Felix Dahn
Julian der Abtrünnige
Felix Dahn

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Vierzehntes Kapitel

»Ich schicke voraus, wie ich die Mythen des Volksglaubens auffasse. Ich verwerfe sie nicht als unsinnig, wie so viele Philosophen, aber ich lege ihnen ganz andern Sinn bei, als sie auf den ersten Blick zu haben scheinen. Ich dringe durch ihre dichterische, phantastische, oft befremdliche Schale in ihren geheimen Kern. Sie sind nicht wörtlich zu nehmen; es sind nur Sinnbilder. Ich greife ein Beispiel heraus, den Mythos von Kybele und Atys. Nicht einmal nur ist geschehen, was hier erzählt wird, es geschieht fortwährend: Unablässig ist Atys der Gehilfe der Göttermutter, das heißt der gebärenden Natur, unablässig verlangt er nach Vereinigung mit ihr, unablässig setzt Verstümmelung dem Übermaß seines Begehrens ein Ziel. Und ähnlich steht es mit allen Mythen.« – »Seltsam nur«, warf Serapio ein, »daß so viel Unsinniges über diese verborgnen Weisheiten gehäuft ist.«

»Das haben die Götter selbst den alten Priestern eingegeben.« – »Weshalb?« – »Um durch das Widersinnige der äußeren Geschichte die Denkfähigen anzuspornen, in die innere Bedeutung einzudringen, während die Einfältigen sich an der dichterischen Einkleidung vergnügen und begnügen.« – »Verschmitzte Götter«, meinte der Ungläubige. »Nun aber beginne«, mahnte Jovian. »Was ich meinen Völkern bringe, ist weder Religion noch Philosophie; es ist höher als beide, es ist klarer als der Glaube, wärmer als das Wissen: Es ist ›Mysto-Sophie‹, Geheim-Weisheit, wie sie ähnlich seit tausend Jahren alle Mysterien suchten, aber nicht fanden. Höret nun und erfasset mit dem Glauben, was der Begriff, mit dem Begriff, was der Glaube ablehnt.

Schön gegliedert senkt sich das Göttliche von seiner höchsten Sphäre herab bis zu der Körperwelt, die uns umgibt. Das oberste (erstens!) ist die Idee, die eine, ewige. Aus ihr entströmt (zweitens!) eine ganze Welt von Ideen – jene Ideen, die Plato gelehrt. Hier walten die Götter des Geistes, unkörperlich, unveränderlich, unsichtbar. Diese senkt sich herab (drittens!) in die Welt des Sichtbaren, beherrscht von sichtbaren Göttern, das heißt von den Sternen und von den unzählbaren Göttern, Halbgöttern, Nymphen, Satyrn der Völker. Diese sichtbaren Götter haben die Welt, wie sie ist, geschaffen, indem sie die Ideen (oben ›Nummer zwei!‹ las er ab) dem Weltstoff, der Materie einprägten. Die uns umgebende Körperwelt ist das vergängliche Nachbild des unvergänglichen Urbilds der Ideen. Beide Welten aber (›Nummer zwei und Nummer drei‹) zusammen sind ein beseeltes Wesen voll Seele und Bewußtsein. Beide beherrscht als Haupt und Leiter Gott Helios, der unbesiegte, der in der Sonne sein leuchtend Abbild hat. Er vermittelt beide Welten. Aber er selbst ist ein doppelter.

Als der große Gott Helios ist er (erstens!) der oberste der Götter, er hat die Herrlichkeit des nur Guten; er teilt durch seine ewige Tochter Pallas Athene, Pronoia, die Vordenkende, allen Einzelgöttern ihre Kräfte zu: Zeus die Kraft, Äskulap die Heilkunst, Apollo die Schönheit. Zugleich aber ist der große allgemeine Helios (zweitens!) auch der Einzelgott Helios am sichtbaren Himmel, sein eignes Abbild! Sein Licht verleiht die Gabe, zu sehen und gesehen zu werden. Er erhält das Leben des Alls durch den Wechsel von Tag und Nacht und den ganzen Kosmos durch den von ihm geordneten Kreislauf der Planeten um ihn selbst als ihren König. So geht alles Gute, unmittelbar oder mittelbar, von ihm aus. Deshalb, weil stets das Gute das Schlechte überwindet . . .«

Hier seufzte Serapio leise.

». . . ist er der Unbesiegte, Unbesiegbare. Er erhält alles Leben. Er weckt die Verstorbenen auf, zur Verklärung auf einem helleren Stern, dem Lichtgott näher, zu ewiger, nie endender Vervollkommnung. Die Laster des Erdenlebens werden hinweggeläutert – das ist die einzige Strafe nach dem Tode: die notgedrungene Besserung. Die einzelnen Volksgötter aber, Zeus und Jupiter und Osiris und Teutates, sind Untergötter, von welchen, nach ihrer Eigenart, die einzelnen Völker geschaffen sind: Daher gleicht Zeus dem Hellenen, Osiris dem Ägypter, Teutates dem Gallier. Der Mensch jedoch soll stets durch die Einzelgötter hindurch dem obersten ihm im Gedanken erreichbaren Gott Helios dienen; er soll sich durchläutern, durchsonnen, dem Sonnengott selber ähnlich werden!«

Erschöpft, atemlos hielt der Redner inne. Müde warf er die Papyrusrolle zur Seite und sank auf das Ruhebett.

 


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