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22. Kapitel

Wir haben ein schlechtes Gewissen, aber die anderen nicht minder – August Böök notiert eine ›Wucht‹ – Die Fragwürdigkeit des Daseins

 

Ich weiß nicht, was ohne August Böök aus unserer Langleider Weihnachtsfahrt geworden wäre. Fast möchte ich annehmen – so wenig rühmlich dies klingt –, ich wäre ohne ihn nie all der Schwierigkeiten Herr geworden, die sich diesem Unternehmen entgegenstellten.

August Böök war es, der uns einen Koffer ins Hotel schmuggelte und sich dazu. August Böök besorgte die Fahrkarten, August Böök machte die Weihnachtseinkäufe, und August Böök war es, der am Morgen des Weihnachtstages – es war aber erst vier Uhr und tiefe, rabenschwarze Dunkelheit – auf dem Schuppendach erschien und sagte: So, Chef, jetzt wäre es soweit. Ich habe eine Leiter für Sie angesetzt, Chefin, Lütte, du wirst auf Onkel Bööks Rücken reiten, magst du das? Geben Sie mir man den Koffer, Chef. Bis die Mücke angezogen ist, habe ich ihn schon auf der Straße ...

Ehe es aber so weit war, gab es noch einen höchst dramatischen Augenblick, als Herr Matz mit unaufschiebbarer Post noch spät in unser Zimmer eindrang – und August Böök war darin! Ich sehe mich, anscheinend tief beschäftigt über die Briefe gebeugt und dabei angstvoll nach dem Riegel mit den Bademänteln schielend: einer dieser Bademäntel verbarg höchst unvollkommen unseren Verschwörer Böök –!

Plötzlich erstarre ich, denn ich sehe unter dem Saum eines Bademantels die blauen Matrosenhosen August Bööks mit sehr schmutzigen Schuhen darunter! Ich verwickle Herrn Matz in ein abruptes Gespräch und telefoniere zu Karla mit Händen und Augen einen dringenden, kläglichen SOS-Ruf. Herr Matz sieht mich so seltsam an; schließlich stellt sich Karla wirklich schützend vor den Bademantel, und nun merke ich, daß der neue Handkoffer völlig öffentlich halb gepackt dasteht! Obenauf liegt ein rotes Spielzeugauto für die Mücke!

Wenn ich heute daran zurückdenke, so scheint es mir, als könnte ich all dies nur geträumt haben, als könne es unmöglich je wirkliches Leben gewesen sein! Denn genau wie es manchmal in Träumen geschieht, sah Herr Matz nicht, was offen vor Augen lag, ging an Koffer und Bademänteln vorüber und wünschte uns unter der Tür höflichst eine angenehme Nachtruhe und dem Mückchen gute Besserung.

Ja, das Mückchen war auch dabei, und es war bestimmt eine bessere Schauspielerin als seine Eltern. Uns müssen unsere Heimlichkeit und unser schlechtes Gewissen mit flammenden Lettern auf der Stirn geschrieben gewesen sein! Aber – und diese Erinnerung ist noch heute eine meiner angenehmsten – statt daß unser Heimlichtun unsere Wächter entrüstete, machte es sie nur unruhig, unsicher, dienstbeflissener!

Noch nie war die mürrische Kiesow so eifrig und höflich gewesen wie an diesem Tag. Gnädige Frau hinten und gnädige Frau vorn. Was kann ich für die gnädige Frau noch tun? – Herr Schreyvogel haben ja so recht! So ging es vom Morgen bis in die Nacht. Der dunkle, welterfahrene Herr Matz bekam etwas melancholisch Sinnendes, wenn er mich betrachtete, vielleicht spürte er, ohne es noch begründen zu können, daß der goldene Vogel seine Schwingen hob, um fortzufliegen. (Und tatsächlich endete ja, wie sich später herausstellte, seine Tätigkeit für mich mit diesem Tage.) Von sich aus machte er plötzlich – aus düsterem Brüten heraus – die Bemerkung, daß Hutaps Radebuscher Palasthotel nur eine Mottenkiste sei und Justizrat Steppe gar zu sehr Nußknacker ...

Ich hatte noch nie derartig Revolutionäres aus dem Munde des stets cutgewandeten Herrn Matz gehört. Aber jetzt war es freilich zu spät für Bündnis und Mitverschwörung – der Sklave hatte schon seine eigene Revolution begonnen!

Sogar Justitiar Steppe, der Aktenstaubgesättigte, der Verkalkte, der Nußknackerhafte, merkte etwas, wurde hellhörig, argwöhnisch – und entgegenkommend. Ich sehe ihn noch vor mir, klein, fuchsisch, rastlos die dünnen, altersfleckigen Hände reibend, wie er mir noch einmal die Lage beim Steueramt kurz präzisierte, die Unannehmbarkeit der Vorschläge jener Herren bewies und, plötzlich kurz abbrechend, noch um eine letzte Frist von einer Woche bat, in der er die Streitigkeit bestimmt zum Abschluß bringen würde:

Ich handle ja nur in Ihrem Interesse, mein lieber, mein verehrter junger Herr Schreyvogel. Aber ich sehe ein, Sie können nicht länger in dieser Lage verharren, sie ist platterdings unerträglich. Nur noch eine Woche Frist geben Sie mir –!

Vage erwiderte ich, daß diese Unerträglichkeit schon viel zu lange gedauert habe, ich müßte mir meine Entschließung vorbehalten. (Den Brief an das Steueramt, mit dem ich die unannehmbaren Vorschläge annahm, trug ich da schon bei mir in der Tasche.)

Statt mich zu einem Ja zu nötigen, wie er es sonst in aller Hartnäckigkeit getan hätte, zog Justizrat Steppe einen Scheck aus der Tasche, einen Scheck über eintausend Mark! Plötzlich hatte er wieder Geld für mich, plötzlich wollte er den Vogel lieber füttern als ihn fliegen lassen!

Ich sehe noch den Ausdruck völliger Verwirrung auf seinem Gesicht, als ich den Scheck zurückwies: ich sei nicht verlegen um Geld. Er verstand die Welt nicht mehr, mich nicht mehr, sich nicht mehr. Ich habe den mit allen Wassern gewaschenen Juristen nie so verlegen gesehen. Sein Abgang glich der Flucht eines auf das Haupt geschlagenen Feldherrn. Wie Herr Matz muß er gespürt haben, daß seine Zeit vorbei war. Er hatte seinen Gefangenen in zu erbarmungsloser Haft gehalten.

Karla und ich, wir ahnten es ja damals noch nicht, daß unser nur auf ein paar Tage berechneter Weihnachtsausflug der Weg in die ›Freiheit‹ war. Für uns war er erst einmal ein wunderbar spannendes Abenteuer, wie man es sonst nur in Büchern liest. Wir hätten nie gedacht, daß wir selbst so etwas erleben könnten. Fiebernd und glücklich vertrauten wir uns August Böök an. Der bekam sogar, als bester Freund, den gemeinen Brief aus Breslau zu lesen.

Er las ihn, legte ihn still, mit einem beredten Blick von Karla zu Mücke, auf den Tisch zurück und holte ein sehr schmieriges, eselohriges Notizbuch aus der Tasche, in dem er eifrig zu kritzeln anfing.

Dann schob er wieder das Gummiband über das Notizbuch, und nun endlich sagte er: Ich hab' mir die Adresse von dem Bruder aufgeschrieben. Sobald ich nach Breslau komme, bezieht der seine Wucht!

Dieser Satz enthielt ebensoviel gesunden Menschenverstand wie wirklichen Trost. Von dieser Stunde an war der häßliche Brief für Karla erledigt. Sie wußte, August Böök würde Wort halten, und damit war es, als sei die Wucht schon verpaßt! Man mußte keinen hilflosen Zorn mehr gegen das Breslauer Ekel empfinden!

Und so, wie August Böök diesen häßlichen Fall auf die natürlichste und selbstverständlichste Art von der Welt erledigt hatte, so bewerkstelligte er auch unsere Flucht über das Schuppendach der Palasthotelpferde, als sei dies der allgemein übliche Weg, zu einem friedlichen Weihnachtsfest zu gelangen.

Karla knüpfte noch an Mückes Schuhbändern, da hatte er den Koffer schon fortgeschafft und war wieder zurück.

Lassen Sie sich bloß Zeit, Chefin, sagte er tröstend und hatte natürlich gesehen, daß ihre Finger ein bißchen verwirrt waren, ja, geradezu zitterten. Immer mit der Ruhe! Wir haben noch einen ganzen Haufen Zeit!

Ich weiß, Herr Böök, sagte Karla und überließ ihm ohne weiteres das Verschnüren der Schuhe. Ich bin auch nicht aufgeregt. Nur, es kommt mir alles so komisch vor. Als erlebte ich es gar nicht richtig. Als könnte es nicht wahr sein, daß wir ausreißen, bloß um Weihnachten zu feiern.

Der August Böök warf der Karla einen raschen, dunklen Blick aus seinen von Fältchen umwitterten Augen zu. Das ist auch komisch, Chefin, sagte er dann. Da haben Sie ganz recht. Bloß, wenn Sie mal richtig bedenken, daß es in hundert Jahren ganz egal ist, wie wir's gehabt und gemacht haben, so ist schließlich alles komisch, auch Ihr früheres Weihnachten in der Mansarde mit der Oma Böök.

Er nickte zur Bestätigung nachdrücklich mit dem Kopf, daß der goldene Ring im linken Ohrläppchen leise schaukelte. Der Karla sah ich an, daß sie seine Auffassung unserer früheren Weihnachtsfeiern nicht unwidersprochen hinnehmen wollte. Aber die Mücke war fertig, sie fragte geheimnisvoll flüsternd, ob es nun zum Weihnachtsmann gehe, und so kam es zu keiner Debatte.

Huckepack auf dem Rücken Onkel Bööks ritt sie die Leiter hinab, Karla folgte. Ich stand noch im Zimmer, ich legte den Brief an Justizrat Steppe, der ihn von unserem Weihnachtsurlaub an unbekanntem Ort benachrichtigte, auf den Tisch.

Dann schloß ich die Tür zum Gang auf und sah den öden Hotelkorridor hinauf und hinunter. Das Nachtlicht brannte, es war alles still ... Es kam mir so seltsam vor, daß ich es war, Max Schreyvogel, der mit Weib und Kind unter Zurücklassung einer völlig unbezahlten Rechnung aus diesem Hotel floh ... Auch mir kam es komisch vor, aber eher traurig komisch. Oder, wie sie es bei manchen Theaterstücken nennen: tragikomisch. Was ja auch nichts anderes heißt, als daß die, die es sehen und hören (oder lesen), es recht komisch finden, während denen, die es erleben, recht traurig zumute ist ...

Der trübe Hotelgang mit seinem roten Läufer kam mir einen Augenblick lang wie der Gang eines ins Wasser versunkenen Schiffes vor, hinter den stillen, grauen Türen schliefen die Ertrunkenen ihren ewigen Schlaf, und ich stand wie mein eigenes Gespenst hier, sah all die Türen an und wußte nicht mehr, hinter welcher denn mein Leib schlief, fand nicht zurück zu mir ...

Eine tiefe Traurigkeit, die das übereifrige, leere Getriebe der letzten Wochen nur übertäubt hatte, stieg urplötzlich in mir hoch. Sie war, plötzlich wußte ich es, schon immer in mir gewesen. Tägliche Arbeit, der liebe schöne Alltag hatten sie am Boden gehalten. Aber in der jüngsten Zeit war sie groß geworden, sie stieg auf, hüllte alles in mir ein – bitter, trostlos bitter, öde, staubig fühlte ich die Fragwürdigkeit nicht nur meines, nein, allen Daseins ...

Eine Hand rührte an meine Schulter, mein Auge begegnete dem Blick von August Böök.

Kommen Sie man, Chef, flüsterte er. Die junge Frau macht sich sonst Gedanken.

Er löschte hinter mir das Licht, half mir über Dach und Leiter. Einen Augenblick zögerte er, ob wir die Leiter wieder an ihren früheren Platz setzen sollten.

Was meinen Sie, Chef? Aber schlauer ist's schon, wir lassen sie stehen. Je weniger sie's morgen früh vertuschen können, um so eher werden sie sich in Zukunft in acht nehmen!

Mir war es recht, ich hatte keine Lust, länger darüber nachzudenken. Wir fanden Karla und Mücke, die sich am dunklen Schaufenster eines süßen Ladens die Nasen breit drückten, um etwas von den Weihnachtsmännern zu sehen zu bekommen.

*

 


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