Schloßinsassen. Alle kamen sie vorbei, vom würdigen Strabow an, der natürlich für sich ging, bis zu den Küchenmädchen, die in einem kichernden Rudel vorbeistrichen. Nicht ferne folgte die rauh redende, rauchende Horde der Stallburschen. Dann, wenige Minuten vor acht Uhr, fuhr August Böök mit dem Wagen vorbei. Der Wagen war trotz des schönen Sommerabends geschlossen, und ich bildete mir ein, Karla habe meinetwegen das Verdeck hochschlagen lassen, damit ich sie nicht sähe!

Ich hatte mir zurecht gelegt, daß die Versammlung etwa bis zehn Uhr dauern werde. Aber ich merkte bald, daß ich keine Ruhe hatte, so lange im Zimmer zu sitzen. Eine Viertelstunde vertrödelte ich mit Hannes Schwester beim Mühlenspiel. Doch bald ärgerte ich mich über das Kind, das aus lauter Ehrfurcht vor dem Schloßherrn seine Steine nicht richtig zu setzen wagte, und schlich mich in den Kleibackeschen Garten.

Eine Weile stand ich dort, es dämmerte schon stark, der Tau fiel, die Vögel gingen zur Ruhe. Dann litt es mich auch dort nicht mehr, durch eine Lücke in der Hecke zwängte ich mich, kletterte über den niedrigen Staketenzaun und stand im Park.

Ich besann mich nicht lange, ich durchbrach den zwischen Karla und mir abgeschlossenen Vertrag, überschritt die Bannmeile und stand vor dem großen, dunklen Würfel des Schlosses mit dem klobigen, stumpfen Turmpfeiler. Ich sah lange darauf. Dies zu besitzen, war ein Traum gewesen, und dieser Traum hatte sich erfüllt. Und doch nicht erfüllt! Ich war nie der richtige Besitzer geworden, ich war nur ein Gast gewesen – und jetzt war ich auch das nicht mehr! Nun lag es wieder wie früher: dunkel und unbetretbar, und wie alle schwachen Menschen dachte auch ich: Hättest du doch ... und: Wenn das nicht gewesen wäre ...

Unter den dunklen Fensterhöhlen suchte ich jene, hinter denen die Mücke schlief. Sehnsucht faßte mich, zu ihr hinaufzuschleichen, wenigstens ihr gute Nacht zu sagen. Aber es ging nicht. Selbst dies ging nicht! Karla war eine viel zu besorgte Mutter, Mücke allein in dem großen Haus zu lassen. Sicher war mindestens Isi bei ihr.

Wie ich da noch so stehe und das Schloß betrachte, vom Heimweh nach etwas gepackt, das nie ein Heim war, überfällt mich plötzlich der Gedanke: Sicher hat Karla nach mir geschickt! Es ist unmöglich, daß sie eine solche Versammlung ohne den Gutsherrn durchführen, schon des Dekorums halber brauchen sie mich.

Im Trab renne ich zurück zum Pförtnerhaus, klettere über den Zaun, zwänge mich durch die Heckenlücke, schleiche ins Haus, in mein Zimmer. Dann steige ich laut die Treppe hinunter und gehe in die Pförtnerstube. Hannes Schwester schreckt von dem Sofa hoch, auf dem sie eingenickt ist. Ich frage sie, ob jemand telefoniert hat, es sei mir so gewesen, als habe eben das Telefon geklingelt.

Sie sieht ängstlich den Apparat an und versichert, nein, es habe nicht geklingelt, bestimmt nicht. Sie habe sich gerade erst in diesem Augenblick hingelegt. – Ob denn jemand dagewesen sei? Nein, es sei auch niemand hiergewesen. Ich empfehle ihr Wachsamkeit und gehe wieder auf mein Zimmer.

Es ist jetzt halb zehn, die Versammlung muß bald zu Ende sein. Und doch möchte ich noch immer hoffen. Ich will so gerne hoffen. Noch niemals hat Karla in unserer Ehe etwas getan, an dem ich nicht habe teilnehmen dürfen. Und wenn sie nur ein paar Kinderstrümpfchen gekauft hat, ich habe mitgehen müssen! Nun führt sie so etwas Großes – was es auch sei – durch, ohne daß ich dabei bin. Der Gedanke will nicht in meinen Kopf, daß es vorbei sein soll mit unserer guten Gemeinsamkeit! Vorbei, endgültig vorbei – unmöglich!

Es darf nicht vorbei sein, spricht es in mir. Zum erstenmal rühren sich in mir ein paar Erinnerungen, daß ja schließlich ich es zuerst gewesen bin, der sich gegen unsere Gemeinsamkeit vergangen hat. Wie ich sie belogen habe, fällt mir ein. Plötzlich denke ich daran, wie lange es her ist, daß ich sie Kerlchen genannt habe, immer nur Karla ... Wo ist das alles nur hin?!

Ich halte es nicht mehr aus im Zimmer. Wieder laufe ich durch Garten und Heckenlücke in den Park, aber diesmal nicht zum Schloß, sondern auf Seitenwegen, über Wiesen und Koppeln schleiche ich mich am Gutshof vorbei zum Dorf.

Hell sind die Fenster des Gasthofs erleuchtet, hinter ihnen ist Karla. Aber ich darf nicht näher. Die Dorfkinder stehen davor, sie spähen durch die Gardinen in den Saal, sie wollen wenigstens als Zaungäste an dem großen Ereignis teilnehmen – wie ich!

Lange stehe ich da auf der Koppel und sehe hinüber. Ich wundere mich über die vielen Autos, nicht nur Karlas Wagen steht dort, es halten fünf Autos vor dem Gasthof! Es muß wirklich etwas Außergewöhnliches sein, was dort geschieht. Nein, kein Fest. Zu einem Fest gehört Musik, und den fröhlichen Lärm der Musik würde ich auch hier draußen auf der Koppel hören. Es muß etwas anderes sein ...

Nachher sitze ich lange in meinem Zimmer. Es wird elf, ja, es wird sogar zwölf, ehe Karlas Wagen durch das Tor fährt. Dann kommt der lange Zug der Schloßinsassen vorüber, die Älteren jetzt im eifrigen Gespräch, die Jugend aber in Pärchen aufgeteilt. Die Stalljungen reden nicht mehr männlich laut und rauh, sondern sie flüstern. Und die Pärchen gehen nicht etwa die Lindenallee zum Schloß hoch, sondern sie verlieren sich gleich hinter dem Tor in die dunklen, lauschigen Seitenwege. Oh, unbeschwerte Jugend, die noch sorgenlos den Zauber einer Sommernacht genießen kann – wie lange ist es her, sechsundzwanzigjähriger Max Schreyvogel, daß du zu ihr gehörtest –? Wie kurz ist es her!

Ich erkundige mich noch einmal unten in der Pförtnerstube: Nein, Hanne ist noch immer nicht zurück.

Vielleicht schläft Hanne heute zu Haus, sagt die Schwester tröstend. Sie glaubt, ich mache mir Sorgen wegen Hanne.

Weiter warten, warten, warten – als Allerletzter werde ich die Nachrichten bekommen! Nein, ich ziehe mich nicht aus. Hanne muß kommen, sie darf nicht zu Haus schlafen, sie weiß, ich warte auf sie. Aber es ist schwer für mich, den verwöhnten Mann, dieses geduldige Warten, es ist schwer, einmal nicht die erste Geige zu spielen, nicht einmal die letzte!

Dann, es ist schon eins, höre ich Hanne kommen. Ich höre sie unten endlos lange mit der Schwester schwatzen, ziemlich aufgeregt, scheint mir. Es vergehen zehn Minuten, fünfzehn Minuten, ich bezwinge mich, ich gehe nicht nach unten, ich warte weiter – dieses geduldige Warten gehört jetzt zu dem Neuen, das in mir zu wachsen beginnt. Dann klappt endlich die kleine Gitterpforte: die Schwester ist gegangen.

Ich warte weiter. Hanne wirtschaftet noch unten, ich höre es. Sie macht sich vielleicht noch ein bißchen zurecht, ehe sie zu mir kommt. Dann sehe ich von meinem Fenster aus, wie der helle Lichtkegel aus Hannes Fenster erlischt. Hanne ist ins Bett gegangen!

Mein erster Impuls ist natürlich, hinunter zu laufen, scheltend von ihr die Nachrichten zu fordern, die ich so lange erwartet habe. Aber ich laufe nicht. Ich ziehe mich aus, gehe ins Bett und lösche das Licht. Ich liege noch lange grübelnd wach, schließlich schlafe ich ein.

Ich weiß heute, es waren nicht nur verletzte Eitelkeit, Trotz, falsche Scham, die mich abhielten, nach unten zu gehen und zu fragen. Es war der Anfang davon, daß ich die Last auf meine Schultern nahm. Es war die erste Einsicht, es mußte nicht immer nach meinem Kopf gehen.

Aber ich weiß auch, es war eine der längsten und dunkelsten Nächte in meinem Leben. Wie alle Anfänger übertrieb ich es – auch in der Trauer. Ich wußte noch nicht, daß auch hinter der dunkelsten Nacht eine Sonne steht, leuchtend, bereit schon, aufzugehen ...

*

 


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