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54. Kapitel

Völlig unglaubhaftes Erwachen – Satan verläßt und Mehltau besucht mich – Die Folgen eines Ehrenwortes – Ich unterschreibe meinen ›Letzten Willen‹

 

Herr Schreyvogel, bitte, wachen Sie auf!

Eine Hand rührt an meiner Schulter.

Es ist drei Uhr nachmittags, Herr Schreyvogel! Drei Uhr. Wollen Sie sich nicht ein bißchen waschen und umziehen? Herr Justizrat Mehltau hätte Sie gerne gesprochen. Er kommt in einer halben Stunde vorbei.

Mühsam öffne ich die Augen, verständnislos starre ich die Sprecherin an. Langsam erfasse ich, daß Hanne mit mir spricht, Herrn Kalübbes Hanne. Dann erinnert sich mein schmerzender Kopf, wie ich hierher gekommen bin ...

Geben Sie mir ein Glas Wasser, Hanne. Bitte.

Bitte sehr, Herr Schreyvogel, Es ist jetzt drei, wenn Sie sich ein bißchen zurecht machen wollen? Um halb vier kommt Herr Justizrat Mehltau. Es ist alles hier ...

O Gott, denke ich, es ist drei, und ich habe mich noch nicht auf dem Schloß sehen lassen. Was wird Karla sagen? Und ausgerechnet heute muß Mehltau mich sprechen wollen! Was heißt das, es ist alles hier?

Dann erinnere ich mich, daß in diesem Zimmer heute nacht, heute früh eine Chaiselongue stand, und nun ist es eingerichtet! Es steht ein Waschtisch darin und ein Kleiderschrank und eine Kommode. Ein Teppich liegt auf der Erde, drüben am Fenster steht ein Tisch. An der Wand hängt ein Spiegel ...

Diese Sachen, Hanne, waren diese Sachen denn schon gestern abend, ich meine heute früh, hier?

Sie sind hereingestellt worden, während Sie schliefen, Herr Schreyvogel. Es ist alles da, auch Wäsche und Kleider. Darf ich Ihnen einen Anzug heraushängen? Herr Justizrat Mehltau kommt um halb vier ...

Aber wer hat –? Wieso sind die Sachen hier –?

Die gnädige Frau hat sie geschickt.

Aber woher weiß meine Frau –?

Ich habe es ihr gesagt, Herr Schreyvogel, erklärt Hanne und sieht mich fest an.

Wir schweigen eine lange Weile. Ich versuche zu begreifen. Was ist das alles? Also wissen es alle – die Möbel und Sachen sind ganz öffentlich herübergebracht worden, hierher ins Torwächterhaus. Also weiß es auch Karla? Aber was weiß sie? Da ist August Böök ...

Ich würde mich jetzt anziehen, Herr Schreyvogel, sagt Hanne. Herr Justizrat Mehltau kann in einer Viertelstunde hier sein. Soll ich Ihnen schnell einen Teller Haferschleim kochen? Mit Zucker oder mit Salz? Schön, dann tu ich noch ein Ei hinein ...

Sie geht. Ich möchte sie noch vieles fragen, aber ich kann jetzt nicht sprechen. Ich mag jetzt nicht fragen. Jedes Wort ist mir zuwider – und ich möchte doch so gerne wissen –!

Ich ziehe mich aus, ich wasche, rasiere mich. Ich denke: heute abend muß ich gründlich baden, und dann fällt mir ein, daß ich ja jetzt im Torwächterhaus ohne Bad bin, nicht im Schloß. Ich ziehe mich an, und als ich damit fertig bin und sich noch immer nichts rührt, räume ich meine Sachen sorgfältig fort. Mir fällt ein, wie lange es her ist, daß ich das selbst gemacht habe. Im Schloß hatte es Fitz tun müssen, Herr Strabow legte nur frische Wäsche heraus, gebrauchte wegzutun, war er zu fein ...

Da alles still bleibt, öffne ich die Tür und rufe hinaus: Hanne, ist die Suppe fertig? Ich bin so weit!

Keine Antwort.

Ich wage nicht, das Zimmer zu verlassen. Ich möchte jetzt keinen Menschen treffen. So trete ich ans Fenster. Vor mir läuft die schöne Lindenallee aufs Schloß zu, Sonne liegt über ihr, Pipping hat den Rasen gesprengt, alles sieht frisch aus.

Von rechts her höre ich sprechen. Ich gehe an das andere Fenster und sehe Hanne und August Böök im Gespräch. Beide sind ernst. Nun sehen sie zu meinem Fenster hin, ich trete rasch hinter die Gardine. Sie reden über mich, sie wissen, was mit mir los ist, ich möchte es auch gerne wissen.

August Böök geht um die Ecke des Torhauses herum, Hanne bleibt wartend stehen. Nach einer Weile höre ich einen Motor anspringen, und nun erscheint August Böök, am Steuer meines roten Wagens. Er winkt Hanne zu, wirft einen dunklen Blick zu meinem Fenster, grüßt mit der Hand am Schild seiner Seemannsmütze und fährt mit dem Wagen durch das Tor. Nein, er fährt nicht zum Schloß, nicht zu den Garagen – er fährt mit dem roten Satan von Gaugarten fort.

Er wird ihn zum Auflackieren fortbringen, sage ich mir, habe aber dabei ein Gefühl, als hätte ich meinen roten Wagen zum letztenmal gesehen.

Hanne schließt das Tor. Ich sehe, daß sie in ihrem Zustand Mühe hat, die schweren Haltestangen einzuhaken. Ich würde ihr gerne zu Hilfe kommen, aber wenn mich einer sähe –!

Hanne bringt die Suppe. Sie sagt: Herr Justizrat Mehltau wird jetzt wohl gleich kommen ...

Aber ich habe alle Zeit, die Suppe zu essen, der Justizrat kommt noch immer nicht.

Ich gehe im Zimmer hin und her. Dies Warten ist qualvoll – um Gottes willen, Sie müssen mir doch sagen, was eigentlich mit mir los ist. Ich kann doch nicht hier wie ein Gefangener sitzen! Seit gestern früh habe ich die Mücke nicht gesehen!

Endlich – es ist schon fast fünf Uhr – kommt Justizrat Mehltau. Ich sehe ihm entgegen wie dem Richter, der mein Urteil sprechen wird: Freispruch oder Schuldig.

Mehltau ist ein völliger Gegensatz zu Steppe, dem vertrockneten, mit Aktenstaub genährten Fuchs. Mehltau ist ein großer, blühender, blonder Mann, blauäugig, mit vielen schönen Schmissen im Gesicht. Mehltau ist – entgegen allem, was Onkel Eduard schrieb – das verkörperte gute Gewissen. Und er überträgt den Frohsinn seiner reinen Seele auf seine Klienten; hört man auf Mehltau, ist alles nur halb so schlimm, kommt alles bestimmt zu einem guten Ende ...

Mein lieber Herr Schreyvogel, so tritt er ein und streckt mir die Hand hin, also hier sehen wir uns wieder! Aber doch recht nett untergebracht, ich hatte es mir anders vorgestellt. Sehr hübsch, besonders dieser Blick ins Grüne, ich wollte, ich hätte so was in meiner Stadtwohnung! Und ich möchte gleich sagen, wenn Sie irgendwelche Wünsche haben, Bücher, Bilder, Essen – Ihre Betreuerin wird alles prompt erledigen!

Ich soll also hier wohnen bleiben? frage ich erschrocken.

Soll – aber mein lieber Herr Schreyvogel! Sie sind ein freier Mensch, Sie können wohnen, wo Sie wollen! Niemand kann Ihnen Vorschriften machen. Immerhin –

Er versinkt in Nachdenken.

Immerhin soll ich nicht im Schloß wohnen, nicht wahr, Herr Justizrat?

Aber natürlich, Herr Schreyvogel, wenn Sie es wünschen! Noch in dieser Minute! Sofort! Andererseits, er zögert, aber nicht aus Befangenheit, andererseits fragt es sich: Wünschen Sie es wirklich? Möchten Sie heute nachmittag noch ins Schloß übersiedeln?

Ich schwieg.

Sehen Sie, sagte er sanft. Sie wollen es ja gar nicht. – Ich würde auch auf den Zustand der gnädigen Frau Rücksicht nehmen. Sie ist reizbar, zu Depressionen geneigt – lassen Sie ihr Zeit!

Sie haben nicht den Auftrag, ich meine, weil ich doch getrennt von ihr wohnen soll – wegen einer Scheidung?

Aber wer redet von Scheidung, mein lieber Herr Schreyvogel?! Eine vorübergehende Trennung, Zeit zum Beruhigen, zum Einlenken, oder wünschen Sie die Scheidung?

Ich schwieg wieder.

Sehen Sie, also halten Sie erst einmal aus – oder möchten Sie anderswo hinziehen? Nach Radebusch? Dann wäre da die Frage des Geldes –

Wenn es gewünscht wird, bleibe ich hier wohnen, sagte ich.

Der Justizrat schien mich nicht gehört zu haben. Ja, sagte er. Über alles läßt sich leichter einig werden als über das liebe schlimme Geld. Deinde lacrimae – wie schon die alten Römer gesagt haben. Alles Leid stammt vom Geld. Aber ich bin überzeugt, Sie werden auch darin einsichtig sein.

Was ist denn mit dem Geld? fragte ich ganz verwirrt von diesen rätselhaften Andeutungen. (Ist denn mein unsinniger Ringkauf schon bekannt geworden?)

Die gnädige Frau hat mir mitgeteilt, Sie hätten eine Abmachung mit ihr getroffen.

Eine Abmachung? Mit mir? Ich verstehe nicht –

Doch, doch! Er nickte jetzt einst mit dem Kopf. Ich glaube nicht, daß sich die gnädige Frau da irrt. Die gnädige Frau äußert sich ganz klar. Es bestehe eine Abmachung zwischen Ihnen beiden, natürlich keine juristisch bindende, aber eine ehrenwörtliche, daß im Falle einer Wiederholung – es ist mir sehr peinlich, Herr Schreyvogel ...

Nun, gut, ich habe mich wieder betrunken, sagte ich sehr ärgerlich, ärgerlich vor allem darum, weil es dem Justizrat ersichtlich nicht im geringsten peinlich war. Aber was will Karla noch? Sie hat doch schon Vollmacht.

Ja, Vollmacht hat die gnädige Frau. Nur, Herr Schreyvogel – Er brach ab und sah mich ermunternd an.

Was denn noch? Was will Karla noch mehr? Meinetwegen soll sie mit dem verdammten Geld tun und lassen, was sie will!

Sehen Sie, da sagen Sie es auch! sprach Herr Justizrat Mehltau mit erhobenem Finger. Ihre Frau Gemahlin darf mit dem Gelde, also mit Ihrem gesamten Vermögen, tun und lassen, was sie will.

Und wer hindert sie?

Sie! Wenn Sie auch verfügungsberechtigt sind, kann Ihre Frau Gemahlin nicht verfügen, wie sie will.

Ich soll also –? (Dies hätte ich Karla nie zugetraut!)

Sie sollen Ihrer Frau Generalvollmacht erteilen – dies sei der Sinn Ihrer damaligen Abmachungen gewesen, behauptet sie.

Ich soll – dann hätte ich nichts mehr zu sagen?

Ich bin überzeugt, Sie haben alles Vertrauen zu Ihrer Frau Gemahlin. Gerade darum haben Sie damals doch wohl auch Ihr Ehrenwort gegeben?

Ich dürfte dann keinen Scheck mehr ausschreiben? Mir kein Geld mehr von der Gutskasse holen?

Ich hatte den Eindruck, daß Ihre Frau nicht im geringsten kleinlich ist.

Aber warum will Karla das? rief ich. Ich verstand es nicht. Karla, die sich doch nie vom Glanz des Geldes hatte blenden lassen! – Ich verstehe es nicht. Herr Kalübbe hat doch immer gewirtschaftet, wie er wollte. Was will sie denn ändern?

Frau Schreyvogel hat mir keine Mitteilung über ihre Pläne gemacht. Der Justizrat betrachtete mich prüfend. Nun fragte er: Willigen Sie also ein?

In die Generalvollmacht? Herr Justizrat, Karla kann tun und lassen, was sie will, ich werde ihr nicht hineinreden. Ich werde mir auch kein Geld holen – ohne ihr Einverständnis. Aber das schriftlich von mir geben, nein!

Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Sie haben also Ihrer Frau nicht Ihr Ehrenwort gegeben?

Doch, ja. Aber ich habe es mir anders gedacht.

Ich werde da verurteilt, Herr Justizrat, rief ich erbittert, ohne überhaupt angehört zu werden!

Aber wer spricht von einem Urteil? Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie Ihr Wort einlösen wollen.

Aber doch nicht so!

Wie denn?

Ich schwieg.

Wünschen Sie eine Unterredung mit Ihrer Frau? Ich wäre bereit, in diesem Sinne zu vermitteln.

Er stand auf, als wollte er sofort zu ihr.

Ich rief: Nein, bitte nicht!

Ich hatte nichts mit ihr zu reden, ich konnte mich nicht rechtfertigen. Es war vorbei mit der Zeit der kleinen Lügen, mit der grollenden Unmutsgebärde des Hausherrn. Und, was schlimmer war, ich hatte Angst vor ihr. Ich konnte so nicht vor sie treten. Plötzlich begriff ich, daß dies keine Sache war, über die man sich ›aussprechen‹ und dann sagen konnte: Ich bin wieder gut! Sondern daß hier erst etwas geschehen mußte, ich wußte bloß nicht was. Karla schien es zu wissen – so rasch hatte sie sich zum Handeln entschlossen.

Ich werde also die Generalvollmacht unterschreiben, sagte ich plötzlich.

Er nahm sie aus seiner Aktentasche und las sie vor. Je weiter er las, um so mehr begriff ich, daß dies viel mehr war, als eine Vollmacht wegen des Geldes. Karla wurden nicht nur alle Rechte übertragen, sondern meine Rechte wurden beschränkt. Ich sollte mich verpflichten, weder das Schloß, noch den an das Schloß grenzenden Teil des Parks zu betreten. Für die Dauer meiner Wohnung im Torwärterhaus wurde mir ein Taschengeld von wöchentlich zehn Mark zugestanden. Sollte ich aus Gaugarten fortziehen, stand mir nichts zu.

Ein schwacher anklagender Zorn regte sich in mir, als ich dies alles anhörte. So also sah Karla in Wirklichkeit aus! Ich hatte bei der Verwaltung, beim Gebrauch der Erbschaft versagt, nun wollte sie mir wohl zeigen, wie man es anfing! Ja, ich konnte mir gut denken, wie sie das Gut hochwirtschaften, die Erbschaftssteuern abtragen, kleinlich rechnen würde. Aber daß sie keine Rücksicht auf mich, auf unser beider Ruf nahm! Daß sie mich hier zum Gelächter und Spott von ganz Gaugarten und Umgebung einsperrte, mit zehn Mark Taschengeld in der Woche, das war so empörend, daß es ... daß sie wirklich nicht wert war, mit ihr zu streiten.

(Und selbst jetzt, selbst nach dieser Nacht kam mir keinen Augenblick der Gedanke, wie sehr ich zuerst ihre Ehre und unsere Ehe dem Gelächter und Spott von ganz Gaugarten und Umgebung preisgegeben hatte!)

Sie sind also mit allem einverstanden? fragte der Justizrat, der mit seiner Vorlesung fertig geworden war.

Ja! Meinethalben! Geben Sie her – ich unterschreibe!

Aber der Justizrat gab das Schriftstück noch nicht her.

Ich habe Ihnen eben alles langsam und deutlich vorgelesen, sagte er. Es ist doch alles klar und verständlich?

Nur zu sehr!

Ich sage es deshalb, erklärte er sich, weil ich es jetzt noch einmal in Zeugengegenwart vorlesen muß. Mein lieber Herr Schreyvogel, bitte, erregen Sie sich nicht. Es ist eine rein juristische Formalität. Ich werde so rasch vorlesen, daß die Zeugen kaum ein Wort verstehen.

Wer werden die Zeugen sein? fragte ich zornig.

Ganz nach Ihren Wünschen, Herr Schreyvogel. Falls Sie Wünsche haben.

Die Zeugen warten doch sicher schon!

Richtig, aber falls Sie einen besonderen Wunsch haben?

Nein! Nein doch! Machen Sie nur, daß dies zu Ende kommt!

Ich habe gedacht, Herr Kalübbe und Herr Schwöger – da es Ihre eigenen Beamten sind. Natürlich sind die beiden davon unabhängig zum Schweigen verpflichtet –

Hören Sie doch auf, rufen Sie die Zeugen herein! schrie ich fast.

Herr Kalübbe und Herr Schwöger traten ein.

Sie sahen mich so verlegen-schuldbewußt an, daß ich sofort merkte, ein undeutliches Vorlesen änderte nichts, sie wußten schon jetzt Bescheid. Sie drückten mir die Hand – und dieser Händedruck hatte eine fatale Ähnlichkeit mit jenen ersten Kondolenz-Händedrücken nach Onkel Eduards Tode, als all dies begann.

Während der Vorlesung saßen sie mit unbewegten Gesichtern, vornüber gebeugt, auf die Dielen starrend, da. Herr Kalübbe zog abwechselnd die Schäfte seiner Reitstiefel hoch, Herr Schwöger nahm ein paarmal sein Zigarettenschächtelchen aus der Tasche und besann sich erst im letzten Augenblick, daß Rauchen vielleicht doch unschicklich sei ...

Das Ganze hatte etwas vom Letzten Willen, Abscheiden, Totenfeier ...

Dann unterschrieb ich, unterschrieben sie, unterschrieb und stempelte der Justizrat.

Sie schoben sich verlegen, mit einem undeutlich gemurmelten Guten Abend aus dem Zimmer. Der Justizrat wollte mir noch etwas sagen, Trost oder Beileid, aber ich schob ihn rasch nach. Ich wollte allein sein.

*

 


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