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23. Kapitel

Lauter Mißgeschicke – Darf man mit einer Fahrkarte II. Klasse in der IV. fahren? – Weihnachtsschneelust – Keine Bleibe in Langleide

 

Nun gehen wir also wirklich, ganz unbewacht und unbewundert, morgens kurz vor fünf Uhr, durch die stillen Straßen unserer Heimatstadt Radebusch. Höchstens jede fünfte Gaslaterne brennt, die Häuser sind alle noch dunkel. Es ist vierundzwanzigster Dezember – heute abend ist das Weihnachtsfest: ehe der letzte große Sturmlauf der Abendvorbereitungen beginnt, schlafen die Menschen alle noch einmal besonders fest. Sogar die Kinder machen davon keine Ausnahme, die doch nichts vorzubereiten, sondern sich nur zu freuen haben und ohne deren Freude alle Vorbereitungen sinnlos sind ...

Wir haben die Mücke zwischen uns, sie trippelt eilig einher. Wir spüren es an ihren zappligen Händen, wie sie voll Fragen steckt, aber noch schweigt sie, denn der Bann der Verschwörung liegt auf uns.

Vor uns geht August Böök. Er hat sich den schweren Koffer auf die Achsel gesetzt, er trägt ihn wie ein richtiger Gepäckträger. Sein Schritt ist leise und leicht, die Matrosenhosen flattern ein wenig über seinen Schuhen.

Karla flüsterte mir zu: Gleich heute nachmittag werde ich seinen Pullover waschen, er ist wirklich eher schwarz als weiß. – Und erschrocken: O Gott! Nun haben wir an alles gedacht, und nicht an ein einziges Geschenk für den August! Das ist aber gar nicht recht von uns!

August Böök, der mit seinen Fuchsohren natürlich alles gehört hat, dreht sich um und sagt tröstend: Geht in Ordnung, Chefin. Ich habe mir was Schönes besorgt, das Sie mir schenken können. Und den Pulli wasche ich auch, habe bloß noch keine Waschgelegenheit gehabt!

Wir hatten beim Pläneschmieden immer Angst gehabt, es würden uns Leute treffen und erkennen. Jetzt, beim Bahnhof, tauchten wirklich einige auf, aber sie hatten es alle so eilig, und der Morgen war so fröstelig, daß sie gar nicht auf uns achteten. Trotzdem führten wir unser Programm genau wie vorgesehen durch. Wir gingen nicht in die Halle, wir kauften keine Fahrkarten, das erledigte alles der August Böök.

Und nun trennten wir uns. Zuerst ging Karla mit der kleinen Mücke durch die Sperre, um in einen Wagen zweiter Klasse zu steigen – und mir tat es nur leid, daß ich bei dieser ersten Fahrt in einem so vornehmen Abteil nicht dabei sein konnte. Aber August und ich, wir fuhren eben zweimal zweiter, gleich vierter, so war es geplant, um unsere Verfolger irrezuführen, und so wurde es auch ausgeführt. Ich zog den Hut finster tief in die Stirne und schob mich mit fortgehaltenem Gesicht an dem Billettknipser vorbei. Freilich fuhr ich gleich schreckhaft herum, als er mir nachrief: He, Sie! Ja, Sie beide – in Flötau umsteigen! Nicht vergessen!

Weiß ich ja, murmelte ich verdrossen, weil er nun doch mein Gesicht gesehen hatte, und ich malte mir aus, wie der eifrige Fiete vielleicht heute mittag schon nach uns stöbern würde ...

In dem Wagen vierter saßen nur zwei, eine Bauernfrau und ein Arbeiter, jedes in eine Ecke gedrückt, beim Einschlafen. In die dritte Ecke setzte sich August Böök, murmelte etwas von einem Auge voll Schlaf und war auch weg. Ich lehnte lange, nach dem Wagen zweiter Güte spähend, aus dem Fenster, bis die Bauersfrau über Kälte murrte und das Schließen forderte. Dann suchte ich in meinen Taschen nach den natürlich vergessenen Zigaretten, bis ich den Brief an das Steueramt fand.

Ich schoß aus dem Wagen. Halt! rief der Vorsteher. Der Zug fährt jetzt!

Aber die Annahmeerklärung mußte fort, sonst wurde es doch kein richtiges Weihnachtsfest. Ich schoß durch Sperre und Halle, der Briefkasten war außen vor der Bahnhofstür. Während ich lief, überlegte ich, daß der Zug bei meiner Rückkunft fort sein würde, daß ich den Brief ebensogut auch in Flötau hätte einstecken können, daß ich mich bis zum nächsten, bis zum Zwölf-Uhr-Zug unmöglich ohne Entdeckung auf dem Bahnhof würde herumdrücken können ...

Dann fiel die Briefklappe über dem Brief. Ich raste zurück. Der Knipser schrie mich so grob an, wie wohl noch nie ein richtiger Millionär angeschrien worden ist, der Vorsteher war noch gröber ... ich stolperte in mein Abteil, die schliefen, einschließlich August Böök ... Die Lokomotive zog an, ratternd, stuckernd setzte sich der Zug in Bewegung, klapperte über die Weichen – und nun ging es schon immer klarer und schneller. Rattatta, rattatta, ratt, ratt, ratt ...

Erleichtert aufatmend lehnte ich mich in meine Ecke. Nun fuhren wir wirklich unserem Weihnachtsfest entgegen, und die Erbschaft war reguliert! Zum Zuggeräusch sang ich bei mir: Die Preußen haben Paris genommen, jetzt werden bald bessere Zeiten kommen!

Sang es lange, immer leiser, immer verschwommener, bis auch ich hinübergedrusselt war, genau wie die anderen Schläfer.

Es weckte mich aber ein ungeduldiges Ziehen an meiner Nase: die Mücke kniff und zog mich wach mit dem Ruf: Papa, es schneit! Papa, sieh doch, es schneit! – Papa, heute ist Weihnachten, und es schneit! – Nun mach doch, Papa, und wach auf! Es schneit ja –!

Wo kommt ihr denn her? fragte ich höchst ungnädig und sah verschlafen um mich. Sind wir denn schon in Flötau? Ihr solltet doch ...

Im Wagen vierter Klasse ›Für Reisende mit Traglasten‹ war ein graues, fahles Dämmern. Die Mitfahrer schliefen noch, auch der August, trotz des Jubelgeschreis der Mücke – oder sie taten doch so. In die Eisschicht des Fensters hatte Mückchen einen Ausguck gehaucht und sah hinaus.

Es schneit aber wirklich, Papa! Sieh doch mal!

Großartig, Mückchen, sagte ich, und zu Karla: Wieso seid ihr denn jetzt hier? Wir wollten uns doch gar nicht kennen.

Es stellte sich heraus, daß Mückchen von der ersten Flocke an nicht zu halten gewesen war, sie mußte dem Vater den Weihnachtsschnee melden: Gewiß hat uns keiner gesehen beim Umsteigen. Es war ganz dunkel, und wir haben so schnell gemacht!

Aber wenn die dahinterkommen ...!

Ich war für genaueste Durchführung unseres Vorsichtsprogramms – bei den anderen, so viel leichtsinnige Fehler ich auch selbst auf dem Radebuscher Bahnhof begangen hatte. Aber schließlich, als ich erst richtig wachgeworden war und mit Mücke den Schneeflockentanz gebührend bewundert hatte, lenkte ich ein: Na also schön, Karla. Es wird alles wohl gut gehen. Ich meine ja bloß ... Dir wäre es doch am allerunangenehmsten, wenn morgen schon der Fiete auftauchte. Und Justizrat Steppe. Und Herr Matz. Und die Kiesow ...

Schweig still, Max! bat mich Karla und gab mir zum Zeichen, wie sehr sie unser Alleinsein schätzte, einen richtigen Kuß, nicht so einen der in letzter Zeit üblichen Ehestandsküsse.

Darauf schwieg ich gerne still, und nun saßen wir beieinander, sahen auf die drei Schläfer, antworteten der Mücke, und langsam wurde es, während wir Flötau entgegenrollten, heller und hell im Abteil, bis der Schaffner kam, das Licht löschte und die Fahrkarten zu sehen verlangte.

Der Schaffner aber, dem es doch ganz gleichgültig hätte sein können, war gar nicht einverstanden, daß ein Fahrgast der zweiten in die vierte Klasse übergesiedelt war. Er wollte von der Karla wissen, wieso denn, was denn dem Frauenabteil gefehlt habe? Und Karla hatte es mit der Begründung nicht leicht, denn mich durfte sie nach unserem Programm nicht angeben, und wir waren ja auch beim Eintritt des Schaffners schön fern und fremd auseinandergerückt.

Als Karla den Mann, der sich am meisten über das nutzlose Geldausgeben ärgerte, endlich fast durch die Behauptung beruhigt hatte, die Kleine habe mehr Spielraum haben müssen, verdarb die Mücke wieder alles. Denn sie stellte sich an meine Knie und nannte mich ihren lieben Papa; es gefiel ihr nämlich gar nicht, daß ihre Mutter so fremd mit mir tat, sie meinte wohl, wir hätten uns gezankt.

So, ist das dein Papa, Kleine? fragte der Schaffner gleich und sah von mir zu Karla, die sich glutrot angesteckt hatte, und dann verlangte er noch einmal, meine Fahrkarte zu sehen.

Es war richtig eine graue Fahrkarte vierter Klasse, und die Mama fuhr also zweiter Klasse, stieg dann aber in die vierte um. Ich sah es ihm an, wie sein Hirn an der Lösung dieses unbegreiflichen Rätsels kaute, er sah finster auf uns, Hilfe suchend nach der Bauersfrau und dem Arbeiter, die jetzt mit sehr wachen Augen auch auf uns starrten. Ich hätte ihm gern des Rätsels Lösung gesagt und konnte es doch nicht, weil ich ihm dann gewissermaßen unsere ganze Lebensgeschichte hätte erzählen müssen.

Grenzenlos verlegen waren wir, und diesmal half uns auch der August Böök nicht, sondern schlief. Die Verbrecher in den Kriminalromanen müssen sehr viel schlauer sein als wir, dachte ich noch. Und: Wenn der Fiete an diesen Schaffner gerät, sind wir gleich geschnappt. Und: Zum Schwindeln haben wir jedenfalls nicht sehr viel Talent ...

In Flötau umsteigen! sagte der Schaffner zornig und ging. Wir aber saßen geknickt auf unseren harten Holzbänken und wagten nicht, einander anzusehen, und nicht, zusammenzurücken, weil immer noch Bäuerin und Arbeiter guckten. Aber harmlos lief die Mücke mit Mummi- und Paparufen zwischen uns hin und her und machte, daß wir uns noch dämlicher fühlten, als wir uns benommen hatten.

Aber schließlich kam Flötau. Unter den mißtrauischen Augen des Schaffners stiegen wir um. Da aber nun doch alles verdorben war, blieben wir im Bimmelbähnchen alle beieinander, und hier war der Schaffner ein menschenfreundlicher Mann, der es ohne viel Fragen verstand, daß die Leute lieber gesellig beieinander hockten, statt gelangweilt für sich zu reisen.

An unsere fast dreistündige Winterwanderung durch den sachte immer mehr einschneienden Winterwald werden wir wohl zeitlebens denken, die Karla und ich, so schön war sie. Manchmal schwätzten wir, miteinander, mit der Mücke, mit dem August Böök – von allem, was uns in den Kopf kam, bloß nicht von Geld und Geldsorgen, und auch nicht von Justizräten und Steuern. Sondern meistens von Weihnachten, und von recht ungewöhnlichen Weihnachtsfeiern mit vielerlei Getier und mannigfaltigen Menschen wußte der August uns zu erzählen ...

Noch öfter aber schwiegen wir, sachte fiel der Schnee um uns. Wir gingen immer tiefer in die großen, schweigenden Wälder hinein, aus unserem öden Palastdasein hinaus. Die Luft war so rein und klar, daß wir sie wie einen stärkenden Wohlgeschmack in Mund und Lunge fühlten. Manchmal befreite sich ein großer Tannenast von seiner stets wachsenden Last und stäubte uns lockeren Schnee auf Gesicht, Hände und in den Nacken.

Dann schüttelten wir uns lachend, vor lauter Daseinswonne warf sich die Mücke in den Schnee, wälzte sich und kreischte vor Lust. Der August Böök setzte den Koffer ab, faßte lachend die Mücke an beiden Füßen und ließ sie schlittenfahren. Karla und ich bekamen darüber auch das Rangeln, jedes hätte das andere gerne im Schnee liegen gesehen und wäre vergnügt mit ihm schlittengefahren ...

Wir rangen miteinander, und keines wollte nachgeben, und allmählich wurde aus dem Ringen ein Umarmen, und als wir in den Schnee fielen, fielen wir beide willig, und der Kuß, den wir uns gaben, war so verliebt wie seit vielen Wochen nicht! Richtig jung und lebenslustig wurden wir wieder, nach der Ödnis vergangener Wochen flammte die Freude wieder auf, wieder wurden wir die jungen Leute, die jungen Schreyvogels, die jungen Schreievögel – ohne Geld, aber vergnügt.

Dann sahen wir alle ein, daß wir auf diese Art nie nach Langleide kommen würden, alle bis auf die Mücke. Die aber ließ ich auf meinen Schultern reiten, und nun kamen wir mindestens fünf Minuten lang rasch voran, bis wir auf ein Hasenlager stießen. Oder Karla ausrutschte und hinfiel. Oder die Mücke anfing, aus lauter Langerweile den Schnee von allen Ästen, die sie fassen konnte, auf mich und sich herabzustäuben. Bis es also wieder einen neuen vergnügten Aufenthalt gab ...

Aber, wie schon gesagt, in etwa drei Stunden schafften wir es doch nach Langleide. Wir klopften uns vor der Tür zum Gasthof ›Stadt Radebusch‹ den Schnee von Kleidern und Füßen und traten lachend in die Gaststube ein.

Dort waren sie, fünf Weibsen und ein Mann, gerade beim Schweineschlachten, und sie sagten es uns gleich, daß sie heute mit ihren drei Schweinen ohne Gäste schon zu viel zu tun hätten, und was das Nachtlogis anlange, so hingen im einzigen Fremdenzimmer die Mett- und Salamiwürste zum Trocknen, und welcher ordentliche Mensch es denn mache, gerade zum Weihnachtsfest anderen ordentlichen Menschen unangemeldet ins Haus zu schneien?! Zum Fest bliebe ein jeder ordentliche Mensch daheim!

Worauf wir gebeten wurden, die Tür wieder zuzumachen, aber von außen!

Wir taten es betrübt und standen also wieder auf der Langleider Dorfstraße. Gleich fragte die Mücke: Gibt es nun kein Weihnachten? Und schickte sich an zu weinen.

*

 


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