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28. Kapitel

Chrysanthemengrab im Schnee – Wir sind schon entdeckt – Die Landkarte mit dem Weihnachtsbaum – Herr Fiete bricht nieder

 

Zwei Stunden später näherten wir uns wieder dem Dorf Langleide. Wir waren über Wiesen und Felder durch knietiefen Schnee gewatet, wir hatten Gräben übersprungen, und ich war mit beiden Beinen durch splitterndes Eis in den Morast eines Teiches gebrochen. Wir waren durch Hochwald über endlose Schneisen geirrt, aber wir hatten es erreicht, keinen Menschen von Angesicht zu sehen.

Jetzt waren wir schmutzig und naß, todmüde und fressend hungrig. Wir dachten an das Friedemannsche Kantorenhaus wie an eine glückliche Insel – da in unserem erwünschten Paradiese Gaugarten sich schon wieder eine Schlange gezeigt hatte.

Gänsebraten kann man auch gut kalt essen, hatte ich hoffnungsvoll gesagt. Wir brauchen nicht erst aufs Wärmen zu warten.

Die Mücke hat gerade ausgeschlafen, wenn wir kommen, hatte Karla geantwortet. Sie muß sich doch wundern, wo eigentlich ihre Eltern geblieben sind.

Es war ein schmerzlicher Augenblick gewesen, als wir die schönen Chrysanthemen im Schnee begraben hatten. Sie waren der Kälte nicht gewachsen, nach einer Viertelstunde schon krochen ihre Blütenblätter zusammen, wenig später waren sie schwärzlich verfärbt. Arme Chrysanthemen –!

Aber im ganzen war unsere Stimmung hoffnungsvoll. Wir hatten eine Aufgabe gefunden, nämlich Gaugarten zu reorganisieren. Anständige Löhne mußten gezahlt, menschenwürdige Wohnungen gebaut werden: jeder sollte gerne bei uns arbeiten!

Mit der Spannkraft der Jugend hatten wir es bereits vergessen, daß wir Menschen nicht mehr sehen wollten. Wir freuten uns darauf, bald nur fröhliche, zufriedene Leute um uns zu sehen.

Wir werden es schon schaffen, meinte Karla hoffnungsvoll.

Herr Kalübbe hat nur zu tun, was wir wünschen! erklärte ich herausfordernd.

Immerhin hatten wir beide die stille Hoffnung, die Nachricht von dem im Gaugartener Gewächshaus Geschehenen werde Herrn Administrator Kalübbe nicht schon heute nach Langleide rufen. Wir fanden, für einen ersten Weihnachtsfeiertag hatten wir völlig genug erlebt, wir meinten, eine kleine Atempause verdient zu haben.

Als wir darum auf der Langleider Dorfstraße ein Auto halten sahen, gerade vor dem Friedemannschen Hause, redeten wir uns fest ein, es könne unmöglich uns angehen. Das Automobil war noch nicht zu bestimmen, so dicht war es von der staunenden Dorfbevölkerung umringt. Und wieso überhaupt ein Automobil für uns? Herr Kalübbe haßte Automobile, er ritt oder fuhr nur mit Pferden.

Als wir uns aber dem Wagen näherten, wichen die Neugierigen mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht auseinander, die sich wesentlich von dem unverschämten Anstarren gestern unterschied. Nun erkannten wir, daß es der uns zum Überdruß bekannte Radebuscher Mietswagen war ...

Dieser Fuchs, dieser Steppe, wie kann er uns bloß so schnell aufgespürt haben –?! rief ich empört.

Es scheint nur Fiete zu sein! sagte Karla, die den Chauffeur befragt hatte.

Auch schlimm genug! knurrte ich, und wir traten ins Haus.

Im dunklen Flur fiel die runde Frau Kantor der Karla um den Hals.

Ihr lieben jungen Leute! rief sie fast schluchzend. Und solche Ehre habt ihr uns angetan, gerade bei uns abzusteigen! Und Sie haben mir sogar beim Abwaschen geholfen! Ich habe gleich einen Teller in meinen Glasschrank gestellt, den soll niemand anrühren, den zeige ich all meinen Kindern und Kindeskindern.

Es wäre wohl noch lange so weitergegangen, aber der Herr Kantor, der mir stumm, doch löwenköpfig ergriffen die Hand geschüttelt hatte, sagte mahnend: Ein Herr wartet schon seit zwei Stunden auf die jungen Herrschaften, Malchen!

Nur einer? fragte ich vorsorglich.

Jawohl einer. Er sagt, er ist der Bürovorsteher Ihres Justitiars.

Also komm, Karla, sagte ich. Es hilft nichts. Die Hauptsache ist, wir werden ihn schnell wieder los!

Unbedingt werden wir das! rief Karla wieder ganz energisch. Und, liebe Frau Friedemann, seien Sie doch so gut und setzen Sie für mich und meinen Mann etwas zu essen bereit: wir sind halb verhungert!

Damit eilten wir in das Bescherungszimmer, wo wir Herrn Fiete, diesen unscheinbaren, aber überaus arglistigen Büroherrn des Justitiars Steppe dabei überraschten, wie er seine vom feierlichen Bratenrock verhüllten Schultern nachdenklich schaukelnd am warmen Ofen rieb, wobei er leise das Weihnachtslied vor sich hinpfiff: Vom Himmel hoch, da komm ich her ...

Sie bringen uns aber bestimmt keine gute Mär, Herr Fiete! rief ich unmutig.

Doch, doch, Herr Schreyvogel! sagte er eilig und dienerte tief. Und ein recht fröhliches, friedliches Weihnachtsfest wünschen wir den beiden jungen Herrschaften!

Dann hätten Sie es uns aber besser hier in Frieden feiern lassen! meinte Karla nicht ohne Schärfe. Wie in aller Welt haben Sie uns schon ausgeschnüffelt, Herr Fiete?

Der Bürovorsteher lächelte: Es war ganz einfach, Herr Schreyvogel. Auf Ihrem Schreibtisch lag eine Wanderkarte, und bei dem Ort Langleide war nicht nur ein dickes rotes Ausrufungszeichen, sondern es war da auch ein kleiner Weihnachtsbaum eingezeichnet.

Karla und ich, wir starrten uns an und waren beide puterrot geworden. Was waren wir doch für listige dumme Verschwörer, alles zu planen, zu bedenken, zu besorgen – aber fein säuberlich legten wir denen unsere Adresse hin! Ich erinnerte mich gut an den Abend, als wir uns endgültig für Langleide entschieden hatten, und Karla zeichnete den kleinen Weihnachtsbaum ein mit einem Licht für jeden, den wir gern hatten. Es waren vierzehn Lichter, die ganze fortgelaufene, aber immer noch geliebte Freundschaft wurde mit eingerechnet!

Schwieriger waren wir nicht zu fangen – es war eine rechte Blamage! –

Um so mehr aber war Anlaß, jetzt hart zum unschuldigen Herrn Fiete zu sein. Recht böse fragte ich ihn, wie er denn dazu komme, uns nun doch in unserem Fest zu stören, da wir es doch extra aufgeschrieben hatten, wir wollten ungestört feiern!

Der kluge Fiete verstand auch gleich, daß der Wind nun aus einer anderen Ecke wehte, und schlug einen sachten, bedauernden Tonfall an.

Es tut uns auch unendlich leid, Herr Schreyvogel. Herr Justizrat und ich, wir haben hin und her beraten, ob wir es Ihnen ersparen könnten, aber wie die Dinge liegen ... Es hat sich nämlich eine ganz neue Situation ergeben!

Während der Feiertage ruhen die Dienstgeschäfte, das hat Herr Justizrat mir selbst gesagt! Alles hätte bis nach den Feiertagen Zeit gehabt!

Aber nicht dies! Dies nicht! Es ist nämlich ein Unglück geschehen, oder eigentlich ein Glück –: Herr Obersteuerrat Neumann hat sich nämlich gestern am Heiligen Abend ein Bein gebrochen! Sein Tannenbaum hat die Gardine entzündet, und wie Herr Obersteuerrat hat löschen wollen, ist er über den Wassereimer gefallen. So traurig, so traurig, der schwere Mann –!

Fiete schwieg bedrückt, sammelte sich aber rasch wieder.

Es ist anzunehmen, sagte er mit fröhlicher Stimme, daß die Bearbeitung unserer Erbschaftssteuersache jetzt Herr Steuerrat Kulicke übernehmen wird, und da Herr Steuerrat Kulicke bei Verhandlungen lange nicht so starr ist wie Herr Obersteuerrat Neumann – jedenfalls müßte die neue Lage sofort besprochen werden, weil Herr Justizrat Steppe schon morgen vormittag – Am zweiten Feiertag! Die Dienstgeschäfte ruhen! rief ich scharf.

Aber morgen vormittag um zwölf ist doch die Matinée mit Kammermusik in der Radebuscher Stadthalle! Da sehen sich die beiden Herren, und gerade an so einem vertrauten Ort ... Herr Justizrat bittet Sie ja nur um Ihre Weisungen, die Besprechung würde eine Stunde dauern, vielleicht nur eine halbe! Vielleicht können Sie heute abend schon zurückfahren, ich sage das ohne Auftrag, gewissermaßen auf eigene Verantwortung! – Sie verstehen doch, Herr Schreyvogel! Bitte, verehrte gnädige Frau! Es ist doch in Ihrem Interesse, im wohlverstandenen Interesse Ihrer ganzen Familie! Wir bitten Sie herzlich ...

Es ist zu spät, Herr Fiete, sagte ich zu dem atemlosen, fast zerfließenden Bürovorsteher. Mein Entschluß ist gefaßt: ich habe die Vorschläge des Steueramtes angenommen.

Sie werden es sich überlegen, Herr Schreyvogel! rief er klagend. Die neue Situation – dieses bedauerlich und doch zu höchst gelegener Stunde gebrochene Bein –

Sie haben mich nicht recht verstanden, Herr Fiete! sagte ich wiederum. Ich habe die Vorschläge bereits angenommen. Meine Erklärung ist bereits gestern durch Brief dem Steueramt übermittelt!

Sie haben –! schrie er und starrte mich an.

O Gott! rief er. Dann nützt uns ja auch der Unfall des Herrn Obersteuerrats gar nichts –!

Er flüsterte: Lieber Himmel, wenn dies der Herr Justizrat erfährt –!

Er schüttelte den Kopf, er schien uns ganz vergessen zu haben. Er ging aus der Stube wie ein Nachtwandler. Trat aus der Tür, ging zum Auto. Die gute, dicke Frau Friedemann lief ihm nach, mit seinem Mantel und Hut.

Wir sahen durchs Fenster, wie er abwehrend die Hand bewegte. Er flüsterte dem Chauffeur etwas zu, stieg ins Auto. Der Wagen hupte, wir sahen ihn abfahren; völlig geschlagen, kauernd auf seinem Ledersitz, das fassungslose Gesicht hinter der Hand verborgen, entschwand uns Herr Fiete.

Der ist erledigt! sagte ich. Gehen wir essen, Karla! Und ich muß gestehen, noch immer klang so viel triumphierende Härte in meiner Stimme, daß Karla mich ganz verwundert ansah.

*

 


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