Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24. Kapitel

In der Langleider Schmiede – Wir finden ein Weihnachtshaus – Das Fernweh des Kantors Friedemann – Ein lebendiger Kuß

 

Ich übergehe die völlig nutzlosen Vorwürfe, die sich das Ehepaar Schreyvogel machte, weil keines von beiden daran gedacht hatte, ein Weihnachtsquartier zu bestellen. Sondern ich fange erst da wieder an zu erzählen, als der August seinen braunschwarzen Priem wortlos in den weißen Schnee spuckte, den Koffer schulterte, die Mücke bei der Hand nahm und, ohne auf uns zu achten, abmarschierte, tiefer ins Dorf hinein ...

Wir unterbrachen den Streit, starrten dem August nach, dann uns an, fingen an zu lachen und gingen hinter dem Weisen drein, neugierig, was er nun wohl tun würde, und voller Vertrauen, er werde schon das Rechte finden.

Wir wurden nicht weiter geführt als nur etwa hundertfünfzig Schritt, worauf der August unter einem Vordächlein durch in eine schwarze Höhle trat, in der aber roter Feuerschein war und Kling-Klang tönte: also in die Dorfschmiede. Der Schmied, ein rußiger kleiner, aber drahtiger Mann, ließ uns gerne am Feuer stehen, hatte aber noch keine Zeit für Fragen und Auskünfte, weil ein Pferd auf seine neuen Schuhe wartete.

Wir sahen ihm alle gerne zu, am liebsten aber die Mücke, wie die Luft aus dem Blasebalg in das Kohlenhäufchen fuhr und es immer heller glühen machte, wie das fast weiß erhitzte Eisen mit der Zange herausgehoben und mit der hornharten Hand auf Hitze geprüft wurde. Schon tanzten von Meister und Gesellen die Hämmer, das Eisen zischte im Wasser – ach, es verging uns eine halbe Stunde wie nichts! So friedlich saßen wir da, und hätte uns das Kullern in unseren Mägen nicht gemahnt, daß wir ohne alles Frühstück nun schon fast sieben Stunden unterwegs waren und daß es auf Mittag ging, wir hätten gerne immer weiter so gesessen und der Arbeit zugeschaut.

So aber waren wir ganz zufrieden, als der Meister schließlich, den Ruß auf der schweißigen Stirne noch besser verreibend, zu uns trat mit den Worten: Heiß ist's! – Was soll es denn sein, junge Leute? Ein Paar Hufeisen unter die Schuhe vom kleinen Fräulein? Oder ein paar neue Miederstangen für die junge Frau?

Und er hob, mit weißen Zähnen aus seinem schwarzen Gesicht lachend, ein schweres Stück Rundeisen gegen die Karla.

Darauf wurde uns allen das Reden leichter als im Gasthaus ›Stadt Radebusch‹ bei den übereifrigen Schweineschlächtern, und bald wußte der Meister, daß wir Hunger hatten, aber kein Nachtquartier, und daß wir durchaus in Langleide und nirgends sonst auf der Welt unser Weihnachtsfest feiern wollten.

Das kam ihm freilich ganz närrisch vor, doch August Böök steuerte als unser zukünftiger Chauffeur den Wagen wieder auf die richtige Bahn, indem er listig etwas hinwarf von einer bösen Schwiegermutter, die uns durch unvermuteten Besuch das Fest habe verderben wollen, vor der wir aber heimlich ausgerissen seien ...

Wieder bekamen wir die weißen Zähne im schwarzen Gesicht zu sehen. Der Meister war eingefleischter Junggeselle und fand es großartig von uns, den alten Drachen so zu versetzen. Ja, das sähe er ein, kein Christenmensch dürfe uns zu der Alten zurückschicken, gerade an solch einem Tage. Und nun fing er an, alle Leute im Dorf herzuzählen. Erst die kleinen Leute, die uns aber alle nicht aufnehmen konnten. Dann die Bauern, die uns aber alle nicht würden aufnehmen wollen.

Schließlich blieben nur noch der Pastor, der Krämer und der Kantor. Davon wurde der Krämer auch noch ausgeschieden, weil der morgen am ersten Feiertag zu Verwandtschaft über Land fahren wollte ...

Der Meister dachte scharf nach und meinte dann, zum Pastor möge lieber die junge Frau allein fragen gehen, oder besser noch mit dem Kind an der Hand. Denn Pastors hätten nie Kinder gehabt und seien also kinderlieb. Zum Kantor aber solle der andere Herr gehen, nämlich der August, weil er nämlich ein bißchen fremd aussehe, und Kantors seien alt und hörten darum gerne etwas Neues.

So hatte jeder seinen Auftrag, bloß ich nicht. Aber ich mochte nicht allein in der Schmiede sitzen, und so ging ich zum Krämer, um mir Zigaretten zu kaufen und dabei zu horchen, ob nicht vielleicht doch etwas dort zu machen sei, wenigstens mit Quartier.

Es war aber dort wirklich nichts zu machen, es war nicht einmal ein Wort dort zu reden, denn der ganze Laden stand voller Frauen, die noch rasch ihre letzten Weihnachtseinkäufe mit Lichtern, Sirup, Tannenbaumschmuck, Hefe, Rosinen, Mandeln, Pflastersteinen, Püppchen erledigten.

Ich war froh, als ich wieder aus dem Laden war, ordentlich heiß war mir geworden unter all den Blicken. Und kaum war ich zwanzig Schritte gegangen, so stieß ich auf Karla und Mücke. Sie hatten schon beinahe die Zusage gehabt von der Frau Pastor, als sie sich im Böökschen Lügengestrüpp von der bösen Schwiegermutter verfangen hatte. Die Frau Pastor hatte gemeint, daß heute abend Friede auf Erden sein solle, und es würde eine rechte Sünde von ihr sein, uns aufzunehmen statt uns sofort heimzuschicken zum Friedensschluß mit der lieben alten Mutter, die nach Art der alten Leute vielleicht wunderlich sei, aber bestimmt nicht böse ...

So setzten wir wieder einmal, all unsere Hoffnung auf den August Böök, und nicht zu Unrecht. Denn er kam mit der Kunde, daß wir zu Kantors dürften, aber unter der Bedingung, daß wir mit den alten Leuten gemeinsam feiern müßten und daß, wenn die Kleine erst schlafe, ein bißchen erzählt und gespielt werden müßte, zur Gesellschaft.

Da sagten wir gerne ja, und fröhlich hielten wir unseren Einzug ins Kantorhaus, gleich neben der Dorfkirche, und das hübscheste, sauberste, vollgestellteste Haus war es, das wir je zu sehen bekommen hatten. Und die freundlichsten, friedlichsten alten Leute waren die Kantorsleute, Kantor Friedemann hießen sie, beide klein und rundlich, mit blühenden Farben.

Die beiden greisen Leute taten recht, als seien wir irgend etwas liebes Anverwandtes, das nach langer Zeit, sehnlichst schon erwartet, zu Besuch gekommen sei. Und es war uns nicht eine Minute so, als seien wir irgendwo in der Fremde. Sondern gleich fing Frau Kantor Friedemann an, von all ihren Kindern und Kindeskindern zu erzählen. Sie hatte nämlich sieben Kinder, alles Töchter, und sechsundzwanzig Enkelkinder, anderthalb Dutzend Mädchen und zwei drittel Dutzend Jungen, und auch schon wieder fünf Urenkel, alles Jungen ... Und es flog nur so heimatlich-behaglich von Fridas und Lenis über den Tisch, von Dresden und Zehdenick und Langenleuba, daß einem ganz gemütlich ums Herz wurde ...

Der Kantor Friedemann aber versuchte mich unterdes ein wenig nach Wesen und Art zu erforschen. Aber er war nicht sehr neugierig, sondern als er erfahren hatte, daß wir unser ganzes Leben in der Stadt Radebusch verbracht hatten, fand er, er wisse genug von uns, und berichtete nun von sich. Nämlich, daß er auch nicht viel weiter herumgekommen sei, aber immer den Wunsch gehabt habe, in die Welt hinauszukommen, nach Timbuktu oder Tananarivo oder seinethalben auch nur nach Buenos Aires oder dem Goldenen Tor bei San Francisco ... Er sprach diese fremden Ortsnamen aber mit solcher Ehrfurcht aus, daß ein jeder spürte, wie er all seine Träume an sie gehängt hatte und daß das Herz des alten Mannes heute noch voll von Fernweh war, wie sonst nur das Herz der Allerjüngsten.

Der August Böök sagte darum nach einer Weile, der Herr Kantor Friedemann stelle sich die Welt wohl ein bißchen anders vor, als sie in Wahrheit sei. Gewiß, er, der August, sei ein wenig herumgekommen, und er müsse zugeben, es wären viele schöne Plätze in ihr. Aber schön sei schön, und der Weg eben durch den verschneiten Winterwald nach Langleide sei nicht weniger schön als die schönste Hafeneinfahrt der Welt.

Hier wollte der Kantor schon ein wenig losfahren, als der August lächelte und meinte, von der Schönheit der Natur werde kein Herz allein satt. Dazu brauche es auch noch die Mitmenschen. Und wenn der Mensch auch überall auf der Welt sich ziemlich gleich sei in Haß und Liebe, Gier und Eifersucht, Geiz und Drang zum Gelde, so sei er uns doch mit all seinen Fehlern noch am ehesten im Heimatlande erträglich, während wir uns in der Fremde bei jeder schlimmen Erfahrung gleich verraten und verkauft vorkämen.

Der August sah den Kantor gelassen aus seinem wettergegerbten Gesicht an. Des Kantor Friedemanns löwenartiges Gesicht aber hatte sich zornig gerötet, und er schrie, dies sei eine kaltblütige Fischperspektive, und er wolle lieber hängen, als solch ein Kaltblüter zu werden. Die Erde sei voll der Wunder, und Gott habe diese Wunder darum erschaffen, daß wir sie bewunderten und sie nicht kaltäugig anglotzten wie die Goldfische ihre Umwelt durch die Scheiben eines Aquariums!

Der August antwortete, warum Gott die Welt erschaffen habe, das sei immer noch nicht ganz entschieden, und nur eines sei sicher, in hundert Jahren wisse es doch kein Mensch mehr, ob der Herr Kantor beschwerliche Reisen gemacht oder daheim bei seinem Suppentopf gesessen habe, und so sei beides schließlich gleich viel wert ...

O Gott, wie brach mit zornigem Donner und Blitz der Kantor Friedemann über den August Böök her! Die Mücke wußte erst nicht, ob sie weinen oder lachen sollte, entschied sich dann aber doch lieber fürs Lachen. Was richtig war, denn die Frau Kantorin sagte gelassen, ihr Mann sei immer so, und wenn er nicht brüllen könne, werde er krank, er meine es gut ...

Aber wir hörten nicht mehr zu. Wir zogen die übermüdete Mücke vom abgegessenen Tisch hoch und gingen mit ihr hinauf in das Mädchenzimmer am Giebel, wo alle Töchter der Kantorin gewohnt hatten und jede mit Bildchen oder Nähkörbchen oder Tanzfächern ein Andenken ihres Lebens zurückgelassen hatte.

Wir legten das Kind ins Bett, versprachen ihm noch fürs Einschlafen den August und gingen hinunter, abzuräumen, aufzuwaschen und den Baum anzuputzen. Der Streit zwischen den beiden Männern hatte sich unterdes beruhigt. Der Kantor erzählte von seinen Bienen und der August von afrikanischen Termiten, entging aber gerne der bohrenden Fragelust seines Gesprächspartners und wurde der Mücke Sandmann.

Die Frauen wollten uns, nachdem wir ihnen den Baum hereingeholt und mit einem festen Fuß versehen hatten, nicht mehr zur Hilfe haben. So gingen wir hinüber ins Arbeitszimmer des Kantors, und er holte aus einem verschlossenen Fach seines fichtenen Schreibtisches alte Hefte seiner Schüler und berichtete mir, wie der eine, der diesen Aufsatz über das Pferd geschrieben, seit über dreißig Jahren in der Stadt Savannah im Staate Georgia lebe, seit dreizehn Jahren aber nicht mehr in sein Heimatdorf geschrieben habe.

Er zeigte mir das Heft eines anderen Schülers, dem er Latein beigebracht hatte: Und ich konnte es doch selbst nicht; jede Nacht lernte ich voraus, was er am nächsten Tage zu lernen hatte!

Der Schüler war etwas geworden, er war ein großer Arzt geworden, und alle Neujahr dachte er noch seines alten Dorflehrers mit einem freundlichen Gruß und einem Kistchen kostbarer Zigarren. Er würde mir gern eine zu schmecken geben, aber es seien immer gerade fünfzig, und er verteile sie so über das ganze Jahr, daß er die letzte heute nach der Bescherung rauchen werde. Wenn ich freilich zu Neujahr bei der frischen Kistenankunft noch im Hause wäre, könnte Rat werden.

Der alte Mann war plötzlich ganz friedlich geworden in seinem behäbigen Schreibstuhl. Er gähnte ein wenig und meinte, er wolle rasch noch ein Auge Schlaf nehmen. Es werde heute wohl später werden, Christgottesdienst sei um acht. Ich solle mich nur in eine Sofaecke setzen und auch ein bißchen schnurkeln ...

Ich tat's nicht, sondern ging hinauf in die Schlafstube der kleinen Mücke. Sie schlief noch, und der August Böök war fortgegangen. Eine Weile sah ich tatenlos die Wände mit den Bildchen und Fächern an, dann stieg ich wieder hinunter. Aber die Frauen wollten mich nicht einlassen in das Bescherungszimmer, und nur die Karla kam schnell einmal heraus, lehnte sich an mich und sagte: Ist's hier nicht schön und friedlich? So müßten wir's immer haben!

Sie gab mir einen Kuß auf den Mund und sagte: Schau nicht gelangweilt drein, Max. Geh ein bißchen an die frische Luft und laß dich durchfrieren!

Das tat ich denn auch, aber es dauerte eine ganze Weile, bis die Winterkälte das Gefühl von Karlas Kuß auf meinen Lippen gelöscht hatte. Es war richtig, als säße dort etwas Lebendiges, das einen bis ins Herz hinein warm machte.

*

 


 << zurück weiter >>