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2. Kapitel

Dauerlauf zum Büro – Was werden wir erben? – Ein Sack Zwiebeln und eine Kiste Zitronen

 

Wir werden ja nun bald erfahren, was wir damals bei unserm Sturmlauf auf das Büro der Vira noch nicht wußten, warum nämlich der Notar Steppe von unserer Tochter hatte Akt nehmen lassen, oder vielmehr von ihrem Namensaufruf. Aber zur Stunde waren wir noch gänzlich ahnungslos, starrten uns an, hatten Herzklopfen, wollten hoffen und brachten doch nicht den Mut dazu auf – um hinterher nicht zu bitter enttäuscht zu sein ...

Ich muß laufen! hatte ich schließlich gerufen, in unser erstes verwirrtes Wundern hinein. Nur noch elf Minuten bis zwei! O Gott – und Kracht hat soo schlechte Laune!

Ich laufe mit! hatte Karla gesagt und nahm schon aus dem Schrank ihren Mantel.

Aber die Mücke schläft noch nicht! – Nein, Karla, wie konntest du sie nur Eduarda rufen?! Sogar die Herren haben einen Schreck bekommen!

Karla zog die Augenbrauen hoch.

Ich weiß es nicht. Es war wie eine Eingebung – vielleicht, weil sie so unanständig war. So was, den Herren ihren Pöker zu zeigen! Pfui, Mücke, das tust du aber nie wieder, fremden Onkels deinen Pöker zeigen! Sonst wird die Mummi ganz traurig, nicht wahr? Und du wirst jetzt gleich einschlafen, ja? Mummi muß schnell mit dem Papa weg – aber sie ist gleich wieder da!

Ich schlaf nie und nie, wenn du nicht da bist, Mummi ... sagte die Mücke sehr weinerlich.

Endlose Verhandlungen, Bonbonversprechungen – sieben Minuten vor zwei liefen wir los, und wenn ich schnell gehe, brauche ich zwanzig Minuten ins Büro.

Wir liefen durch die Straßen, Karla auf ihren langen Beinen neben mir – sie sieht aus wie ein Junge, keiner glaubt ihr ein fünfjähriges Mädel (und nun erst eine gnädige Frau!). Es war noch gut, daß es neblig war, wir benahmen uns unglaublich! Wir liefen Trab und schrien uns dabei an – große, sehr erregende Fragen beschäftigten uns: Werden wir erben? Wann werden wir erben? Wieviel werden wir erben?

Das klingt sehr gemein, wenn ich es hier so nackt hinschreibe, es klingt verdammt geldgierig. Und es sieht auch häßlich aus, daß wir dem doch wahrscheinlich soeben erst verstorbenen Onkel Eduard nicht einen bedauernden oder freundlichen Gedanken gönnten.

Aber ich schreibe hier alles so, wie es wirklich war, nieder für unsere Nachkommenschaft, zu unserer Rechtfertigung. Denn wenn fünf Kinder, siebzehn Enkel und alle Urenkelei einmal erfahren, daß Karla und Max Schreyvogel vieles besessen haben, sie aber erben nichts, so könnten sie mit Zorn und Verachtung an uns denken. Das will ich schon um der Karla willen nicht haben, die sich die redlichste Mühe gegeben hat, während ich allerdings – doch das werden wir alles noch an seinem Platz erfahren!

Von Geldgier, liebe Nachkommenschaft, kann bei uns überhaupt keine Rede sein. Wer wie wir an jedem Monatsletzten bare 178 Mark ausbezahlt bekommt, von denen sofort weit über die Hälfte für Miete, Gas, Elektrisch, Zeitung und Läpperschulden abgeht, der hat von Geld überhaupt keinen Begriff. Sondern wenn Karla und ich von Erbschaft und Geld redeten, so meinten wir gar nicht Geld, sondern die Sachen, die wir uns davon kaufen wollten: einen Teppich für die Stube, etwas sehr notwendige Bettwäsche, einen Anzug für mich, der Mücke ein größeres Bettchen und für Karla einen wärmeren Mantel.

Beim kleinen Mann ist Geld etwas ganz anderes als beim großen: Es findet keine Stätte bei ihm, sondern läuft nur durch, ein viel zu eiliger Gast, um auch nur ein Zehntel seiner Wünsche zu erfüllen. Während es beim großen Mann auf dem Bankkonto ruht und er nur einen Scheck auszuschreiben braucht, wenn ihn ein Wunsch besucht – es kommt aber keiner mehr.

Ich kann davon mitreden, ich bin beides gewesen: kleiner Mann und großer Mann. Kleiner Mann bin ich jetzt, da ich dies schreibe, wieder, aber es ist nicht mehr dasselbe wie vor und an jenem Tage, da wir mit aufgeregt roten Backen durch den Nebel in das Büro der Vira liefen. Wer einmal vom Baume der Erkenntnis gegessen hat, bekam einen bitteren Gaumen; wir können alle nicht mehr in der alten herrlichen Unschuld die Spiele unserer Kindheit spielen!

Und was bedeutete uns überhaupt an jenem ersten November Erben?! Wir stellten in der Eile die ›nötigsten‹ Anschaffungen zusammen und waren zu jedem Abstrich bereit. Zwar wußte ich mehr als Karla, durfte es ihr aber nicht sagen, daß nämlich Herr Eduard Schreyvogel-Gaugarten mit der Vira eine Lebensversicherung auf hunderttausend Mark abgeschlossen hatte, denn das war Berufsgeheimnis. Trotz dieses Sonderwissens verstiegen sich meine Erwartungen aber nicht höher als auf zwei- oder dreitausend Mark. Denn ich dividierte meine Hoffnungen noch durch mindestens vierzig mir bekannte Schreyvogel. Vielleicht aber waren es gar siebzig oder achtzig – ich kannte sie bestimmt nicht alle!

Von Geldgier kann also nicht die Rede sein, das muß ich doch zu unserer Ehre sagen. Wir waren genau wie die Kinder vor der Tür vom Weihnachtszimmer am Heiligen Abend. Ist es nicht das große, goldgezierte Puppentheater aus dem Schaufenster geworden, so freut uns doch ebenso der bunte Hampelmann. Und überhaupt ist die Vorfreude auf den Lichterbaum mit dem goldenen, sich langsam drehenden Flitterstern an seiner Spitze schon Freude genug!

Was aber den armen, vermutlich soeben verblichenen Onkel Eduard anlangte, so kannten wir ihn von Person überhaupt nicht, und es wäre bare Lächerlichkeit gewesen, von uns Trauer zu verlangen. Auch brieflich hatte er sich uns nie weiter mitgeteilt, als daß er auf die Nachricht von Geburt und Taufe unserer ›Eduarda‹ einen Sack Zwiebeln und eine Kiste Zitronen gesandt hatte – mit dem höhnischen Brieflein: so könnten wir doch leichter weinen über das entgangene Patengeschenk und uns angenehmer trösten bei einem Kontoristengehalt!

Damals hatte ich getobt über das eklige Rauhbein und mir geschworen, ihm nie wieder eine Zeile zu schreiben – was ich auch wirklich nicht getan habe. Und ich habe gegrollt mit meiner lieben Mutter, daß sie uns in ihrer Vorsorglichkeit überredet hatte, die Mücke Eduarda zu taufen, nach dem Satz: nützt es nichts, so schadet es nichts – und das Kind bekommt es vielleicht einmal leichter!

Arme Mutter, du bist glücklich, du hast es nicht mehr erlebt, daß deine Kinder in den Genuß deiner Vorsorglichkeit kamen! Und armer, alter, ekliger Onkel Eduard – heute verstehe ich besser, daß du solch ein Rauhbein und Menschenfeind wurdest! Wer krank und einsam immer nur Schnorrer und Erbschleicher um sich spürt – der muß sein Herz verhärten!

*

 


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