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7. Kapitel

Wir trauen uns nicht nach Haus – Steuerobersekretär Vormann als Unke – Blumentüchlein, Sparbuch und Autofahrt

 

Jetzt waren wir schon so mißtrauisch und verschüchtert, daß wir uns nicht in unsere Mansardenwohnung hinaufwagten. Wir standen, hundertzwanzig Meter entfernt, an der Straßenecke, spähten zu unserm Fenster, meinten, die Mücke nach uns schreien zu hören, und wagten uns doch nicht zu ihr. Denn sicher lagen einer oder drei oder viele auf der Lauer, um uns gehalten trauervoll ihr Beileid auszusprechen, uns anzustarren und zu fotografieren.

Geh du doch rauf! schlug ich Karla vor. Ich bin doch der eigentliche Erbe, und vielleicht kennen sie dich nicht so. Wenn wirklich welche oben sind, tust du so, als wärst du fremd und wolltest zur Mutter Böök.

Und drinnen hör ich die Mücke schreien und gehe nicht zu ihr?! Du hast doch manchmal Ideen, Maxe –! rief Karla empört.

Da sahen wir den Obersekretär vom Steueramt, Herrn Vormann, mit seiner Aktentasche die Straße entlangkommen. Es war ja mittlerweile nach eins geworden und Essenszeit, für uns wie für ihn, wie für die kleine Mücke ...

Karla stürzte sich geradezu auf ihn: Herr Obersekretär, Sie müssen uns einen Gefallen tun! Ja, ich weiß, Sie wollen uns Ihr Beileid aussprechen, das ist schon in Ordnung! Max und ich, wir danken Ihnen. – Aber jetzt gehn Sie bitte für uns rauf in unsere Wohnung, hier ist der Schlüssel, und bringen uns die Mücke herunter ... Aber wenn jemand oben auf uns wartet, sagen Sie nicht, daß wir hier unten stehen ... Unter keinen Umständen, versprechen Sie das! – Und ziehen Sie ihr das rote Mäntelchen an; es hängt am Kleiderhaken neben dem Ofen, und setzen Sie ihr die Rotkäppchenkappe auf, sie muß da auch hängen ... Um die Handschuhe kümmern Sie sich nicht, die stecken in der Tasche vom Mäntelchen, mit den Handschuhfingern kommen Sie als Mann doch nicht zurecht ... Aber vergessen Sie nicht die Taschentücher, zwei Stück, Herr Obersekretär, Mückchen hat solchen Schnupfen! Im dritten Fach von der Kommode, ganz rechts ... Ach ja, und dann die Schuhe –

Bis hierher hatte Herr Obersekretär Vormann den immer hastigeren, atemloseren Redestrom Karlas geduldig über sich hinbrausen lassen. Er hatte sie mit seinen blassen blauen Augen unverwandt angesehen, und sein Gesicht war eitel Aufmerksamkeit gewesen. Jetzt aber, da Karla einen Augenblick Atem schöpfte, um zu überlegen, wo Mückes Schuhchen standen, fragte er ernst: Sie haben also wirklich geerbt?

Na natürlich! rief Karla empört. Sonst würde ich mich schon selber in meine Wohnung trauen!

Herr Vormann nickte, als verstehe er diese Zusammenhänge vollkommen. Jaja, sagte er so traurig-freundlich wie der Vertreter eines Begräbnisinstitutes. Jaja, Sie haben also wirklich geerbt – nun fangen die Sorgen an! Sie sind doch die Universalerben?

Natürlich! rief Karla. Aber wir wollen jetzt gar nichts davon hören. – Die Schuhe, die braunen, hohen, stehen am Herd. Sie sind nämlich gestern naß geworden, Herr Obersekretär –

Und haben Sie auch schon daran gedacht, fuhr Herr Vormann mit einer etwas vorwurfsvollen Stimme fort, als hätten wir uns der schlimmsten Nachlässigkeit schuldig gemacht, daß Sie über eine Million Mark Erbschaftssteuer an das Steueramt werden abführen müssen –?

Er sah uns mit seinen kugelrunden, blaßblauen Augen erwartungsvoll an. Ich weiß noch, daß meine sonst so temperamentvolle Karla vor Schrecken ganz blaß wurde und kein Wort hervorbrachte. Ich aber machte einen Satz, ganz wie vor langer Zeit in der Schule, wenn mein Hintermann Schnoffke mich beim Gedicht-Deklamieren unversehens mit einer Nadel stach, und rief: Über eine Million Mark, die sollen wir zahlen? Das ist doch unmöglich!

Herr Vormann nickte ernst. Doch, sagte er. Schon bei fünfhunderttausend Mark müssen erbende Neffen in der Klasse IV 28 Prozent der Erbmasse abführen. Und da das Vermögen über drei Millionen beträgt, vielleicht sogar vier –

Er hielt inne. Ich versuchte in der Eile auszurechnen, welchen Prozentsatz wir bei drei Millionen ... Aber ich, ein guter Kopfrechner, kam jetzt nicht damit zurecht. In meinem Kopf drehte sich alles, farbige Räder, und wie die beweglichen Schilder in einer Schießbude erschienen schwarze Zahlen: 44 Prozent – 60 Prozent – 97 Prozent – 345 Prozent!!!

Ich sah Karla an. Sie hatte die Lippen so fest aufeinandergepreßt, daß sie fast weiß waren. Ihr Mund war nur noch ein Strich.

Aber unermüdlich ging die sanfte, traurige Stimme von Herrn Obersekretär Vormann fort – ich hatte es bis zur Stunde nicht gewußt, was für ein ekelhafter Kerl er war. Ich hatte ihn immer für sehr nett gehalten, besonders sein erleichtertes Singen nach dem Rasieren hatte ich stets gerne gehört. Aber jetzt fing ja überhaupt für mich die Zeit an, wo ich an meinen Mitmenschen nur die dunklen Seiten zu sehen bekam. Der weise Nachlaßrichter Herr Schneidewind hatte mich nicht zu Unrecht gewarnt.

Und die Erbschaftssteuer ist noch das wenigste, hörte ich die traurig vorwurfsvolle Stimme von Herrn Vormann fortfahren. Das ist nur eine einmalige Ausgabe. Aber dann die regelmäßigen Lasten! Da ist die Einkommensteuer ... und die Umsatzsteuer ... und die Vermögenssteuer ... und die Hauszinssteuer ... und die Grundsteuer ... und die Grundvermögenssteuer ... und die Bürgersteuer ... und die Kapitalertragssteuer ... und die Kirchensteuer ...

Bei jeder neuen Steuer warf Karla den Kopf ein wenig mehr in den Nacken. Ihre Lippen lösten sich wieder voneinander, in sie und in die Backen kehrte Farbe zurück. Ich muß gestehen, ich fühlte mich völlig zerschmettert von der Lawine, die Herr Vormann auf uns niederstürzen ließ, bei Karla rief sie aber nur den Widerspruchsgeist wach.

Wir danken Ihnen schön, Herr Obersekretär, sagte sie mit streitlustigem Auge, für Ihren hübschen Glückwunsch. Aber bange machen lassen wir uns nicht, was, Maxe? Bisher sind wir mit 178 Mark im Monat ganz gut ausgekommen, und soviel lassen Sie uns doch schließlich von all der Erbschaft, ja, Herr Obersekretär?

Ich atmete auf, Karla hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Es mußte uns nicht Angst werden. Auch Herr Vormann sah vielleicht ein, daß er ein wenig zu weit gegangen war.

Ich habe es nur aus guter Meinung gesagt, Frau Schreyvogel, erklärte er, damit Sie sich mit Ihren Privatausgaben ein wenig einrichten. Sie haben jetzt große Pflichten dem Staate gegenüber. Sie ahnen nicht, was für schreckliche Nachlässigkeiten wir auf dem Steueramt erleben müssen! Jaja, mit wenig Geld auskommen, das trifft jeder. Aber viel Geld haben und all seine Verpflichtungen anständig erfüllen ...

Er schüttelte traurig den Kopf. Dann sagte er mit einer ganz anderen Stimme: Und nun bringe ich Ihnen Ihre kleine Mücke. Wo sagten Sie doch, daß die Taschentücher liegen, Frau Schreyvogel? –

Wir sahen ihm nach, wie er in unserem Hause verschwand.

Er hat es doch gut gemeint, sagte ich schließlich, als Karla völlig schwieg.

Ach, er ist eine olle Unke! rief Karla ärgerlich. Sie wollen uns alle immerzu die Freude verderben! Ich will mich freuen, verstehst du, Maxe, und du sollst dich auch freuen!

Das wird noch kommen, Karla, sagte ich tröstend. Vorläufig ist alles noch ein bißchen ungewohnt. Wenn wir erst in Gaugarten eingelebt sind –

Dreißig bis vierzig Zimmer, sagte Karla nachdenklich.

Aber dann kam an der Hand von Herrn Vormann die kleine Mücke auf die Straße gewandelt. Und kaum hatte sie uns erspäht, stürzte sie – nach ihrem einsamen Vormittag doppelt begeistert – strahlend vor Glück auf uns zu. Und sie wußte noch nichts von Erbschaft, Steuern, Schlössern, und sie machte, daß wir innerhalb von fünf Minuten alle unsere Bedenken und Sorgen vergaßen und nur daran dachten, daß wir einen freien Tag mitten in der Woche für uns hatten, mit Ausflug in den Plänterwald und solennem Essen.

Natürlich merkten wir schon an der nächsten Straßenecke, daß Herr Obersekretär Vormann, der alle Steuern so gut aus dem Kopf wußte, die Taschentücher doch vergessen hatte. Aber wir gingen nicht zurück, sie zu holen, und berücksichtigten bei unseren Privatausgaben auch nicht unsere Verpflichtungen gegen den Staat, sondern kauften der Mücke sechs neue ›Blumentüchlein‹, Taschentücher also, in deren Ecken Blümchen gestickt sind – ihre besondere Wonne, bisher nur in zwei Stücken vertreten.

Und da ich doch unmöglich den ganzen Tag mit einer so großen Geldsumme in der Tasche herumlaufen konnte, trauten wir uns auf die Städtische Sparkasse, wo wir auch richtig nicht erkannt wurden, und legten ein Sparbuch für Eduarda Schreyvogel an, erste Einzahlung: 4000 Mark!

Was waren wir da stolz!

Und da es über eine halbe Stunde in den Plänterwald zu gehen ist, und da wir beide tüchtigen Appetit hatten und die Mücke schon vor Hunger ganz meckrig wurde – hatte Karla einen wirklich großen Gedanken: wir nahmen uns ein Lohnauto und ließen uns zum Schützenhaus fahren!

Ja, als wir drei da im Auto saßen und uns langsam durch den Nebel hupten, und Mückchen durfte auch einmal auf den Gummiball drücken und sah die Preisschilder in der Taxuhr springen – da waren wir völlig glücklich! Und nur eine leichte Wolke zog über dies Glück, als die Taxuhr vor dem Schützenhaus 6,20 Mark anzeigte.

Zehn Minuten Fahrt, flüsterte Karla, dafür hast du bis jetzt über einen Tag arbeiten müssen, Maxe!

Es ist ja nur einmal Erbtag, Kerlchen! flüsterte ich zurück und zahlte, zahlte 6,50 Mark statt 6,20 Mark, gab das erste Trinkgeld meines Lebens – und dieser Chauffeur sah aus, als sei er noch nicht einmal zufrieden.

*

 


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