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9. Kapitel

Der Stadtförster und die kleinen Leute – Ein Fünf-Minuten-Brenner – Wollen wir nicht erben? – Karla droht

 

Wie schon gesagt: wir hatten an diesem Novembernachmittag den Plänterwald für uns allein. Sachte gingen wir durch den leichten Nebel auf den feuchten Waldwegen, die Bäume waren schon kahl und das auf den Boden gestreute Laub so naß, daß es nicht mehr raschelte, sondern sich an unsere Schuhe klebte.

Wir Eltern redeten fast nichts, wir waren tief in Gedanken versunken über das, was wir erlebt und soeben gelesen hatten. Auch dachten wir an das, was uns bevorstand ...

Zwischen uns die kleine Mücke, die jedes von uns an einer Hand führte, schwatzte dafür munter darauflos und begnügte sich in unendlicher Kinderlangmut völlig mit einem hingestreuten Ja oder So. Sie hatte etwas erfaßt von unserem Gerede das ganze Mittagessen über und wollte es nun genau wissen, ob wir arm oder reich seien, ob ich uns ein Auto kaufen wolle oder gar eine Eisenbahn, ob ich klug oder dumm, groß oder klein sei?

Da waren wirklich nicht viele Antworten notwendig, denn sie wußte es ja schon, daß ihr Vater reich, klug, groß sei, der reichste, klügste, größte Mann von der Welt ... Es tut uns kleinen Geistern doch gut, daß wenigstens unsere Kinder eine Weile so von uns denken, wenn wir auch darüber lächeln. Und eigentlich ist es so, daß auch unsere Frauen (wenn sie nämlich unsere rechten Frauen sind) nicht anders von uns denken dürfen. In ihres Herzens tiefstem Grunde glauben sie, wir müßten nur ein bißchen Glück haben und wir stellten mindestens ebensoviel dar wie ein Bankdirektor Kunze oder ein Bürgermeister Semmelweis. Nur daß sie – seltsamer Widersinn – einen Bürgermeister Semmelweis nicht um die Welt zum Manne hätten haben wollen!

Als wir eine Weile gegangen waren, sahen wir den berühmten oder berüchtigten Stadtförster Hartwig hinter einem Baum stehen. Er tat so, als habe er uns nicht gesehen, wie wir ihn nicht gesehen zu haben vorgaben. Er konnte uns nichts wollen, wir gingen auf einem erlaubten Weg, aber Karla wie ich, wir dachten daran, wieviel kleine Radebuscher Bürger dieser harte Mann schon in Geldstrafe oder gar in Haft gebracht hatte wegen Betretens verbotener Wege, Sammelns von Holz, an unerlaubten Tagen, Pflückens von Beeren ohne Beerenschein.

Und als wir ein Stückchen Weg weiter zwei Weiber mit Holzkraxen auf dem Rücken trafen, sagten wir ihnen ganz selbstverständlich Bescheid, wo der Hartwig auf der Lauer läge, erwarteten keinen Dank darum und bekamen auch keinen. Denn das ist nun einmal so, daß die kleinen Leute einander beistehen im Kampf gegen die Gewalt der großen.

Es sollten nur sehr wenige Wochen vergehen, und ich dachte ganz anders über verbotenes Holzsammeln und die Pflichten eines Forstbeamten. Aber da hatte ich freilich eine eigene Forst! – Am Mummelteich lagen die Kähne, die im Sommer gegen eine Mark Gebühr für die Stunde vermietet wurden, ohne alle Aufsicht da. Nach kurzer Beratung kettete ich ein Boot los, und wir ruderten, noch ein wenig ängstlich wegen unseres Übergriffes, auf den See hinaus. Der Nebel blieb uns getreu, wie eine nahe Wand hing er um uns und zog unserem Rudern nach. Aber er machte es auch heimlich, wir ruderten und waren doch wie in einer kleinen Stube, entzogen den Blicken und Worten der Menschen, zu dreien allein.

Da erinnerten wir uns, wie wir hier an einem Junitag vor sechs Jahren gerudert waren: Karla, damals noch ein Fräulein Hammer, mit ihrer Freundin Meta Schulze in einem Kahn, und Paulus Hagenkötter mit mir im andern, beide Parteien damals einander noch völlig fremd. Wie oft in solchen Fällen hatte die Bekanntschaft mit einem etwas zaghaften Spritzen begonnen. Später war dann ein Damenhut aus den sachte nebeneinander treibenden Booten ins Wasser gefallen, und Paulus, der praktische Erfinder, der ihn mit einem Ruder einfangen wollte, hatte ihn unter Wasser gedrückt.

Ich aber war diesem Hut mutig nachgesprungen und hatte ihn, tauchend, wirklich gerettet. Der Hut war zwar durch den Schlamm des Mummelteichs rettungslos verdorben, und das Reinigen meines Anzugs und das Wiederingangsetzen meiner versoffenen Taschenuhr hatten dreizehn Mark gekostet – aber das machte uns gar nichts aus! Damals war ich noch mit fünfzehn Mark Taschengeld Lehrling bei der Vira gewesen, während Fräulein Karla Hammer im Papiergeschäft von Springe für zehn Mark im Monat Briefblocks verkaufte und Romane auslieh. Wir rechneten und sparten zwar ununterbrochen – aber wir waren herrlich jung, und Jungsein, das ist Verschwenden, alles verschwenden! Geld, Gesundheit, Kraft, Nachtschlaf, Blicke ...

Wir hatten Bekanntschaft gemacht, und wenig später, als ich ganz unzureichend bekleidet auf einer Kiefernschonung saß (meine Kleider hingen zum Trocknen über einem kleinen künftigen Tannenbaum und sahen verschrumpelt und schlammig wie das Kostüm einer Vogelscheuche aus) – wenig später also, wollte ich sagen, machte ich die Bekanntschaft von zwei dunklen, ernsthaft prüfenden Augen. Wir sahen einander so lange und so eindringlich an, daß wir beide darüber rot wurden und uns mindestens fünf Minuten lang nicht mehr ansehen konnten.

Damals ging noch alles ganz gut zwischen Meta Schulze und Paulus Hagenkötter, niemand konnte voraussehen, daß zwischen der Lehrerin Fräulein Schulze und dem Kontoristen Herrn Hagenkötter einst so erbitterte Feindschaft herrschen sollte. Während zwischen Karla und mir eigentlich von der ersten Stunde an alles klar vorauszusehen gewesen war. Denn als wir dann im Dunkeln – mein Anzug war noch recht recht feucht und immer noch völlig Vogelscheuche: sieh her, und bleibe deiner Sinne Meister! – als wir also im Dunkeln Arm in Arm nach Haus gingen, gaben wir uns schon den ersten Kuß! Es war ja dunkel, wir mußten uns nicht ansehen dabei –!

Und es hätte noch immer mit uns nichts zu werden brauchen trotz dieses Kusses, denn wenn man jung ist, ist die Welt voller Küsse. Aber nun wir es doch so, daß Karla mich nicht betrügen konnte, sie mußte es mir gestehen, daß sie schon einmal einen Jungen geküßt hatte. Und es war gar nicht so schön gewesen, und sie hatte sich so geängstet ...

Leise redete sie im Dunkeln neben mir weiter. Wir gingen nicht mehr Arm in Arm, eines hatte die Hand um die Hüfte des anderen gelegt, wir wußten noch nichts, unser Blut war noch ruhig, küssen war schon Glück genug.

Und er hat mich gar nicht geküßt, weil er mich gerne mochte, sondern bloß weil er seine Mutter ärgern wollte, die ihm das Ausgehen am Abend verboten hatte! Extra haben wir uns unter die Gaslaterne vor seinem Hause stellen müssen, wo er doch wußte, seine Mutter lauerte auf ihn, und er hat gesagt: Nun machen wir einen Fünf-Minuten-Brenner! Und genau fünf Minuten lang hat er mich geküßt, er hat dabei immer auf seine Armbanduhr gesehen, er hatte seinen Arm hinter meinem Kopf – oh, war das eklig! Findest du nicht auch –?

Ich gab ihr als Antwort nur einen Kuß, er war ohne Uhr gegeben, aber die Sterne zwischen den schwarzen Baumwipfeln über uns fingen so an zu tanzen, daß ich die Augen wieder zumachen mußte ...

Und ich bin vom Fleck nach Haus gelaufen und bin im Dunklen ins Bett gekrochen. Ich wagte kein Licht zu machen, ich dachte, Mutter müßte es mir ansehen. Und die ganze Nacht habe ich wach gelegen und auf das Hellwerden gelauert, damit ich mich im Spiegel sehen konnte. Ich hatte solche Angst, alle würden es mir ansehen! – Du, das ist aber erst ein halbes Jahr her, ist das schlimm?

Ja, so war Karla, von der ersten Stunde an offen und ehrlich, Heimlichkeiten gab es bei ihr nicht. Ich habe fast zwei Wochen gebraucht, bis ich ihr gestand, daß ich vor ihr schon vier Mädchen geküßt hatte ...

Wir trieben mit dem Kahn immer leiser durch den Nebel, und schließlich ließ ich die Ruder ganz ruhen, nahm ihre Hand und sagte: Ach Kerlchen, es ist doch immer schön gewesen – warum soll es denn nicht schön bleiben können, jetzt, wo wir Geld haben?

Sie drückte meine Hand wieder, aber sie sagte jetzt doch: Aus guter Meinung hat uns dein Onkel Eduard sein Geld nicht vermacht. Er hat uns etwas Böses damit antun wollen.

Aber das ist doch Unsinn! rief ich. Wie er es gemeint hat, das ist ganz egal! Man kann Geld haben und anständig bleiben!

Auch bei viel Geld? Bei sehr viel Geld?! Ich glaube, man muß da furchtbar stark sein! Ich muß immer daran denken, was er geschrieben hat, daß alle Leute von den Reichen nur Geld wollen und wie sie das böse und mißtrauisch macht.

Siehst du, nun redest du doch von dem Brief! Es sollte von ihm überhaupt nicht mehr geredet werden, du hast ihn darum selbst verbrannt.

Das ist keine Antwort, Maxe! sagte sie. Auf dem Wege hierher habe ich solche Angst gehabt, du könntest einmal so werden wie dein Onkel. – Sieh mal, Max, wir haben erst fünfundzwanzig Mark von dem Geld ausgegeben, das von der Sparkasse können wir wieder abheben ... Wenn wir nun zum Herrn Justizrat gingen und ihm sagten, daß wir es uns anders überlegt haben, wir wollten lieber nicht erben?

Aber, Karla, schrie ich fast, sprang hoch und wäre vor Aufregung beinahe wieder in den Mummelteich gefallen. Das ist doch ganz unmöglich! So können wir uns doch nicht blamieren! Denke doch, der Nachlaßrichter! Und der Justizrat! Und wie soll ich denn je mit Subdirektor Kracht wieder in Ordnung kommen, wo ich schon so viel gefehlt habe? Und alle werden sagen, wir sind verrückt, und ich werde nie wieder eine Stellung kriegen! Und dann das Honorar für den Justizrat und die Gebühren vom Gericht – woher sollen wir denn das Geld nehmen?

So überschüttete ich sie mit Gründen, und einer war immer beweiskräftiger als der andere, aber mein Hauptgrund, den ich ihr nicht sagte, war doch der, daß man eine Erbschaft von drei Millionen einfach nicht ausschlägt, nie und unter keinen Umständen. Statt dessen sprach ich ihr von der Mücke, was wir ihr für eine Erziehung geben könnten, und wie viele Kinder wir noch haben wollten, und wie schön es sein würde mit all den Kindern in dem großen Hause, und sie würden einen Ponywagen haben und ein Ziegengespann und einen Hauslehrer, und Englisch würden sie lernen ...

Oh, ich wurde so beredt, ich erstickte jeden Widerspruch mit Gründen, Hoffnungen, Plänen! Und schließlich war sie ja als lebenspraktische Frau genauso überzeugt wie ich, daß man ein solches Geschenk nicht ausschlägt, einfach nicht ausschlagen kann.

Es war ja bloß ein Gedanke von mir, Maxe, sagte sie schließlich entschuldigend. Rege dich bloß nicht so schrecklich auf, du fällst noch aus dem Kahn. – Aber wenn ich merke, daß du, was er da geschrieben hat, von anderen Frauen, du weißt schon ...

Rede nur keinen Unsinn! sagte ich grenzenlos verlegen. Immer wieder fängst du von dem dußligen Brief an. Der ist verbrannt!

Denn ich bin eifersüchtig, Maxe, redete sie unaufhaltsam weiter und schämte sich nicht die Spur, und dich lasse ich mir nicht wegnehmen. Und wenn ich merke, du kommst in Gefahr, dann tue ich was ...

Sie versank in Nachdenken.

Was tust du denn da? fragte ich neugierig.

Das weiß ich noch nicht! Aber du sollst sehen! Du kennst mich noch lange nicht!

Sie funkelte mich an, als habe ich schon ... als sei ich bereits ...

O Gott, es ist schon fast dunkel, wir müssen nach Hause! Da ist die Mücke uns richtig eingeschlafen, hier auf dem kalten Wasser. Wir sind schöne Eltern! Das fängt ja gut an mit unserer Vorsorge für das Kind!

*

 


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