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5. Kapitel

Eine Predigt vor tauben Ohren – Das Schuleschwänzen – Millionäre! – Ahnungslose Hühner mit guten Vorsätzen

 

Ich würde die Testamentseröffnung am nächsten Vormittag Punkt elf Uhr fünfzehn auf dem Amtsgericht unter der Obhut von Herrn Justizrat Steppe gerne ganz übergehen, aber ich kann unmöglich den alten Richter Schneidewind auslassen, trotzdem wir ihn nur eine Viertelstunde sahen und er überhaupt keine weitere Rolle in diesen Aufzeichnungen spielt.

Liebe Kinder, sagte der alte weißhaarige Mann und sah in dem trüben, dunklen, häßlichen Amtszimmer von seinen trüben, häßlichen Papieren hoch. – Liebe Kinder – als Richter und Jurist habe ich meine Pflicht getan, euch mit Testament und Erbteil bekanntgemacht und auf die einschlägigen Bestimmungen gebührend hingewiesen. (Den Brief Ihres verstorbenen Onkels haben Sie doch gut und sicher in Ihrer Tasche, Herr Schreyvogel?) Aber als alter Mensch möchte ich euch doch noch ein paar Worte sagen, da ich euch jetzt so ahnungslos jung und blühend vor mir stehen sehe ...

Er sah uns freundlich an durch seine Brille, freundlich und ein wenig traurig. Ich hätte ihm gerne die Hand gegeben, er meinte es sicher herzensgut. Aber ich hatte es so eilig, noch kein richtiges Wort hatte ich mit Kerlchen über diesen unfaßlichen Glücksfall reden können. Auch Justizrat Steppe räusperte sich ungeduldig.

Ich weiß, ich weiß! sagte der alte Mann. Ihr möchtet hinaus und euch erzählen, wie man sich fühlt, wenn man grade ein Millionär geworden ist! Ihr denkt, ihr seid noch dieselben, als die ihr heute früh aufwachtet: sehr jung und ohne große Ansprüche. Ihr denkt und werdet's noch die ersten Tag weiter denken, man kann ein Millionär sein und derselbe Mensch weiter bleiben. Liebe Kinder – wenn ihr nur Kinder bliebet! Aber nichts macht so schnell satt – und satt heißt alt – wie das Geld. Ihr werdet nun nicht nur erkennen, was die Menschen sind – nämlich nichts Gutes, sondern auch, was ihr seid – nämlich auch nichts Gutes.

Herr Justizrat Steppe räusperte sich mahnend, fast ein bißchen drohend. Ich fand diese Ansprache ja sehr nett gemeint, aber doch nicht ganz den richtigen Auftakt für unser neues Leben in Glück und Glanz. Die Karla neben mir hatte genau das Gesicht wie damals in der Matthäikirche, als uns Pastor Lenz traute: feierlich, aber bestimmt hörte sie kein Wort, sondern dachte an Einkäufe, Motorrad, Wünsche ...

Der alte Nachlaßrichter Schneidewind lächelte, als er uns drei so sah: gedankenlos, ungeduldig, verlegen.

Ich predige tauben Ohren, sagte er. Aber, junger Mann, Sie haben ein ganz offenes Gesicht: bedenken Sie bei allen Enttäuschungen, die Sie an andern und an sich werden erleben müssen, daß der Mensch doch gut ist – Sie und die andern auch. Nur dem Gelde zeigt er seine schlechteste Seite. Vergessen Sie nicht ganz, an was Sie bis jetzt geglaubt haben, Gutes und Tatkräftiges, und verlieren Sie vor allem Ihre Jugend nicht –!

Er sah so rührend aus, als er mir seine Hand entgegenstreckte, als bitte er mich um eine Gunst. Ich nahm die Hand und schüttelte sie, ich glaube, ich murmelte etwas. Ich war auch gerührt, fest entschlossen, ein ›guter‹ Mensch zu sein, ohne doch genau zu wissen, in was dieses ›Gute‹ eigentlich bestehen sollte.

Also gehen wir, sagte der Justizrat energisch. Es muß vielerlei erledigt werden!

Was muß denn alles erledigt werden? fragte Karla und sah zögernd-sehnsüchtig die Straße entlang, auf die wir nun endlich gekommen waren.

Tausenderlei! sagte der kleine Justizrat energisch. Sie müssen immer bedenken, gnädige Frau, es ist ein großes Vermögen, ein sehr großes Vermögen! Ihr Herr Gemahl muß Akteneinsicht nehmen, Unterschriften sind zu leisten, die Erbschaftssteuer muß besprochen werden, wir müssen einen Erbschein beantragen ...

Aber das kann ja Stunden dauern! sagte Karla unentschlossen.

Stunden –? Tage! Liebe gnädige Frau, Sie werden sich daran gewöhnen müssen, ein so großes Vermögen (schon wieder!) bringt auch Pflichten mit sich, viele Pflichten. Wenn auch nur kurze Zeit seit dem Tode Ihres Herrn Onkels verflossen ist, liegt doch schon vieles vor, das entschieden werden muß ...

Und ich muß jetzt meinen Mann allein für mich haben! rief Karla. Wir müssen uns erst aussprechen. Herr Justizrat, wir müssen ...

Justizrat Steppe sah uns einen Augenblick unentschlossen an. Aber dann lachte er. Über sein kleines, dürres, bärtiges Aktengesicht ging ein Glänzen, etwas Trockenes, eigentlich – er verzeiht mir nie den Vergleich! –, als gähne eine Ziege.

Hähä –! Die Jugend, die goldene Jugend! Also wir wollen die Schule schwänzen, einen freien Tag haben? Bitte, meine Herrschaften, bitte!

Er lachte noch einmal sein Hähä, wurde jedoch sofort wieder ernst.

Aber morgen früh, um neun Uhr spätestens, komme ich zu Ihnen –!

Ich muß doch aufs Büro! In die Vira! Ich habe doch nicht gekündigt! rief nun ich.

Ins Büro –? Hähä! Herr Rittergutsbesitzer Schreyvogel geht aufs Büro – hähä –, der Millionenerbe als Kontorist – das wäre so ein Bild für die Illustrierten Blätter – hähä!!!

Ich war fast empört über seine alberne Lacherei, ich fand gar nichts Lächerliches dabei, wenn ich meine Kündigungsfrist einhielt. Die Mahnungen mußten pünktlich heraus, und so schnell fand Herr Kracht bestimmt keinen Ersatz.

Nein, nein, beruhigte mich Herr Justizrat, machen Sie sich gar keine Gedanken. Ich bringe das mit Ihrem Chef in Ordnung. Er wird sich ein Vergnügen daraus machen, Ihnen gefällig zu sein ...

Ich war dessen nicht so sicher, aber Karla sagte eilig: Also morgen früh um neun! Und jetzt dürfen wir wohl gehen, Herr Justizrat?

Ja ... sagte der Justizrat nachdenklich. Und plötzlich lebhaft: Aber, Sie können doch nicht da in Ihrer Mansarde wohnen bleiben, wo jeder hereinlaufen kann?! Wie sollen wir da arbeiten? Mein lieber Herr Schreyvogel, verehrte gnädige Frau, tun Sie mir einen Gefallen: ziehen Sie sofort um ...

Aber wir können doch nicht ...!

Wir waren aus allen Himmeln gefallen.

Unsere Sachen ...

Woher kriegen wir denn so schnell eine andere Wohnung?

Keine Möbel ...

Die Packerei ...

Das ist doch alles ganz einfach! sagte der Justizrat überredend. Später ziehen Sie natürlich nach Gaugarten ins Schloß ...

Ins Schloß ... wiederholte Karla gedankenvoll.

Jawohl, dreißig oder vierzig Zimmer! bestätigte der Justizrat stolz, als sei er der Besitzer dieser Zimmerfluchten. Aber in der ersten Zeit, wo noch so viel Geschäftliches vorliegt, wäre es besser, Sie blieben in meiner Nähe.

Unsere Wohnung, sagte Karla schwach.

Also das beste ist, Sie ziehen vorläufig in das Palast-Hotel. Ich werde dort anrufen und Zimmer für Sie bestellen. Eduarda ist Ihre einzige Tochter –? Ihr einziges Kind –? Gut ... Er zählte an den Fingern: Fünf, sechs, sieben Räume werden erstmal genügen. Wir müssen ein Arbeitszimmer für Sie haben, Herr Schreyvogel. Dann ein Konferenzzimmer. Ein Zimmer für Ihren Sekretär ...

Meinen Sekretär ... murmelte ich benommen. In meinem Kopf drehte sich ein Mühlrad. (Es sollte in den nächsten Wochen nicht wieder zum Stillstand kommen.)

Natürlich, einen Sekretär müssen Sie sofort haben, auch zwei, drei Stenotypistinnen ...

Stenotypistinnen für meinen Mann –? fragte Karla mit einem Drohen in der Stimme.

Selbstverständlich! Sie werden Briefe über Briefe bekommen, Sie werden sich vor Arbeit nicht retten können ... Aber wir stehen noch immer auf der Straße. All das bespricht sich viel besser auf meinem Büro. Verehrte gnädige Frau, Ihre Idee mit dem schulfreien Nachmittag (Hähä!) ist ganz reizend, aber Sie sehen selbst: tausend Dinge ...

Wir wollen unsern freien Tag haben! sagte Karla mit aller Energie. Morgen, was Sie wollen, Herr Justizrat, aber heute, der Tag gehört noch uns, nicht wahr, Maxe –?

Ich würde ja auch denken ... sagte ich schwach.

Aber dann gestatten Sie wenigstens, daß ich Ihren Umzug in das Palast-Hotel vorbereite? bat der Justizrat dringend. Sie können doch unmöglich  ... Eine Mansarde, überlegen Sie doch nur –! Sie sind doch jetzt ein Millionär, Herr Schreyvogel –!

Und wer soll packen?! rief Karla. Heute stelle ich mich unter keinen Umständen hin und ...

Packen –? fragte der Justizrat erstaunt. Aber doch der Packer des Spediteurs! Ich schicke meinen Bürovorsteher Fiete hin, unter seiner Aufsicht ...

Meine Sachen?! Ein Packer, Ihr Bürovorsteher – daraus wird nichts, Herr Justizrat! Meine Sachen packt keiner als ich!

Aber liebe, gnädige Frau! suchte der Justizrat meine zornige Karla zu beruhigen. (Aber die ›Gnädige Frau‹ machte schon gar keinen Eindruck mehr auf sie.) Sie haben jetzt unendlich viel Sachen, ich sagte schon, dreißig oder vierzig Zimmer voll, herrlich eingerichtet –! Kunstgegenstände, Original-Ölgemälde, teilweise mehrere Quadratmeter groß ...

Kunstgegenstände! rief Karla verächtlich. Von mir aus! Aber meine Wäsche rührt kein Packer von einem Spediteur an! Das sage ich Ihnen! Die habe ich als junges Mädchen Stück für Stück in meiner Hamsterkiste zusammengespart. Und überhaupt, Herr Justizrat, heute nacht wollen wir unbedingt noch in unserm alten Heim schlafen; was morgen wird, das werden wir ja morgen sehen –!

Sie blitzte ihn entschlossen an. Mit all ihrer Leidenschaft lehnte sie sich gegen das Joch auf, das er ihr auferlegen wollte.

Und jetzt adieu, Herr Justizrat. Ich muß nach meinem Kind sehen. Nach meinem Kind sehe ich auch allein, das soll mir kein Packer unter Aufsicht Ihres Bürovorstehers einpacken –!

Karla! bat ich, ganz erschrocken, daß meine Frau mit einem älteren, akademisch gebildeten Herrn so umsprang.

Aber der Justizrat lächelte nur. Sehr verehrte gnädige Frau, sagte er freundlich. Alles, wie Sie und Ihr Herr Gemahl – kurzer Blick auf mich – es wünschen! Ich will Ihnen doch nur behilflich sein! Und nun noch eine allerletzte Frage, ehe ich Sie endgültig gehen lasse: haben Sie Geld?

Geld? fragte ich und sah ihn etwas ängstlich an. Ich hatte mich schon eine ganze Weile davor gefürchtet, daß er von seinem Honorar reden würde.

Aber Karla verstand ihn besser. Geld! sagte sie stolz. Es ist doch grade erst Ultimo gewesen. Wir haben noch fünfundsechzig Mark, Herr Justizrat!

Fünfundsechzig Mark – hähä!

Diesmal war nun ich wirklich sehr nahe daran, wütend auf den Justizrat zu werden.

Aber sie können doch unmöglich ohne Geld herumlaufen ...

Von fünfundsechzig Mark haben wir einen ganzen Monat gelebt, fing Karla sehr scharf an.

Natürlich, natürlich! sagte der Justizrat eilig. (Er hatte Karla gegenüber keine glückliche Hand.) Sie werden in den nächsten Tagen Geld brauchen, auch kleinere Wünsche befriedigen wollen, trotzdem ich von größeren Anschaffungen abraten möchte, ehe Sie nicht gesehen haben, was alles Sie besitzen ... Aber vielleicht ein moderner Anzug für den Herrn Schreyvogel, ein Pelzmantel für die junge Frau ...

Wir sahen den listigen Verführer an wie die Kinder den Weihnachtsmann. Jetzt, jetzt legte er auch Karla das Joch auf den Nacken!

Wie gesagt, Sie brauchen Geld. Die Bankkonten Ihres Herrn Onkels werden erst nach Ausstellung des Erbscheins freigegeben. Aber ich bin Ihnen gerne behilflich ...

Ich habe noch nie Geld gepumpt –!

O Gott, kein Darlehen! Er hob flehend die Hände. Ich bin doch vorläufig noch Ihr Vermögensverwalter und – seine Stimme wurde sehr süß – hoffe es auch weiter zu sein, wenn ich Ihr Vertrauen erringen sollte ...

Wir sahen ihn atemlos an. Daß ein so würdiger alter Herr solche Verbeugung vor uns machen, uns so zwingend anlächeln würde – es war erstaunlich!

Ich habe hier einen kleinen Scheck. Er drückte mir das Papier in die Hand. Am Bankschalter einzulösen, Herr Schreyvogel. Gleich am Markt, die Landschaftliche Bank – ich habe Ihren Besuch schon angezeigt. Und jetzt – einen recht vergnügten Tag –!

Er zog seinen Hut mit unendlicher Höflichkeit, er lächelte uns an, es sollte wohl freundlich aussehen, aber er lächelte wirklich, als hätte eine Ziege Zahnschmerzen. Er ging. Wir starrten ihm nach, wir starrten ihm atemlos nach.

Dann sahen wir einander an.

Karla bewegte mit einem schwachen Lächeln die Lippen, aber sie sagte keinen Ton. Ich hob die linke Hand mit dem Scheck gegen das Gesicht, ließ sie dann aber entschlußlos wieder sinken.

Es war uns wie in einem Traum. Gleichzeitig wandten wir die Köpfe. Wir sahen die kleine, schwarze Gestalt des Justizrats durch den Nebel wie Rauch die Straße hinabgehen – eine Ecke, fort war er, wie aufgegangen in Rauch!

Gleichzeitig wandten wir einander die Gesichter wieder zu.

Es ist doch wirklich wahr –? flüsterte ich.

Zeig mal den Scheck, antwortete Karla leise.

Gemeinsam neigten wir uns über das grünliche Papier, den ersten, auf uns ausgestellten Scheck unseres Lebens ...

Fünftausend Mark, flüsterte ich atemlos nach einer langen Zeit.

Fünftausend Mark, klang ihr Echo.

Wir starrten weiter. Die Zahlen verschoben sich vor meinen Augen, die Nullen flossen ineinander, die Fünf griff über den Rand des Blattes, mein Herz fing rasend an zu pochen.

Dein Motorrad ... flüsterte ich.

Geld für Paul ... sagte sie.

Reisen ... nach dem Nordkap, nach Indien, in die Südsee ...

Abendkleider, ein Paddelboot ...

Ich sah sie an. Ich glaube, Karla, es ist wirklich wahr ...

Ja! nickte sie entschlossen. Da steht fünftausend Mark, wir sind richtige Millionäre ...

Sie schluckte. Dann, tapfer: Aber, nicht wahr, Maxe –?

Nicht wahr, Kerlchen –?

Es ändert nichts, für uns, meine ich ...

Es bleibt alles so, wie es ist ...

Zwischen uns, ja.

Und auch für die kleine Mücke.

Ja, für die natürlich auch.

Wir standen, hatten uns die Hand gegeben. Es war irgendwie feierlich, sehr groß. Größer als unsere Trauung damals. Als hätten wir uns erst jetzt endgültig und für immer einander versprochen ... Ich sehe uns da noch stehen, vor der häßlichen, geschwärzten Backsteinfassade des Amtsgerichts Radebusch. Es war neblig, naßkalt, ziemlich windig. Ich sehe uns da stehen, ich in meinem billigen, aber wunderbar gebügelten Sonntagsanzug von der Stange und mit dem rehbraunen Überzieherchen, der uns einmal äußerst schick vorgekommen war, der sich dann aber gar nicht gut getragen hatte. Und Karla mit ihren langen, schlanken Beinen, das blasse Gesicht mit den leuchtenden Augen über einem graumelierten, schmalen Kragen aus Lammfell, ein Filzhütchen schief aufgesetzt. Menschen gingen vorüber, aus und in das Amtsgericht, sie achteten nicht auf uns – auf uns junge, ahnungslose Hühner ...

Millionäre –! sagte ich, ganz überwältigt, und flüchtig kamen mir Bilder aus den illustrierten Blättern ins Gedächtnis mit smarten, reichen Leuten in Smoking und Frack, ungeheure Entscheidungen treffend und nachher tolle Orgien mit beunruhigend eleganten Damen feiernd ...

Ich weiß, ich fror, im Augenblick darauf war mir siedend heiß ...

Wir wollen sehen, daß wir recht viel Gutes mit dem Gelde tun, hörte ich Karlas Stimme von weither kommen. Ich gebe es Paulus wirklich gerne, auch mehr als fünfhundert, Maxe ...

Ja, das wollen wir, bestätigte auch ich. Für uns können wir es doch nie aufbrauchen.

Ahnungslose Hühner –!

*

 


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